Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zur Kranzniederlegung am 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 am Dienstag, dem 17.6.2003, um 17.00 Uhr am Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus am Steinplatz

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

zur Kranzniederlegung am 50. Jahrestag des 17. Juni 1953

am Dienstag, dem 17.6.2003, um 17.00 Uhr am Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus am Steinplatz

Sehr geehrte Damen und Herrn!

Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, um mit uns gemeinsam der Menschen zu gedenken, die den Volksaufstand vor 50 Jahren am 17. Juni 1953 mit dem Leben bezahlen mussten. Wir Deutschen haben bekanntlich Schwierigkeiten mit unserer Geschichte, und das gilt auch für den 17. Juni. Es hat 50 Jahre gedauert, um die offenbar notwendige historische Distanz zu gewinnen, aus der heraus wir diesen Tag gemeinsam als großen Tag unserer Geschichte erkennen und bewerten können, als Tag des Aufstandes vieler mutiger Menschen in der damaligen DDR für Freiheit und Demokratie.

Mehr als eine Million Menschen sind an diesem Tag an mehr als 700 Orten in der DDR auf die Straße gegangen und haben den Rücktritt ihrer Regierung und freie und geheime Wahlen gefordert.

Schwierig war dieser Gedenktag, weil er im geteilten Deutschland von beiden Seiten für die jeweiligen politischen Zwecke missbraucht und umfunktioniert wurde. Die Propagandalüge der SED, es habe sich um einen von außen gesteuerten Aufstand faschistischer Elemente gehandelt, hat zwar niemand ernst genommen, aber diese Propagandalüge hat eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Tag in der DDR verhindert. Historische Dokumente, aus denen die Wahrheit des 17. Juni spricht, wurden fast nur von der Stasi gesammelt und unter Verschluss gehalten. Ansonsten war die Überlieferung oder gar Publikation dieser Wahrheit in der DDR lebensgefährlich.

Deshalb wird das ganze Ausmaß des damaligen Volksaufstandes erst heute deutlich, und deshalb spielt insbesondere die Stasiunterlagenbehörde mit Marianne Birthler an der Spitze dabei eine so wichtige Rolle.

Der Westen hat in der Zeit des Kalten Krieges den 17. Juni zum Tag der Deutschen Einheit gemacht und dessen historische Substanz schnell vergessen und ausgehöhlt: An den mutigen Kampf der Menschen in der DDR für Freiheit und Demokratie wollte man wohl in Wahrheit gar nicht so genau erinnert werden. Vielleicht war es das schlechte Gewissen, das aus der Ohnmacht entstand, nichts tun zu können für unsere Landsleute auf der anderen Seite. Vielleicht war es ein schlechtes Gewissen, weil wir das unverdiente Glück hatten, nach den gemeinsam begangenen nationalsozialistischen Verbrechen jetzt zu den Glücklichen zu gehören, Freiheit, Demokratie und Wirtschaftswunder erleben zu dürfen.

Vielleicht hat deshalb die erste gesamtdeutsche Regierung nach dem 9. November 1989, als endlich der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 sein Ziel erreicht hatte, den Feiertag des 17. Juni abgeschafft und durch den 3. Oktober ersetzt. Erst im 13. Jahr der deutschen Einheit und 50 Jahre nach dem 17. Juni 1953, wird uns bewusst, welche Tradition damit aufgegeben wurde. Die Erinnerung an den Aufstand mutiger Deutscher für Freiheit und Demokratie wurde verdrängt und ersetzt durch die Erinnerung an den formalen Akt der deutschen Wiedervereinigung. Die Erinnerung an lebendige Geschichte von unten wurde ersetzt durch die Erinnerung an einen Staatsakt von oben. Sicherlich, auch der 3. Oktober 1990 war ein wichtiger und glücklicher Tag für Deutschland. Und der 17. Juni 1953 steht ja nicht nur für einen Volksaufstand, auf den wir alle stolz sein können. Der 17. Juni 1953 steht auch für eine Niederlage.

An diesem Tag wurde die Diktatur in der DDR nicht besiegt, aber es wurde unmissverständlich klar, dass die Herrschaft der SED-Regierung nicht auf der Zustimmung ihrer Bürgerinnen und Bürger beruhte, sondern auf den Panzern der sowjetischen Besatzungsmacht.

Dennoch erinnern wir heute gemeinsam an einen Volksaufstand, für den es in unserer Geschichte nur wenige Beispiele gibt: Viele mutige Menschen haben in freier Entscheidung zusammen gefunden und solidarisch friedlich gekämpft – zuerst gegen Normerhöhungen, die als ungerechte Zumutung empfunden wurden, dann aber vor allem für freie Wahlen und gegen politische Unterdrückung. Gefängnisse wurden gestürmt, um politische Gefangene zu befreien. Wer denkt dabei nicht an die französische Revolution?

Natürlich sind solche historische Vergleiche problematisch. Schließlich hatte der Aufstand in Frankreich am 14. Juli 1789 Erfolg und ist deshalb zu Recht in die Geschichtsbücher eingegangen als ein Tag mit weitgehenden historischen Folgen. Dennoch bleibt die nachdenklich stimmende Feststellung: Frankreich gedenkt an seinem Nationalfeiertag eines Volksaufstand, Deutschland gedenkt eines Staatsaktes.

Ich glaube schon, dass wir gemeinsam darüber nachdenken sollten, wie wir den Menschen des 17. Juni 1953 historische Gerechtigkeit widerfahren lassen können, wie wir den Mut und die Tapferkeit im Kampf für Freiheit und Demokratie in unserem Gedächtnis bewahren können – nicht nur an diesem 50. Jahrestag, sondern auch in der Zukunft. Marianne Birthler spricht zu Recht von einer Neuentdeckung. Selbstkritisch stellt sie fest, dass auch die Bürgerrechtsbewegung in der DDR den 17. Juni vergessen hatte und es ohne Widerspruch zuließ, dass er nach dem 9. November 1989 einfach aus der Liste der deutschen Feier- und Gedenktage gestrichen wurde. Vielleicht war es aber auch gar nicht anders möglich: Erst musste das Relikt aus dem Kalten Krieg beseitigt werden, die Umfunktionierung des Volksaufstandes zum Tag der Deutschen Einheit, bevor wir heute nach 50 Jahren den Tag des Aufstandes für Freiheit und Demokratie neu entdecken konnten.

Ob ein erneuerter Feiertag die richtige Form der Erinnerung wäre, weiß ich nicht. Schließlich mussten die Menschen im Westen Deutschlands und im Westteil Berlins Zuschauer bleiben. Und der 17. Juni war viel mehr ein Tag des Mutes, der Zivilcourage, des Freiheitswillens und der Solidarität als ein Tag der deutschen Einheit.

Unmittelbar nach dem Volksaufstand, im November 1953, wurde eine wichtige Straße im damaligen West-Berlin nach diesem Tag benannt. Sie führt auch ein Stück durch unseren Bezirk. Aber auch diese Benennung ist ein Hinweis auf die Probleme, die wir mit diesem Tag haben. Von Rechts wegen müsste ja die Karl-Marx-Allee, die damalige Stalinallee, nach dem 17. Juni benannt sein, denn dort begann der Aufstand. Die Straße des 17. Juni hat in Wahrheit mit den historischen Ereignissen nichts zu tun.

Deshalb finde ich es richtig, dass in Friedrichshain ein Platz nach Max Fetting benannt wird, einem einfachen Arbeiter, der als Vorsitzender der Betriebsgewerkschaftsleitung das Vertrauen seiner Kollegen hatte, eine Resolution der Bauarbeiter unterschrieb und eigenhändig in das Büro des Ministerpräsidenten brachte, wofür er zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

In Pankow soll eine Straße nach Heinz Brandt benannt werden, in Marzahn-Hellersdorf nach Alfred Bruhn und Siegfried Berger, alles bislang namenlose Helden des 17. Juni. Ähnliche Überlegungen gibt es in vielen Städten der früheren DDR.

Vielleicht ist dies ein gutes Zeichen dafür, dass wir aus dem historischen Abstand von 50 Jahren damit beginnen können, Propagandalügen und Umdeutungen durch Erinnerung zu ersetzen und den 17. Juni 1953 in seiner historischen Bedeutung zu erkennen und zu würdigen. Dazu gehört auch, dass wir, die damals im Westen ohnmächtige Zuschauer der Ereignisse waren, uns zurückhalten und nicht den Fehler von damals wiederholen, unsere Passivität durch symbolische Ersatzhandlungen nachträglich wieder gut machen zu wollen und damit die historischen Tatsachen für das eigene schlechte Gewissen zu missbrauchen.

Wir sollten uns nicht für ein Ereignis rühmen, zu dem wir nichts beigetragen haben. Wohl aber sollten wir daran erinnern.

Wir gedenken heute der Opfer des Volksaufstandes, und wir erinnern mit Hochachtung an die mutigen Menschen, die für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen sind.

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