am Montag, dem 24.6.2002, 11.00 Uhr im Walther-Rathenau-Gymnasium
Sehr geehrte Schülerinnen und Schüler!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, um mit uns gemeinsam an Walther Rathenau zu erinnern. Ich danke den Schülerinnen und Schülern, ihren Lehrerinnen und Lehrern, den Mitgliedern der Walther-Rathenau-Gesellschaft, den Bezirksverordneten, meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Bezirksamt und allen Gästen, die heute hierher gefunden haben.
Herzlich begrüßen möchte ich Oberstleutnant Utsch, den Kommandeur des Wachbataillons beim Bundesministerium der Verteidigung. Unser Bezirk pflegt seit drei Jahren eine Patenschaft zu dem Wachbataillon, und ich freue mich, dass Oberstleutnant Utsch unserer Einladung heute gefolgt ist.
Ich danke allen, die diese Gedenkveranstaltung möglich gemacht haben: Der FDP-Fraktion in der Charlottenburg-Wilmersdorfer Bezirksverordnetenversammlung, die sie angeregt hat, und Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen, die diese Idee sofort umgesetzt hat. Leider kann sie heute nicht anwesend sein, weil sie einer Einladung in unsere italienische Partnerstadt Trient gefolgt ist. Ich danke dem Walther-Rathenau-Gymnasium mit seinem Schulleiter Ulrich Herbst, der sofort seine Schule zur Verfügung gestellt und alle organisatorischen Hilfen geleistet hat, und ich danke Martin Sabrow, dem Rathenau-Kenner und ehemaligen Lehrer an dieser Schule, der sich spontan bereit erklärt hat, das Hauptreferat zu halten. Herzlichen Dank dafür.
Heute vor 80 Jahren wurde der damalige Außenminister Walther Rathenau von Mitgliedern der rechtsradikalen Organisation Consul durch Schüsse und Handgranatenwürfe aus einem vorbeifahrenden Auto ermordet. Er saß im offenen Wagen auf dem Weg von seinem Wohnhaus in der Koenigsallee zum Außenministerium. 1946 wurde von der damaligen Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands an der Stelle des Attentats in der Kurve der Koenigsallee an der Ecke Erdener Straße und Wallotstraße ein Gedenkstein aufgestellt, der seither an den feigen Mord erinnert.
Seit einigen Jahren veranstalten einige Schulen gemeinsam mit der Landespolizeischule und dem Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf jedes Jahr am 9. November eine Veranstaltung, die an diesem Stein beginnt zum Gedenken an das Pogrom von 1938. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer versammeln sich hier, um gemeinsam durch die Villenkolonie Grunewald zum Mahnmal am Bahnhof Grunewald zu gehen und dort an die Deportation der Berliner Juden von 1941 bis 1945 in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka zu erinnern.
Die räumliche Nähe des Rathenau-Gedenksteins und der Gedenkstätte am Bahnhof Grunewald lässt diesen Gang wie eine Zeitreise erscheinen vom antisemitischen Mord, der die junge Weimarer Demokratie erschütterte, bis zum Holocaust, zum geplanten und fabrikmäßig organisierten Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden. Der 9. November erscheint in dieser Zeitreise wie ein letztes öffentliches Signal der Demütigung und gewaltsamen Ausgrenzung der Juden in Deutschland, bevor dann im Zweiten Weltkrieg das systematische Morden begann.
Der Tod Walther Rathenaus ist für uns heute eine Mahnung, die lautet: Wehret den Anfängen. Antisemitismus ist und bleibt für uns ein Tabu. Wer in unserer Gesellschaft mit antisemitischen Ressentiments spielt, der ist keineswegs ein mutiger Tabubrecher, sondern der zeigt, dass er aus dem größten Verbrechen in unserer Geschichte nichts gelernt hat. Wir wissen, wohin Antisemitismus in Deutschland geführt hat. Wir werden nicht zulassen, dass mit diesem gefährlichen Feuer in unserem Land noch einmal gezündelt und ein Brand entfacht wird. Der antisemitische Pöbel reimte den Namen Rathenau mit dem Wort Judensau. Damals aber war Antisemitismus nicht nur im Pöbel verbreitet, sondern auch in den sogenannten besseren Kreisen in Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Militär, und darunter hat Walther Rathenau mehr gelitten als unter den schrecklichen Pöbeleien.
Aber wir dürfen und wollen den Antisemiten nicht im Nachhinein Recht geben und Rathenau etwa nur noch als jüdisches Opfer des Antisemitismus betrachten. Walther Rathenau hat sich immer wieder mit seinem Judentum auseinander gesetzt. Zeitweise galt er geradezu als innerjüdischer Antisemit wegen seiner kritischen Bemerkungen und seiner Assimilationsempfehlungen gegenüber den Juden in Deutschland.
Er verstand sich vor allem als deutscher Patriot. Sein langjähriger Freund und Biograph Harry Graf Kessler attestierte ihm eine “fast kindliche Liebe zu Deutschland”. Rathenau bewunderte die preußische Tradition und die preußischen Tugenden. Das preußische Ideal der Pflichterfüllung beherrschte sein Leben.
Als Außenminister nach dem Ersten Weltkrieg war es sein Hauptziel, Deutschland wieder als ernst zu nehmenden Verhandlungspartner im Kreis der Großmächte zu etablieren. Sicherlich keine leichte Aufgabe, denn nach der Niederlage, wirtschaftlich schwer angeschlagen und unter dem Eindruck zahlreicher Gebietsverluste und harter Bedingungen der Sieger war es für die junge Republik besonders kompliziert, Gewicht zu haben, innen wie außen. Rathenaus Credo war: “Wir müssen Wege finden, uns mit der Welt wieder zusammenzubringen.” Das Amt des Außenministers hatte er im vollen Bewusstsein des großen persönlichen Risikos übernommen. Er sah es durchaus skeptisch und wusste, dass für ihn darin keine Lorbeeren zu ernten waren: “Ich fasse meine Aufgabe dahin auf, den Weg für die Nachfolgenden zu ebnen. Die ersten zwei, drei Leute können nur den Weg weisen, der vierte wird es schaffen. Aber ein Anfang muss gemacht werden.”
Schon während des Ersten Weltkrieges hatte Rathenau hellsichtig die Gefahr weit schlimmerer Katastrophen erkannt: “Der kommende Friede wird ein kurzer Waffenstillstand sein, und die Zahl der kommenden Kriege unabsehbar, die besten Nationen werden hinsinken, und die Welt wird verelenden.” Diese düstere Prophezeiung mutet aus heutiger Sicht wie eine Vorahnung des Zweiten Weltkriegs an.
Er litt geradezu körperlich, wann immer er erkannte, dass die deutsche Politik ins Verderben führte – vor allem beim Beginn des Ersten Weltkrieges, den er als einer der wenigen in Deutschland von Anfang an ablehnte – nicht als Pazifist, sondern weil er voraussah, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen war und ein dauerhafter Friede nur sehr schwer erreichbar sein würde. Trotz seiner Ablehnung organisierte er die Rohstoffversorgung für die deutsche Kriegsführung, um eine schnelle Niederlage zu verhindern. Er hatte als einziger diesen entscheidenden Schwachpunkt erkannt.
Walther Rathenau verkörperte viel Widersprüchliches in sich. Über seine Berufswahl hat er einmal selbst geschrieben: “Schwanken zwischen Malerei, Literatur und Naturwissenschaft. Entscheidung für Physik, Mathematik und Chemie als Grundlagen neuzeitlicher Wissenschaft und Technik.” Die Vielseitigkeit zeichnete ihn ein Leben lang aus.
Als Nachfolger seines Vaters Emil Rathenau war er ein erfolgreicher, prägender Industrieller, als Künstler schuf er beachtenswerte Zeichnungen und baute sein Haus in Grunewald nach eigenen Vorstellungen. Als Gesellschaftstheoretiker und Schriftsteller entwarf er ein eigenes Menschenbild und eine eigene Zukunftsvision für seine Gesellschaft. Seine Aufsätze und Bücher wurden intensiv diskutiert, und mit seinen letzten Publikationen “Von kommenden Dingen” und “Die neue Wirtschaft” wurde er zu einem der meistgelesenen Autoren in Deutschland. Dieser Erfolg lag darin begründet, dass er eben beides zugleich war, ein erfahrener Praktiker und ein scharfer Analytiker, ein Wirtschaftslenker, der die industriellen Mechanismen im Detail kannte, und ein fundamentaler Kritiker dieser Mechanismen, die er selbst meisterhaft zu nutzen wusste.
Walther Rathenau dachte bereits vor 100 Jahren vieles voraus, was uns heute intensiv beschäftigt. Ohne den Begriff “Globalisierung” zu benutzen, kannte er die internationalen Zusammenhänge und entwarf ein Modell ihrer weltweiten Organisation zum Wohle der Menschen. Mit dem Begriff “Mechanisierung” charakterisierte er die kulturelle und geistige Verarmung weiter Bevölkerungskreise und verlangte Mitbestimmungsrechte und eine radikale Demokratisierung, damit eine Auslese der Besten stattfinden könne und Deutschland nicht von unfähigen Personen politisch und wirtschaftlich geführt werde, die ihre Ämter nicht durch Qualifikation und Leistung erlangt hatten, sondern lediglich durch ihre Herkunft. Bildung war für Walther Rathenau eine unabdingbare Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben, und er verlangte das Recht auf Arbeit und Bildung für alle.
In einem Brief schreibt er: “Aus dem, was Sie Mob nennen, sollen Menschen und Gotteskinder werden, trotz aller Schwächen und Laster, die in ihnen stecken mögen, freie Menschen, nicht braves Gesinde und ehrbare Untertanen.”
Freiheit und Unabhängigkeit gingen Walther Rathenau über alles. Er hätte es nicht ertragen, in Abhängigkeit zu leben, sei es von seinem Elternhaus, sei es von irgendeinem Arbeitgeber. Walther Rathenau war – wie alle großen Persönlichkeiten – kein einfacher Mensch. Trotz seiner vielen Funktionen, gesellschaftlichen Verpflichtungen und seiner großen kommunikativen und rhetorischen Begabung blieb er einsam.
Der mit Walther Rathenau befreundete Schriftsteller und Dramatiker Hermann Sudermann wohnte in der Villenkolonie Grunewald ganz in seiner Nähe. Er hörte am 24. Juni 1922 von dem Attentat. In seinem Tagebuch beschrieb er seine Reaktion:
“Ich, eiskalt vor Entsetzen und hoffend, es sei nicht wahr, renne die paar Schritte zu Rathenaus Haus … Der Diener packt losweinend meine Hand. Und dann gehen wir ins Arbeitszimmer. Da liegt vorm Schreibtisch auf der Erde, mit weißem Laken bedeckt, ein längliches Etwas. Schlage das Laken zurück: Sein Gesicht – der rechte Unterkiefer durch eine drei Finger breit klaffende Wunde gespalten, der weißgewordene Spitzbart durch darüber geronnenes Blut wieder braun … Unser bester Mann – nun haben sie ihn zur Strecke gebracht.”
Rathenaus Tod löste Massenkundgebungen in ganz Deutschland aus. Mehr als eine Million Menschen waren allein in Berlin dabei, als sein Sarg durch die Stadt geführt wurde. Die große Anteilnahme der Bevölkerung erschien wie ein Schlusspunkt und wie ein Versprechen: Nie wieder Antisemitismus, Schluss mit dem fanatischen Hass. Ende der Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Heute wissen wir, dass dies eine Illusion war, die nicht einmal 10 Jahre hielt. Heute wissen wir, dass der Mord an Walther Rathenau kein Schlusspunkt war, sondern eher ein Vorspiel, ein Auftakt zu dem was über 6 Millionen Mal im Deutschen Namen bis `45 geschah.
Die Ermordung Rathenaus enthält neben der von mir eben beschriebenen noch eine zweite Mahnung: Gewalt darf kein Mittel zur politischen Auseinandersetzung im demokratischen Rechtsstaat sein. Wer meint, er müsse den politischen Gegner als Feind betrachten und dürfe ihn mit Gewalt am Erfolg hindern, statt mit der Auseinandersetzung mit Worten, der hat nichts begriffen aus der Geschichte unseres Landes, der hat nicht verstanden, warum es gelingen konnte, nach dem Untergang der Weimarer Republik zwei Diktaturen in Deutschland zu errichten.
Wir sind hier heute zusammengekommen, um uns an eine der großen Persönlichkeiten unserer Geschichte, an einen deutschen Politiker, Industriellen, Künstler, Schriftsteller und Philosophen, zu erinnern. Mit der Erinnerung an Walther Rathenau verbinden wir die Einsicht, dass Hass, Antisemitismus und Extremismus in Deutschland ein für allemal keinen Platz mehr haben dürfen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich all jenen danken, die die heutige Erinnerung an Walther Rathenau ermöglicht haben, so z. B. der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf, die die Anregung zur Ehrung gab, dem Walter-Rathenau-Gymnasium und seinem Schulleiter Ulrich Herbst, für die organisatorischen Hilfen und Herrn Martin Sabrow, der als Rathenau-Kenner und ehemaliger Lehrer dieses Gymnasiums gleich nach meiner Rede das Hauptreferat zum Gedenken an Rathenau halten wird.
Die Erinnerung an Walther Rathenau wurde von den Nationalsozialisten getilgt, die Gedenkstätte in seinem Haus geschlossen, Straßen, die nach ihm benannt waren, umbenannt. Bis heute ist unsere Erinnerung an ihn gebrochen, auch wenn Schulen, Straßen und Plätze wieder nach ihm benannt wurden. Er ist nicht so populär und wird nicht so verehrt in unserem Land wie beispielsweise in den USA Abraham Lincoln, John F. Kennedy oder Martin Luther King. Ich denke, wir sollten ihn wieder entdecken als einen großen Patrioten der deutschen Geschichte. Wir sollten ihm die nationale Anerkennung wiedergeben, die ihm die Nazis genommen haben, aus diesem Grunde sind wir heute hier zusammengekommen, ich danke Ihnen allen dafür.