Sehr geehrter Herr Landesinnungsmeister Struck!
Sehr geehrter Herr Ehrenobermeister Hesse!
Sehr geehrte Zahntechnikerinnen und Zahntechniker!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Herzlichen Glückwunsch zur neu gewonnen Freiheit! Sie erhalten heute Ihre Gesellenbriefe im traditionellen, festlichen Rahmen einer Freisprechungsfeier, wie sie seit dem Mittelalter bekannt ist, und ich freue mich, an dieser feierlichen Veranstaltung mitwirken zu dürfen. Anlässlich der Verabschiedung des langjährigen Schulleiters des Oberstufenzentrums Körperpflege, Peter Mibus, im Juni des letzten Jahres, wurde ich gefragt, ob ich heute bei der Freisprechung die Festrede halten würde, und ich habe gerne und leichtsinnigerweise zugesagt.
Das Oberstufenzentrum Körperflege in Charlottenburg ist ja die Berufsschule für die Zahntechniker in Berlin, und ich hoffe, dass Sie Ihre schulische Ausbildung dort in guter Erinnerung behalten werden.
Die Tradition der Freisprechung bezieht sich auf die Lebenswelt der handwerklichen Ausbildung in der Zeit vor der Industrialisierung. Damals lebten die Lehrlinge in den Familien ihrer Lehrherren und unterwarfen sich in allen Dingen den Regeln ihres Meisters. Sie waren von ihm abhängig wie ein Kind von seinen Eltern abhängig ist.
Dieses Abhängigkeitsverhältnis wurde beendet mit der Freisprechung vom Meister. Nachdem sie ihre Prüfung bestanden und den Gesellenbrief erhalten hatten, konnten sie sich frei entscheiden, ob sie weiter in der Werkstatt ihres Meisters bleiben wollten – jetzt aber auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages, mit dem ein fester Arbeitslohn verbunden war -, oder ob sie eine andere Arbeitsstelle suchen wollten.
Heute ist vieles anders, und ich hoffe doch sehr, dass Sie Ihre Lehrzeit nicht als Freiheitsberaubung erlebt haben. Aber auch heute gewinnen Sie mit dem Abschluss der Ausbildung eine neue Freiheit.
Was bedeutet diese Freiheit für Sie? Empfinden Sie die Freisprechung als Chance, einen Lebenstraum zu verwirklichen, vielleicht Karriere zu machen, erfolgreich in einen Wachstumsmarkt einzusteigen, bald selbständig zu werden? Oder ist die Freisprechung für Sie vor allem verbunden mit der Ungewissheit, wie es nun weiter geht, mit dem Risiko, auf unerwartete Hindernisse und Schwierigkeiten zu stoßen, womöglich mit der technologischen Entwicklung nicht Schritt halten zu können?
Diese Fragen können Sie sich nur selbst beantworten, und sie haben viel zu tun mit der persönlichen Einschätzung, ob das Glas nun halb voll oder halb leer ist.
Aber ganz allgemein lässt sich feststellen, dass die Freiheit nie absolut ist, sondern dass sie immer zu tun hat mit den Möglichkeiten, die sich eröffnen und die sich aus den allgemeinen Rahmenbedingungen ergeben, in denen wir leben.
In Ihrem Fall haben die Möglichkeiten, die sich für Sie ergeben, natürlich vor allem mit den speziellen Rahmenbedingungen Ihres Berufs zu tun, mit der ökonomischen Nachfrage, mit der gesellschaftlichen Wertschätzung, mit dem Stand der technologischen Entwicklung, mit dem Verhalten Ihrer wichtigsten Kunden, der Zahnärzteschaft, und mit den Ansprüchen von deren Patientinnen und Patienten, also letztlich von uns allen.
Ich komme aus Charlottenburg-Wilmersdorf, dem Bezirk mit der höchsten Zahnarztdichte Berlins.
Und ich gehe davon aus, dass in den Zahnarztpraxen in Charlottenburg-Wilmersdorf Ihre Dienste gefragt sind, weil dort höchste Qualität erwartet wird, weil man dort weiß: “Qualität hat ihren Preis” und weil man dort das Motto der Zahntechniker-Innung kennt und schätzt: “Ihr schönster Schmuck: Schöne Zähne!”
Aber natürlich wird es auch in Charlottenburg-Wilmersdorf Zahnärztinnen und Zahnärzte geben, die eigene Praxislabore unterhalten und mit moderner Technik inzwischen manches selbst herstellen, was früher noch beim Zahntechniker bestellt wurde.
Ich habe im letzten Jahr am Einsteinufer in Charlottenburg-Wilmersdorf das Heinrich-Hertz-Institut für Nachrichtentechnik besucht und dabei viel gelernt über die wissenschaftlich-technologischen Rahmenbedingungen für Ihren Beruf.
Denn im August des letzten Jahres wurde am Heinrich-Hertz-Institut ein 3D Innovation Center eröffnet, an dem rund 50 Partner aus Industrie und Forschung beteiligt sind. In dem Forschungszentrum gibt es ein 3D-Live-Studio, ein 3D-Kino, Labor- und Ausstellungsbereiche.
Viele von uns kennen die 3D-Technologie aus faszinierenden Kino-Erlebnissen.
Aber wie Sie wissen, wird die 3D-Technologie längst auch in der Medizintechnik, in der Pharmazie und in der Automobilindustrie eingesetzt, um nur einige Beispiele zu nennen. Auf dem Campus Charlottenburg, am Heinrich-Hertz-Institut und in anderen Einrichtungen der Technischen Universität Berlin wird die Grundlagenforschung dafür betrieben.
Und aus dieser Grundlagenforschung heraus werden computergesteuerte Geräte, sogenannte 3D-Drucker entwickelt und produziert, die am Ende viel präziser als es eine menschliche Hand je könnte, eben auch Zahnersatz herstellen können.
Aber auch wenn die technische Entwicklung weiter voranschreiten wird, so wird es am Ende doch immer auf die Kompetenz dessen ankommen, der sich ihrer bedient. Und ich bin sicher, dass ihr Beruf auch in Zukunft ein eigenständiger Beruf bleiben wird, denn auch mit modernster Technik wird man auch in Zukunft nur dann höchste Qualität erreichen können, wenn man den Umgang mit ihr von Grund auf gelernt hat – so wie Sie. Die Zahnärztinnen und Zahnärzte werden auch in Zukunft nicht einfach nebenbei Implantate herstellen können. Sie haben genug damit zu tun, in ihrem eigenen Beruf auf dem Stand der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung zu bleiben.
Gegenüber dem Heinrich-Hertz-Institut erstreckt sich nordwestlich der Marchstraße das Gelände der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, kurz PTB. Auch hier würde man wohl auf den ersten Blick keinen Zusammenhang zu Ihrem Beruf sehen.
Ihr Ziel war und ist die Entwicklung des Messens. Heute ist die PTB die technische Oberbehörde für das Messwesen in der Bundesrepublik Deutschland, kurz gesagt das nationale Metrologie-Institut – nicht zu verwechseln mit der Meteorologie – und die Dienstleistungen dieses Instituts sind nicht auf Deutschland begrenzt, sondern sie werden in aller Welt gern in Anspruch genommen.
Nirgendwo sonst wird so genau und zuverlässig gemessen, und zwar ganz gleich, ob es um Zeit oder Raum, um Gewicht, Temperatur, Druckverhältnisse, Geschwindigkeiten oder was auch immer geht.
Es gibt eigentlich nichts, was nicht gemessen werden könnte, und wer sich bei der PTB einmal über das Messen informiert hat, der weiß, dass dies eine der wichtigsten Grundlagen für unsere gesamte technologische Entwicklung ist.
Und bei Ihren Produkten kommt es ja letztendlich auf die Passgenauigkeit an. Daran misst sich die Qualität, die Sie herstellen.
Ich erwähne das alles nicht nur, damit Sie nun alle nach Charlottenburg-Wilmersdorf kommen, um die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen Ihres Berufes kennen zu lernen, obwohl der Campus Charlottenburg in dieser Hinsicht tatsächlich viel zu bieten hat. Vielleicht verspürt die Eine oder der Andere unter Ihnen die Lust, seine erlernten technisch-handwerklichen Fähigkeiten mit kreativen, innovativen Ideen weiter zu entwickeln und sich im Start-up-Bereich selbständig zu engagieren.
Es geht um die Freiheit, in die Sie heute entlassen werden, und um die Rahmenbedingungen für die Entfaltung dieser Freiheit.
Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat den Satz formuliert: “Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit.”
Richtig verstanden formuliert dieser Satz eine wichtige Maxime: Wenn wir frei und bewusst leben wollen, dann dürfen wir die Rahmenbedingungen nicht außer Acht lassen, sondern im Gegenteil: Wir müssen sie genau studieren, um sie für uns nutzen zu können. Eine freie Entscheidung nützt nichts, wenn sie nicht in die Wirklichkeit passt, in der wir leben.
Erst wenn wir gut informiert, gut ausgebildet und gut vorbereitet sind, können wir uns bewusst frei entscheiden. Ohne diese Voraussetzungen ist es nur Beliebigkeit, keine Freiheit. Unkenntnis hat Unsicherheit zur Folge, und aus Unsicherheit folgt Willkür und Beliebigkeit.
Deshalb haben Sie mit dem Abschluss Ihrer Ausbildung auch einen neuen Grad von Freiheit erreicht, eine Freiheit nämlich, die auf Wissen und Kompetenz beruht.
Aber auch dieser neue Grad von Freiheit beruht nicht nur auf fachlichen Voraussetzungen, sondern auch auf allgemeinen Rahmenbedingungen, die für uns alle gelten.
Die wichtigste Rahmenbedingung für uns ist die Gesellschaft, in der wir leben. Und in dieser Hinsicht haben wir alle einerseits großes Glück, aber andererseits ist auch dieses Glück keine Garantie für ein gelingendes Leben.
Wir leben in einem Land, das sich jetzt seit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit der Befreiung vom Faschismus 1945 vor nunmehr 68 Jahren in Frieden entwickeln konnte. Das ist ein langer Zeitraum, für den es in der europäischen Geschichte kaum Parallelen gibt.
Seit der friedlichen Revolution in der DDR von 1989 prägen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das wieder vereinte Deutschland.
Besonders deutlich wird uns dieses große Glück einer friedlichen, demokratischen und freiheitlichen Entwicklung in diesem Berliner Themenjahr, in dem wir – 80 Jahre nach Hitlers Machtübernahme und 75 Jahre nach der Pogromnacht des 9. November 1938 – an die “Zerstörte Vielfalt” erinnern.
Wenn wir die letzten 68 Jahre im Kontrast zu den 12 Jahren der nationalsozialistischen Zeit betrachten, dann ist ein größerer Gegensatz kaum denkbar. Und wir müssen uns auch immer wieder klarmachen, dass die Demokratie, in der wir leben, keine Selbstverständlichkeit ist. Wir müssen sie immer wieder neu mit Leben erfüllen und aktiv verteidigen, wenn es darauf ankommt. Das ist die entscheidende Lehre aus dem Studium unserer Geschichte.
Denn die Weimarer Republik ist letztlich gescheitert am Mangel an Demokraten. Am Ende haben zu wenige die Demokratie gewollt und sie verteidigt.
Aber wie gesagt: Die lange friedliche Entwicklung bietet keine Garantie für persönlichen Erfolg und persönliches Wohlergehen, und die Älteren haben kein Recht dazu, den Jüngeren vorzuhalten, wie gut sie es doch hätten im Vergleich zu früheren Zeiten, als die Welt in Trümmern lag und neu aufgebaut werden musste.
Die Entwicklung hat ein Stadium erreicht, in dem ungebremstes Wachstum nicht mehr möglich ist. Manches wurde erkauft mit Schulden, die von der nachfolgenden Generation wieder abgetragen werden müssen. Der Fortschritt hat auch Probleme mit sich gebracht, die gelöst werden müssen.
Die Gestaltung der Zukunft ist nicht unkomplizierter geworden, und durch die lang anhaltende positive Entwicklung sind Erwartungshaltungen entstanden, denen in manchen Punkten auch widersprochen werden muss.
Aber es besteht kein Grund, schwarz zu malen. Im Gegenteil: Wir können optimistisch in die Zukunft sehen. Wir leben in einer Welt, die uns so viele Chancen bietet wie nie zuvor.
Der große Vorzug der Demokratie ist ihre Veränderbarkeit. Sie ist kein starres, sondern ein lernfähiges System. Korrekturen und Veränderungen sind in vielerlei Weise möglich. Jede Bürgerin und jeder Bürger ist dazu aufgerufen, daran mitzuwirken. Teilhabe und Einmischung ist ausdrücklich erwünscht. Wir sind dem Wandel nicht hilflos ausgeliefert, sondern wir können und sollen ihn aktiv mitgestalten, überall dort, wo wir betroffen sind, wo wir mitreden können.
Freiheit ist das große Thema und das Leitmotiv unseres Bundespräsidenten Joachim Gauck. Er hat die friedliche Revolution in der DDR als Prozess der Befreiung erlebt und aktiv mitgestaltet.
Und er betont bei jeder Gelegenheit, dass Freiheit immer mit Verantwortung verbunden ist. Sich frei für etwas entscheiden bedeutet immer auch, Verantwortung zu übernehmen.
Er erklärt das am Beispiel seiner Tochter, die im Gegensatz zu vielen ihrer Kommilitoninnen kein Kind haben wollte. Nachdem sie sich dann schließlich doch für ein Kind entschieden hatte, wurde es zur großen Bereicherung ihres Lebens, eröffnete ihr viele neue Möglichkeiten und Lebensinhalte. Sie wurde nicht unfrei durch die Geburt ihres Kindes, sie musste auf nichts verzichten, sondern sie erlebte die neue Verantwortung, die sie damit übernommen hatte, auch als Gewinn für ihre eigene Persönlichkeit.
Vermutlich geht es den meisten Eltern so, und vielleicht geht es auch Ihnen bei dieser Freisprechung ein wenig so. Sie werden danach mehr Verantwortung übernehmen als zuvor, aber genau das wollen Sie ja auch. Es bringt Verpflichtungen und vielleicht auch viel Anstrengung mit sich, aber es eröffnet neue Freiräume, neue Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung gemeinsam mit anderen, im Team oder in Leitungsfunktionen.
Sie werden sich im Wettbewerb mit anderen behaupten müssen. Bei den Herstellungsmethoden wird es für Sie kein Ende der Entwicklung geben. Sie werden am Ball bleiben müssen, immer auf dem neuesten Stand der Technik. Sie werden den wachsenden Ansprüchen Ihrer Kundinnen und Kunden gerecht werden müssen. Aber Sie werden es schaffen. Ihre Qualität ist als Fachkraft gefragt, und diese Qualität wird sich immer durchsetzen.
Genießen Sie Ihre neu gewonnene Freiheit und nutzen Sie diese Freiheit! Mischen Sie sich ein – im Beruf und in unserer Gesellschaft!
Ich wünsche Ihnen, dass Sie die richtigen Entscheidungen treffen und dass Ihr Glas immer mindestens halb voll ist. Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Arbeit immer die Wertschätzung erfährt, die sie verdient, und ich wünsche Ihnen viel Erfolg in Ihrem Beruf und viel Glück und Zufriedenheit für Ihre Zukunft.
Nochmals: Herzlichen Glückwunsch für Sie alle ganz persönlich! Und viel Freude mit dem nachfolgenden Film, auf dass Sie sich gut in ihm getroffen finden mögen.