In Charlottenburg-Nord wurde die Erinnerung an Widerstandskämpfer zu Beginn der 1960er Jahre fortgesetzt.
1961 wurde der frühere Siemensplatz in Jakob-Kaiser-Platz umbenannt. Jakob Kaiser (1888-1961) war Buchbinder, Mitglied der Zentrumspartei und seit 1912 in der Leitung der christlichen Gewerkschaften tätig. 1933 stimmte er im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz, hatte Kontakt zur Widerstandsgruppe um Goerdeler, überlebte aber bis Kriegsende im Untergrund. 1945 war er Mitbegründer der CDU in der sowjetischen Besatzungszone, gehörte von 1949 bis 1957 dem Bundestag an und wurde Minister für Gesamtdeutsche Fragen, stellvertretender CDU-Vorsitzender und Mitbegründer des Kuratoriums “Unteilbares Deutschland”, seit 1958 Ehrenbürger Berlins.
1962 wurden die meisten Straßen der neu entstehenden Paul-Hertz-Siedlung nach Widerstandskämpfern benannt, von denen viele in Plötzensee hingerichtet worden waren. Im Unterschied zum westlichen Teil von Charlottenburg-Nord, wo es fünf Jahre zuvor Streit zwischen Senat und Bezirk gegeben hatte, einigte man sich dieses Mal rechtzeitig, so dass die Straßen pünktlich zur Fertigstellung der Siedlung benannt werden konnten.
Die Benennung geht auf einen Antrag der CDU in der Charlottenburger BVV zurück, dem sich die SPD anschloss. Der SPD-Bezirksverordnete Rogall begründete das in der BVV-Sitzung am 13.7.1962 so:
“Mit diesem gemeinsamen Antrag ehrt die BVV die Widerstandskämpfer, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben gelassen haben. Sie nahmen in der geistigen Auseinandersetzung die verschiedensten politischen Standorte ein, denn ihr Geschichtsbild, das sie gehabt haben, war abhängig von ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunft und Bildung, ihren Erlebnissen und der gewonnenen Lebenserfahrung. Aber eines war ihnen gemeinsam, die Bereitschaft, ein neues und ein besseres Deutschland zu erkämpfen. Dieses Verbindende war um so stärker, je größer der Terror war. Der Pazifist und der Offizier, der konservative Pädgoge oder der sozialistische Student fanden mehr Gemeinsames in ihrem Wollen als Trennendes in ihrer Geisteshaltung.”
Bernhard-Lichtenberg-Straße nach Bernhard Lichtenberg (1875-1943, katholischer Theologe, seit 1913 Pfarrer in Charlottenburg, seit 1920 Zentrumsabgeordneter in der Stadtverordnetenversammlung, seit 1932 Dompfarrer an der St.-Hedwigs-Kathedrale, seit 1938 Dompropst in Berlin, protestierte gegen Antisemitismus und Euthanasie, wurde 1943 verhaftet, starb auf dem Transport ins KZ Dachau)
Delpzeile nach Alfred Friedrich Delp (1907-1945, katholischer Theologe, Jesuit, Kontakte zum Kreisauer Kreis und zu Stauffenberg, am 27.7.1944 verhaftet, am 2.2.1945 im Plötzensee hingerichtet)
Gloedenpfad nach Elisabeth Charlotte Gloeden (1903-1944, Gerichtsreferendarin, versteckte den Widerstandskämpfer Fritz Lindemann in ihrer Charlottenburger Wohnung, wurde am 30.11.1944 in Plötzensee ermordet)
Kirchnerpfad nach Johanna Kirchner (1889-1944, Journalistin, seit ihrem 14. Lebensjahr in der Sozialistischen Arbeiterjugend, floh 1935 nach Frankreich, wurde 1942 an Deutschland ausgeliefert, am 9.6.1944 in Plötzensee hingerichtet)
Klausingring nach Friedrich Karl Klausing (1920-1944, kam als Soldat zur Widerstandsbewegung und wurde Adjutant von Stauffenberg, wurde am 8.8.1944 hingerichtet)
Leuningerpfad nach Franz Leuninger (1898-1945, Gewerkschaftsfunktionär, am 1.3.1945 in Plötzensee hingerichtet)
Reichweindamm nach Adolf Reichwein (1898-1944, SPD-Mitglied, Kontakte zum Kreisauer Kreis und zu kommunistischen Widerstandsgruppen, wurde am 20.10.1944 in Plötzensee hingerichtet)
Schwambzeile nach Ludwig Schwamb (1890-1945, Jurist, SPD-Mitglied, stellte seine Wohnung für illegale Zusammenkünfte zur Verfügung, am 23.1.1945 in Plötzensee hingerichtet)
Strünckweg nach Theodor Strünck (1898-1945, Jurist, aktiv in der Widerstandsgruppe um Goerdeler und Oster, am 9.4.1945 im KZ Flossenbürg erschossen)
Teichgräberzeile nach Richard Teichgräber (1884-1945, Schlosser, SPD-Mitglied und Gewerkschafter, 1937 verhaftet, ermordet am 25.2.1945 im KZ Mauthausen)
Terwielsteig nach Maria Terwiel (1910-1943, jüdische Herkunft, hatte Kontakt zur Schulze-Boysen-Gruppe, beschaffte Pässe für Juden, am 5.8.1943 in Plötzensee hingerichtet)
Wiersichweg nach Oswald Wiersich (1882-1945, Maschinenbauer, Gewerkschafter, Verbindung zum Widerstand, am 1.3.1945 in Plötzensee hingerichtet)
Wirmerzeile nach Joseph Wirmer (1901-1944, Jurist, verteidigte als Anwalt seit 1933 rassistisch Verfolgte, hatte Kontakte zu Bonhoeffer, Goerdeler und anderen, war für die Zeit nach dem Attentat auf Hitler als Justizminister vorgesehen, am 8.9.1944 in Plötzensee hingerichtet)
Am 7. April 1963 schrieb der “Telegraph”:
“Immerhin ist dieses Straßenmahnmal ein Verdienst des Bezirks Charlottenburg. Einige der Briefe, die von Hinterbliebenen der Widerstandskämpfer an den Senat geschrieben wurden, entbehren einer gewissen Zurückhaltung nicht. Ein leicht bitterer Unterton – warum erst jetzt? – klingt an.
Das Schreiben allerdings, das von der Mutter Friedrich Karl Klausings, des jungen Adjutanten Graf Stauffenbergs, an den Senat geschickt wurde, soll besonders hervorgehoben werden. Einem herzlichen Dankbrief legte die Absenderin 50 DM für eine kinderreiche Familie bei. In einer Karte an diese kommt die Hoffnung der Spenderin zum Ausdruck, dass jene Kinder und alle anderen, die in der Siedlung aufwachsen, zu politisch verantwortungsbewussten, aber auch heiteren Menschen heranwachsen mögen.”
Mit drei Kirchenbauten wurden in Charlottenburg-Nord bedeutende Zeichen und Institutionen des Gedenkens gesetzt:
1963 wurde die katholische Gedenkkirche Maria Regina Martyrum eingeweiht. Der von einer hohen Mauer umgebene große kahle Hof weckt die Assoziation eines Gefängnishofes oder Appellplatzes. Im Gedenkraum der “Märtyrer für Glaubens- und Gewissensfreiheit” befinden sich vier Bodenplatten mit Inschriften zum Gedenken an Opfer der NS-Gewaltherrschaft. Hier befindet auch das Grab von Erich Klausener und eine Gedenkstätte für den Dompropst Lichtenberg.
1964 wurde die Sühne-Christi-Kirche mit einem Mahnmal zum Gedenken an Schreckensorte der menschlichen Geschichte von Florian Breuer eingeweiht. Vor eine zwanzig Meter lange Ziegelsteinmauer, die aus der Kirche herauswächst, schieben sich Betonblöcke mit den Aufschriften “Plötzensee”, “Auschwitz”, “Hiroshima”, “Mauern” und im Kircheninnern “Golgatha”. Ein vor der Mauer liegender Block trägt die Inschrift: “Horch das Blut / deines Bruders / schreit zu mir / von der Erde.”
1970 wurde das Evangelische Gemeindezentrum Plötzensee eingeweiht. Es thematisiert die Nähe zur Gedenkstätte Plötzensee mit dem “Plötzenseer Totentanz”, einem Zyklus von sechzehn großformatigen Zeichnungen von Alfred Hrdlicka aus den Jahren 1968-1972. Hinrichtungsdarstellungen werden verbunden mit biblischen und gegenwartsbezogenen Themen.
Auch in den 1960er Jahren war aber von historischer Spurensuche nicht die Rede. Im Gegenteil: Viele Spuren der Vergangenheit wurden weiterhin getilgt. Der Name “Auschwitz” wurde zwar zum Synonym für den millionenfachen Mord an den Juden. Aber man dachte dabei weniger an das konkrete Geschehen im Vernichtungslager, sondern eher abstrakt an das Vernichtungsprogramm insgesamt.
Die aufkommende Studentenbewegung verstand sich zwar als “antifaschistisch”. Aber in ihren Faschismustheorien interessierte sie sich zumeist nicht für historische Einzelheiten. Man sprach nicht konkret vom Nationalsozialismus, sondern pauschal und abstrakt vom Faschismus, der als besonders brutale Ausprägung des Monopolkapitalismus galt. Einzelschicksale und historische Details interessierten nicht. Der Einzelne galt als willenloses Werkzeug der Monopole. Das Individuum, persönliche Verantwortung oder auch persönliche Schuld hatten in diesen Erklärungsmodellen keinen Platz.
Öffentliche Zeichen der konkreten Erinnerung gab es nur in Ausnahmefällen. So ließ der Bund der Verfolgten des Naziregimes an dem Stellwärterhäuschen am Güterbahnhof Grunewald eine kleine Gedenktafel anbringen, die an die Deportationen jüdischer Berlinerinnen und Berliner erinnerte.
1966 wurde an dem Haus an der Düsseldorfer Straße 47 eine kleine Gedenktafel angebracht, die an Leon Jessel, den jüdischen Komponisten der Operette “Schwarzwaldmädel”, erinnert, der am 4. Januar 1942 an den Folgen nationalsozialistischer Haft starb. Solche Gedenktafeln gingen in dieser Zeit meist auf die Initiative von persönlich betroffenen Nachkommen zurück.
1973 erschien die Hitler-Biografie von Joachim Fest. Bei der Berlinale 1977 wurde der darauf aufbauende dokumentarische Kinofilm “Hitler – Eine Karriere” uraufgeführt. Die Nürnberger Rassegesetze kommen in dem Buch nicht vor, die Novemberpogrome werden nur kurz gestreift, und der massenhafte Mord an den Juden wird auf drei von insgesamt 1280 Seiten abgehandelt.
Ganz anders die 1978 erschienen “Anmerkungen zu Hitler” von Sebastian Haffner. Er thematisiert Hitlers Erfolge und Hitlers Verbrechen in jeweils eigenen Kapiteln.
1979 wirkte die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie “Holocaust” im deutschen Fernsehen wie ein Schock. “Die Geschichte der Familie Weiß” konfrontierte die Erlebnisgeneration des Dritten Reiches und die Nachkriegsgeneration zum ersten Mal mit einem konkreten Beispiel für das tödliche Schicksal deutscher Juden im Nationalsozialismus. Zum ersten Mal rückte der Alltag von betroffenen Menschen und die schreckliche Normalität der Täter in den Blickpunkt.
Der Eindruck dieser Filme war so stark, dass sich seither der Begriff “Holocaust” zur Bezeichnung der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden durchgesetzt hat. Das aus dem Griechischen stammende Wort bedeutet ursprünglich “Brandopfer” und ist deshalb problematisch. 1985 hat Claude Lanzmann seinen bedrückenden Film mit Zeitzeugen der Vernichtung “Shoah” genannt. Seither wird dieses hebräische Wort (auch “Shoa” geschrieben) oft synonym mit “Holocaust” verwendet. Es bedeutet “Unheil” oder “große Katastrophe” und ist deshalb zutreffender als der Begriff “Holocaust”.