Sehr geehrter Herr Jellema!
Sehr geehrter Herr Kundt!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich freue mich ganz besonders darüber, dass ich heute in meiner alten Heimat, ein Jubiläumsfest eröffnen darf. Von den 50 Jahren der Paul-Hertz-Siedlung, die heute gefeiert werden, habe ich seit 1970 viele Jahre als junger Bewohner miterlebt und ein wenig auch mit gestaltet, denn hier habe ich angefangen, mich politisch zu interessieren und zu engagieren.
Der Wohnungsbau hier in Charlottenburg-Nord sollte die Wohnungsnot der Nachkriegszeit beheben. Zunächst entstand von 1956 bis 1961 der westliche Teil. Anschließend wurde diese Siedlung östlich des Kurt-Schumacher-Damms zunächst als Charlottenburg-Nord II errichtet.
Paradoxerweise verstärkte der Siedlungsbau zunächst die Wohnungsnot, da für die großflächigen Baumaßnahmen Laubenkolonien aufgegeben werden mussten, die in der Nachkriegszeit vielfach als Wohnersatzraum genutzt wurden. 1961 waren hier 775 Einwohner gemeldet, überwiegend als Dauernutzer in den Kleingartenanlagen. Es ist davon auszugehen, dass noch einige mehr hier lebten, die nicht gemeldet waren. Heute leben hier mehr als 6.000 Menschen in rund 3.600 Wohnungen.
1959 erwarb die Gemeinnützige Wohnungsbau-Aktiengesellschaft Groß-Berlin (GEWOBAG) die Grundstücke. Sie führte im August 1959 einen Architektenwettbewerb durch. Ziel war eine Neubebauung für 7000 Bewohnerinnen und Bewohner. 1961 sollte der Bau der Siedlung nach Plänen der Architekten Wils Ebert, Werner Weber und Fritz Gaulke beginnen.
Aber auch damals schon gingen die Kleingärtner und Dauernutzer auf die Barrikaden. Sie leisteten Widerstand gegen die Räumung des Areals und gingen vor Gericht. Dort unterlagen die Pächter zwar am Ende, aber die gerichtlichen Auseinandersetzungen führten zu Verzögerungen.
Nach der gerichtlichen Klärung wurden 1963 bis 1964 in drei Bauabschnitten 2616 Wohnungen im sozialen Wohnungsbau fertig gestellt – überwiegend in viergeschossigen Gebäudezeilen, zum kleineren Teil in neun achtgeschossigen Punkthäusern. Zunächst waren bis zu zwölf Geschosse geplant. Aber die alliierte Flugsicherheitsbehörde hatte wegen der Nähe zum Flughafen Tegel nur bis zu acht Geschosse erlaubt. Nach dem Abzug der Alliierten wurden von 1993 bis 1996 einige Gebäude aufgestockt.
1965 wurde die Siedlung durch fünf zweigeschossige Zeilen mit 70 Seniorenwohnungen auf dem zentralen Nord-Süd-Grünzug ergänzt. An ihrer Stelle entstanden seit 1992 rund 90 Eigentumswohnungen.
Die Siedlung galt als ein Musterbeispiel der damaligen Vorstellungen der Stadtplaner von der “aufgelockerten Stadt”. Das heißt: Die Häuser stehen nicht direkt an der Straße, sondern eher versteckt im Grünen.
Sehr modern war damals die Fernwärmeversorgung durch ein dafür errichtetes Heizwerk der GASAG und die Fernsehverkabelung, für die drei Hochantennen verwendet wurden.
Die Siedlung wurde im November 1962 benannt nach dem 1961 verstorbenen SPD-Politiker Paul Hertz, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg für den Wiederaufbau im damaligen West-Berlin eingesetzt hatte.
Der 1887 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geborene Paul Hertz trat 1905 in die SPD ein und war von 1920 bis 1933 Mitglied des Reichstages. 1933 emigrierte er zunächst nach Prag, wo er im SPD-Exilvorstand den Widerstand gegen die Nationalsozialisten mit organisierte und unterstützte. 1937 ging er nach Spanien und 1939 schließlich in die USA.
Ende 1949 konnte ihn sein Freund Ernst Reuter zur Rückkehr nach Deutschland bewegen und als Mitarbeiter für den Wiederaufbau in Berlin gewinnen. Er wurde Senator für Marschallplan und Kreditwesen. Bis 1955 war er zuständig für das Notstandsprogramm. Von 1955 bis zu seinem Tod 1961 war er Senator für Wirtschaft und Finanzen.
In unmittelbarer Nähe der Paul-Hertz-Siedlung befindet sich die 1952 eingeweihte Gedenkstätte Plötzensee. Dort waren während der Zeit des Nationalsozialismus fast 3.000 Menschen hingerichtet worden – neben Beteiligten des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 auch viele Angehörige kirchlicher Widerstandsbewegungen.
Im Frühjahr 1957 stritten der Berliner Senat und der Bezirk Charlottenburg über die Benennung der neuen Straßen. Der Senat plädierte für Architekten und Ingenieure wie in Siemensstadt, der Bezirk plädierte für Widerstandskämpfer. Schließlich setzte sich der Bezirk durch, und die meisten Straßen in Charlottenburg-Nord und in der Paul-Hertz-Siedlung wurden nach Widerstandskämpfern benannt, die in Plötzensee hingerichtet worden waren:
Bernhard Lichtenberg, Alfred Friedrich Delp, Elisabeth Charlotte Gloeden, Friedrich Karl Klausing, Franz Leuninger, Adolf Reichwein, Ludwig Schwamb, Theodor Strünck, Richard Teichgräber, Maria Terwiel, Oswald Wiersich.
Und wenn wir heute dieses Fest zwischen Kirchnerpfad und Wirmerzeile feiern, dann werden wir an Johanna Kirchner und Joseph Wirmer erinnert.
Die 1889 geborene Johanna Kirchner war Journalistin und seit ihrem 14. Lebensjahr Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend. Sie floh 1935 nach Frankreich, wurde aber 1942 an Deutschland ausgeliefert und am 9. Juni 1944 in Plötzensee hingerichtet.
Der 1901 geborene Joseph Wirmer war Jurist und verteidigte als Anwalt seit 1933 rassistisch Verfolgte. Er hatte Kontakte zu Bonhoeffer, Goerdeler und anderen und war für die Zeit nach dem Attentat auf Hitler als Justizminister vorgesehen. Er wurde am 8. September 1944 in Plötzensee hingerichtet.
Am 7. April 1963 schrieb der “Telegraph”:
“Immerhin ist dieses Straßenmahnmal ein Verdienst des Bezirks Charlottenburg. Einige der Briefe, die von Hinterbliebenen der Widerstandskämpfer an den Senat geschrieben wurden, entbehren einer gewissen Zurückhaltung nicht. Ein leicht bitterer Unterton – warum erst jetzt? – klingt an.
Das Schreiben allerdings, das von der Mutter Friedrich Karl Klausings, des jungen Adjutanten Graf Stauffenbergs, an den Senat geschickt wurde, soll besonders hervorgehoben werden. Einem herzlichen Dankbrief legte die Absenderin 50 DM für eine kinderreiche Familie bei. In einer Karte an diese kommt die Hoffnung der Spenderin zum Ausdruck, dass jene Kinder und alle anderen, die in der Siedlung aufwachsen, zu politisch verantwortungsbewussten, aber auch heiteren Menschen heranwachsen mögen.”
Die 1966 eingeweihte Grundschule erhielt den Namen des Widerstandskämpfers Helmuth James von Moltke. Er wurde 1907 in Kreisau geboren und begründete 1940 die Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis, in dem Persönlichkeiten aus dem Bürgertum, dem Adel, der Arbeiterbewegung, dem Katholizismus und dem Protestantismus zusammenarbeiteten. Moltke wurde am 23. Januar 1945 in Plötzensee erhängt. 1944 schrieb er in einem Brief an seine Frau Freya: “Ich habe mein ganzes Leben lang gegen einen Geist der Enge, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat.“
Auch die katholische Gedenkkirche und das evangelische Gemeindezentrum wurden bedeutende Zeichen und Institutionen des Gedenkens:
Am 5. Mai 1963 wurde die katholische Gedenkkirche Maria Regina Martyrum zur “Gedächtniskirche der deutschen Katholiken zu Ehren der Blutzeugen für Glaubens- und Gewissensfreiheit aus den Jahren 1933-1945” geweiht. Seither ist Maria Regina Martyrum die zentrale Gedächtniskirche der deutschen Katholiken für die Opfer des Nationalsozialismus. Der von einer hohen Mauer umgebene große kahle Hof weckt die Assoziation eines Gefängnishofes oder Appellplatzes, der Eckturm erinnert an einen KZ-Wachturm. Im Gedenkraum der “Märtyrer für Glaubens- und Gewissensfreiheit” befinden sich vier Bodenplatten mit Inschriften zum Gedenken an Opfer der NS-Gewaltherrschaft. Hier befindet auch das Grab von Erich Klausener und eine Gedenkstätte für den Dompropst Lichtenberg.
Am 5. Mai dieses Jahres wurde mit Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki und Erzbischof Robert Zollitsch das 50jährige Bestehen gefeiert.
1970 wurde das Evangelische Gemeindezentrum Plötzensee eingeweiht. Es thematisiert die Nähe zur Gedenkstätte Plötzensee mit dem “Plötzenseer Totentanz”, einem Zyklus von sechzehn großformatigen Zeichnungen von Alfred Hrdlicka aus den Jahren 1968-1972. Hinrichtungsdarstellungen werden verbunden mit biblischen und gegenwartsbezogenen Themen.
Ich bin froh darüber, dass es all diese öffentlichen Erinnerungszeichen hier in der Paul-Hertz-Siedlung gibt, denn die Erinnerung an die Geschichte ist die Voraussetzung dafür, dass sie sich nicht wiederholt, dass wir etwas daraus lernen können.
Wir haben aus unserer Geschichte gelernt. Gerade unser Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf ist ein Beispiel für das Zusammenleben in großer Vielfalt – und das gilt auch für die Paul-Hertz-Siedlung.
Das Motto dieses Festes “Die Welt im Kiez” ist gut gewählt. Es bezeichnet genau die Vielfalt und Weltoffenheit im Kleinen, für die der Freiherr von Moltke sein Leben lang gekämpft hat. Wenn wir heute 50 Jahre Paul-Hertz-Siedlung feiern, dann feiern wir auch 50 Jahre erfolgreiche friedliche Entwicklung in Demokratie und Freiheit.
Ich danke der GEWOBAG für ihr außergewöhnliches Engagement für diese Siedlung und für die Organisation dieses Jubiläumsfestes. Ich danke aber auch allen anderen die daran mitgewirkt haben und mitwirken, dem Mieterbeirat, den Kiezinitiativen und allen aktiven Bewohnerinnen und Bewohnern.