Tim Marzahn berichtet aus Wien

Von Berlin nach Wien – 681 km zwischen zwei Verwaltungen

Ich war das erste Mal in Wien, als Falco noch als junger Bassist in einer Band in den kleinen Clubs seiner Geburtsstadt spielte, der Mauerfall so wahrscheinlich war wie die Vorstellung, dass ein mit Wischbewegungen zu bedienender Computer im Hosentaschenformat das Leben smart und virtuell machen würde, und als die junge Kaiserin Sissi noch im Schloss Schönbrunn die ersten Walzerschritte übte. So ähnlich zumindest. Inzwischen ist eine ostdeutsche Physikerin Bundeskanzlerin eines vereinigten Deutschlands, der Erste Wiener Arbeiter Fußballklub SK Rapid Wien läuft als österreichischer Rekordmeister seit Jahren erfolglos der Brausekonkurrenz hinterher und ich feiere im nächsten Jahr mein fünfundzwanzigstes Dienstjubiläum in der Berliner Verwaltung.

Fast ausschließlich während all der Jahre in der Jugendamtsverwaltung, bin ich seit eineinhalb Jahren im Bezirksamt Lichtenberg und dort zu gleichen Teilen einerseits als sogenannter Jugendhilfeplanerischer Datenkoordinator und zum Anderen als Revisor im dortigen Jugendamt tätig. Während meine erste Dienstbeschreibung fast auf kein Türschild passt, hat meine andere Aufgabe zunächst einen ähnlich guten Ruf wie die Grippe. Inzwischen jedoch habe ich eine Menge über Lebensweltlich Orientierte Lebensräume und Einwohnerstatistiken gelernt und wissen die JugendamtsmitarbeiterInnen, dass ich weder beiße noch krank mache. Ich fühle mich ziemlich wohl im Jugendamt Lichtenberg. In wenigen Tagen fahre ich nunmehr im Rahmen des Europäischen Hospitationsprogramms der Berliner Verwaltung, LoGo Europe, hochmotiviert für vier Wochen in meine zeitlebens erklärte Lieblingsstadt, um dort in der Wiener Kinder- und Jugendhilfe, Stabstelle Qualitätssicherung und Organisation, Einblicke in die Arbeit der Wiener KollegInnen zu bekommen, neue Erfahrungen zu sammeln, dort den Bezirk Lichtenberg zu vertreten und hoffentlich mit tollen Eindrücke, Erfahrungen und vielleicht einigen Anregungen für die Arbeit in der Berliner Verwaltung zurückzukehren.
Seit meiner Kindheit und Jugend bin ich immer wieder in Wien, habe dort Silvester gefeiert, Kinder auf Reisen betreut oder sogar Friedensreich Hundertwasser und den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky getroffen; aber das sind andere, für diesen Blogbeitrag zu lange Geschichten. Alleine in diesem Jahr war ich bereits zweimal dort. Erst im Sommer war Wien die letzte Station meines Sommerurlaubes, als ich in zwei Wochen mit dem Fahrrad von Passau nach Wien gefahren bin. Meine persönliche Leidenschaft für Wien trifft sich also gut mit der Gelegenheit, für vier Wochen in der Verwaltung einer anderen Stadt, eines anderen Landes hospitieren zu dürfen. Ich denke, dass es schon noch etwas Besonderes und nicht alltägliches ist, direkte Eindrücke aus einer anderen Behörde, einer anderen Verwaltungsorganisation bekommen zu können. Das Programm LoGo Europe habe ich dabei erstmals in der Ausschreibung für den Austausch in diesem Jahr kennengelernt. Ich war jedoch quasi sofort Feuer und Flamme für diese Idee, für diese Vorstellung einer Hospitation im Ausland; ich könnte fast sagen, dass wollte ich schon immer mal machen, habe nur noch nie davon gewusst.

Fast alles, was ich während der Vorbereitung für meine Projektarbeit in Wien gehört habe, klingt dabei fast zu gut, um wahr zu sein. In den Krankenhäusern Wiens gibt es offensichtlich Standesämter, sodass junge Mütter, ihr neugeborenes Kind in der einen und mit der Geburtsurkunde in der anderen Hand, das Krankenhaus verlassen können, während Anträge auf Kindergeld bzw. Familienbeihilfe und anderes bereits laufen. Die Stadt hat in den letzten Jahren ein eigenständiges Rechenzentrum aufgebaut, dass am Ende noch preiswerter war als geplant, und angeblich können die StadtbewohnerInnen nahezu alle Behördengänge online erledigen oder zumindest weitestgehend vorbereiten. Gerüchten nach wird man sogar persönlich per Textnachricht über die Erledigung informiert, wenn man die Stadtverwaltung per App auf einen Müllberg an einer Straßenkreuzung hingewiesen hat. An dieser Stelle könnte ich dezent darauf hinweisen, dass es in meiner Berliner Wohngegend eher zum guten Ton gehört, den privaten Sperrmüll „zum Mitnehmen“ auf dem Bürgersteig zu entsorgen, damit dieser dann über Monate ‚hübsch verziert‘ sein Dasein fristet. Kurzum, die Geschichten über die Wiener Behörden klingen eigentlich zu unvorstellbar, um wahr zu sein. Zumindest für einen Mitarbeiter der Berliner Verwaltung, der eher mit einem Flugtaxi zum Mond fliegen als vom Hauptstadtflughafen BER in den Urlaub starten wird. Obwohl, zumindest hier hat Berlin der österreichischen Hauptstadt womöglich etwas voraus, in Sachen Klimaschutz sind die Berliner ganz weit vorne, wenn es darum geht ansteigende Fluggastzahlen durch die xte Verschiebung der BER-Eröffnung zu verhindern. Wobei ich unabhängig davon sowieso nicht per Flugzeug nach Wien reisen würde. Ich fahre ganz bewusst mit der Bahn und nehme auch mein Fahrrad mit. Mit zwei Satteltaschen, einigen bereits gekauften Konzertkarten für die Kulturabende in Wien und einer Menge Vorfreude geht es in ein paar Tagen los. Die Beschreibungen in den Emails von den KollegInnen meiner Hospitationsstelle in Wien an mich versprechen in jedem Fall ein spannendes Arbeitsumfeld. Ich weiß dabei natürlich noch nicht genau, was mich in vier Wochen Wien alles erwarten wird. Eines hingegen ist bereits seit einigen Wochen quasi amtlich, wie es in den Nachrichten zu lesen war: Wien sei die lebenswerteste Stadt der Welt. Was soll da eigentlich schiefgehen? Ich kann es jedenfalls kaum erwarten.

Imbiss

Kurze Wege zwischen Bowie und Würstelstände

Letzten Mittwoch habe ich David Bowie getroffen, mitten in Wien, genauer gesagt abends auf der leicht pittoresken Bühne des kleinen Theaters am Spittelberg im siebten Bezirk, gleich hinter dem Museumsquartier. Nun wird die geneigte Leserschaft womöglich aufhorchen, es könne schlichtweg unmöglich sein, dass ich diese spezielle Bekanntschaft gemacht habe; nichtsdestotrotz muss ich auf diese Begegnung beharren, auch, wenn die Umstände zumindest etwas speziell sind. Bowie saß, leger gekleidet in grauer Jeans und mit neuer Kurzhaarfrisur, in Gestalt des, zumindest in Österreich, (relativ) bekannten Barden Sir Tralala auf der Bühne des kleinen Theaters, neben ihm der Nino aus Wien, und intonierte in verzückter Schönheit sein ‚Life on Mars‘. Passend. Denn im Rahmen der Reihe ‚Wien im Rosenstolz‘ präsentierten Der Nino aus Wien und Sir Tralala Lieder über das Sterben und die Liebe. Viel näher kann man meiner Ansicht nach dem Lokalkolorit dieser Stadt nicht kommen.

Ähnlich wahrhaftig spiegelt sich die Lebensart der Wiener in der Angebotspalette lokaler Würstelstände. Während sich in Berlin die Curry-Brühwurst mit Pommes ein bequemes Monopol an den Imbissständen der Hauptstadt eingerichtet hat, greifen die Wiener hier zwar ebenso gerne zum Würstel, jedoch in wesentlich „interessanteren“ Produktdarbietungen. Gerne wird der Snack, mit oder ohne inkludierten Käse, liebevoll in ein vergrößertes Hot-Dog-Brot gestopft und mit diversen Soßendreingaben garniert; ebenso gerne darf die Wurst auch vom Pferd stammen.

Ein wenig abwechslungsreicher, und mir dann auch wieder näher liegend, gestaltet sich das Essensangebot in den Kindergarteneinrichtungen der Stadt. Zumindest konnte ich mich davon persönlich bei meinen Kindergarteninspektionen überzeugen, mit denen ich die letzten beiden Tage hauptsächlich beschäftigt war. Zusammen mit einer Kollegin der MA11 (Magistratsabteilung Wiener Kinder- und Jugendhilfe) war ich in verschiedenen Einrichtungen der Stadt im Außendienst unterwegs. Während ich die Einrichtungen der Kindertagesbetreuung in Lichtenberg im Grunde bislang nur aus den Planungsphasen und durch Gespräche über Konzeptionen, Baupläne und dem Zusammenhang mit den Einwohnerzahlen der einzelnen Bezirksregionen kenne, konnte ich hier sehr direkte Einblicke in den Ablauf, die Ausstattung, den behördlich geforderten Standards und die Organisation der Kinderbetreuungseinrichtungen bekommen.

Wohnung am Stadtpark

Irgendwie hat sich mit dem Besuch der jüngsten Einwohner in der Stadt am Ende der ersten Woche somit auch der Kreis zu meinem ersten Abend in Wien geschlossen. Kaum vom Fahrrad bzw. aus dem Zug gestiegen, hat es mich mit meinen Gastgebern gleich am ersten Abend zu einem Event verschlagen, der großzügig beurteilt auch im weitesten Sinne dem Thema der Kinderbetreuung bzw. Kinderbespaßung zugeordnet werden dürfte. Ich fand mich in meinem ersten (und nicht unwahrscheinlich auch letzten) Hip-Hop-Konzert einer australischen Combo im mir bereits aus vergangenen Wienbesuchen bekannten Flex wieder und konnte fasziniert dem Treiben von siebenhundert Menschen folgen, die überaus synchron unter der fachkundlichen Anleitung der beiden Vokalartisten schier erschöpfungslos, aber mit sichtlich guter Laune in den Gesichtern immer wieder gemeinsam die Arme bewegten: to the left, to the right, to the left, to the right …

Wesentlich besinnlicher, wenngleich doch auch speziell, ist für mich und meine Gastgeber am Sonntagabend die erste Woche meines Aufenthalts in Wien ausgeklungen. Im Konzerthaus Wien gastierte der in Berlin beheimatete Musiker Lambert, der bei seinen Auftritten sein Gesicht hinter einer sardinischen Stiermaske verbergend träumerisch schöne Melodien am Piano zaubert. Ein ziemlicher Gegensatz zum Auftritt der österreichische Musikerin und Performancekünstlerin Lulu Schmidt, die ich am Samstagabend zusammen mit einem ausgelassenen Publikum in der Kunsthalle Wien im MuseumsQuartier ‚bewundern‘ konnte; da hätte sich jeder internationale Beitrag auf einem Eurovision Song Contest aber warm anziehen müssen. Für das wesentlich beschaulichere Lambert-Konzert am Sonntagabend traf es sich gut, dass das Konzerthaus am Stadtpark ungefähr eine Minute fußläufig entfernt zu meiner Wohnung im ersten Bezirk liegt; auch hier ist Wien für mich eine Stadt der kurzen Wege. Überhaupt hat sich die ganze Stadt in der ersten Woche des Logo-Europe-Austausches mir und den anderen Berliner hospitierenden Gästen insgesamt von seiner allerschönsten Seite gezeigt. Am Wochenende konnte ich im Sommershirt auf der Terrasse frühstücken, gefühlt hätte es mich nicht gewundert, wenn es anschließend zum Strand gegangen wäre. Mit dem Fahrrad konnte ich bei sommerlichen Temperaturen zum Donaukanal fahren, und im Kino hätte ich bei meinen ersten beiden Filmen im Rahmen der gerade eröffneten Viennale gut gekühlte Schirmchencocktails gebrauchen können. Verwirrend ist es dabei jedoch, dass am Wochenende bei solchen Temperaturen die Eisbahn am Stadtpark ihre Pforten für die neue Saison eröffnet hat. Wie dem auch sei, ich hatte in der ersten Woche jede Menge kulturellen Spaß und interessante Begegnungen in der Wiener Verwaltung, so darf es gerne weitergehen.

Berlin im Jahr 2029 – überall warmes Wasser

Berlin. Genauer gesagt Berlin-Schönefeld. Wir schreiben das Jahr 2029. Am Rande der Eröffnung der Weltmeisterschaft im Minigolfen kommen der Deutsche Bundeskanzler Jan Böhmermann und die Österreichische Kanzlerin Conchita Wurst zu einem informellen Austausch zusammen. Gemeinsam schaut man auf die vergangenen zehn Jahre zurück, in denen es gelungen ist, hier am ehemaligen Stadtrand von Berlin ein in Europa wohl einmaliges Projekt zu realisieren. Auf dem Gelände, wo vor knapp zehn Jahren noch die Fertigstellung eines ursprünglich anvisierten Großflughafens für die Region Berlin-Brandenburg geplant war, ist innerhalb von nicht ganz einer Dekade und nicht zuletzt durch das österreichische Knowhow in Sachen Stadtentwicklung ein ansehnliches Vorzeigeprojekt entstanden. Kurz nachdem klar war, dass an diesem Standort sicher kein Flugzeug mehr in den Berlinbrandenburgischen Himmel aufsteigen würde, und nachdem man in einer Rekordzeit von nur acht weiteren Jahren die bereits „fertigen“ Flughafengebäude rückgebaut hatte, ist hier ein Ort des Wohnens und des Zusammenkommens von Menschen entwickelt worden, der wohl seines Gleichen sucht. Lediglich die vor über zehn Jahren angelegten Rollbahnen zeugen hier noch von einem Ort, der eigentlich dazu angedacht war, von hier mit dem Flugzeug in die weite Welt aufzubrechen. Inzwischen sind Flugreisen mit einer Entfernung von unter 5.000 Kilometern aufgrund der drastischen klimatischen Veränderungen gesetzlich verboten und auf dem ehemaligen Rollfeld spielen heute die besten Minigolfer der Welt um den Titel in der neuen Trendsportart. Dank der Unterstützung österreichischer Stadtplaner sind hier die rückgebauten Flughafengebäude in Wohnprojekte umgewandelt worden, die inzwischen in Kombination mit den hier ebenso integrierten Arbeitsstätten, Cafés, Kultureinrichtungen, Kindergartenbauten, einem kleinen See, diversen kleinen und großen Parkanlagen, modernen Verwaltungsgebäuden und einem völlig neuem Verkehrskonzept, bei dem klimaschädliche Fortbewegungsmittel wie E-Roller, E-Bikes und Autos per se komplett aus dem neuen Stadtgebiet verbannt wurden, für diverse internationale Stadtentwicklungspreise nominiert sind.
Dabei war es zunächst gar nicht absehbar, dass hier solch ein internationales Vorzeigeprojekt entstehen könnte.

Wien von Oben

Manchmal sind es eher die kleinen, gar nicht so weltpolitisch bedeutenden Begebenheiten, die einen Stein ins Rollen bringen. Alles fing im Herbst 2019 mit der Hospitation eines einfachen Berliner Verwaltungsbeamten in Wien an. Im Rahmen eines internationalen Austauschprogramms der Berliner Verwaltung, die inzwischen durch radikale Digitalisierungsprogramme und eines konsequenten Outsourcingprogramms aller Verwaltungsangebote und Behördenangelegenheiten an amazon auch nur noch eine sentimentale Erinnerung in den Geschichtsbüchern bzw. auf den Webseiten in der Cloud ist, konnte dieser Mitarbeiter des Berliner Bezirks Lichtenberg neben seinen Einblicken in die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe Wiens auch Eindrücke aus dem Projekt der damals noch in den Kinderstiefeln steckende neue Großraumsiedlung Seestadt erhalten.

Seestadt

Die Seestadt ist ein Vorzeigeprojekt der Stadt Wien, wo in über zehnjähriger Bauzeit eine völlig neue Stadt in der Stadt entstand. Bei seinem Rundgang durch das damals noch niegelnagelneue Amtsgebäude, in dem neben der Region Ost der Kinder- und Jugendhilfe auch noch ein Familienzentrum und das Sozialamt untergebracht sind, wurde der hospitierende Berliner Verwaltungsbeamte ziemlich neidisch auf die sich dort präsentierenden räumlichen Arbeitsbedingungen. Teils holzvertäfelte Büros, gemütliche und ansehnliche Büromöbel, großräumige Aufenthaltszimmer und Küchen, warmes Wasser in den Toiletten, helle Farben, formvollendete Treppenhäuser und Wartebereiche und ein Dienstfahrrad auf dem Gang waren durchaus beeindruckend. Wenngleich, dass sei angemerkt, dies zuletzt durch den Vorteil des Neubaus eine Art Vorzeigehaus der Verwaltung ist; es gibt in Wien durchaus auch Amtsstuben die sich so präsentieren, wie man es aus eigener Berliner Erfahrung, aus Funk und Fernsehen gewöhnt ist. Eines fiel dem Berliner Verwaltungsbeamten im Rahmen seiner Hospitation jedoch sofort auf: es gibt fließend warmes Wasser in den Sanitärräumlichkeiten eines Amtes; in Berlin wird man kaum ein öffentliches Gebäude finden, dass auf den Toiletten über warmes Wasser verfügt, Berlin sorgt hier eigentlich fast immer für kalte Hände der Besucher und Mitarbeiter. Letztendlich, warme Hände hin oder her, konnten die damaligen Einblicke des Berliner Verwaltungsmitarbeiters nicht unerheblich dazu beitragen, dass in Berlin-Schönefeld im Jahre 2029 ein Wohn- und Erholungsgebiet entstanden ist, indem sich Berliner und Berlinerinnen heutzutage mehr als wohl und heimisch fühlen.

Vielleicht war es damals, im Jahre 2019, also ganz gut, dass sich der in Wien hospitierende Berliner mehr auf den eigentlichen Sinn und Zweck seines Austauschprogramms konzentriert hat. Zumindest bestand damals auch die Gefahr, dass sich der LoGo-Europe-Teilnehmer kurzerhand entschlossen hätte gleich gänzlich nach Wien überzusiedeln, war er doch von den zahlreichen außerdienstlichen und hospitationsbegleitenden Programmpunkten so angetan, dass er gut und gerne auch als Manager oder Kulturbeauftragter in die Unterhaltungsbranche hätte wechseln können.

Der Künstler „Gutlauninger“

Der skurrile Auftritt des „Unterhaltungskünstlers“ Gutlauninger im goldfarbenen Anzug im Etablissement B72, die mit Livemusik untermalte Aufführung eines Stummfilmklassikers im Kinokulturhaus, der Besuch der ehrwürdigen Albertina, die Einladung zu einer Ausstellungseröffnung im Naturhistorischen Museum mit Reden eines ehemaligen Apollo-Raumfahrers bzw. des amerikanischen Botschafters in Wien oder die Führung durch das beeindruckende Wiener Rathaus waren nur einige Argumente, die den Berliner Wienbesucher stark an seinem notwendigen wohnörtlichen Verbleib in der Deutschen Hauptstadt haben zweifeln lassen. Letztendlich ist es aber dann doch anders gekommen und inzwischen gibt es auch in allen öffentlichen Amtsstuben der Stadt Berlin fließend warmes Wasser.

Der Exbärte namens Fred

Wien im Jahr 2019 – Weltkulturerbe mit dem Exbärten

Wien. Genauer gesagt Innere Stadt, wie der erste Bezirk hier mit vollem Familiennamen heißt. Wir schreiben das Jahr 2019. Neunter November. Ich stehe mit einem hochrangigen Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe der Stadt, dem Exbärten Fred, und Wolfgang am Würstelstand und bin mit dem Budenverkäufer in ein hungriges Fachgespräch verwickelt. Ich hatte soeben für mich das vegane Tagesangebot, für Wolfgang einen Berliner und für meinen Freund, dem Bär, ein paar Wiener bestellt. Halte plötzlich jedoch einen Käsekrainer, einen fettigen Krapfen und zwei Frankfurter in der Hand. Bin verwirrt. Auf die freundliche Nachfrage, ob wir gerne noch einen Verlängerten haben mögen, lehne ich ebenso freundlich mit dem Verweis ab, dass wir es schon ein wenig eilig hätten und nicht für länger hier verweilen wollten. Jetzt ist der Imbissverkäufer verwirrt. Überlege kurz, ob ich hier noch meine restlichen Schillinge aus meinem letzten Familienurlaub mit meinen Eltern einlösen könnte; ich tue mich halt schwer damit, Dinge auszusortieren, reise daher irgendwie oftmals mit Währungen im Geldsackerl, die nur mehr für Länder aus den Geschichtsbüchern gelten. “Host an Tschick?” Drehe mich erschrocken um. “Host an Tschick?” werde ich erneut gefragt. Offensichtlich ein Einheimischer. Will mich von meiner besten Seite zeigen, schließlich bin ich hier ja nicht privat oder im Auftrag des Herren, sondern als Vertreter des Bezirksamtes Lichtenberg von Berlin unterwegs, und entgegne freundlich, dass ich meinen Kleidungsstil selbst auch ganz chic finde. Schaue zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit in ein offensichtlich verwirrtes Gesicht. Der irritierte Wiener fragt mich jetzt, ob ich einen Augustin haben mag. Meine Augen leuchten, Augustiner, denke ich, und freue mich auf ein kühles Bier zu meinem Käsekrainer. Im nächsten Moment halte ich jedoch stattdessen die neuste Ausgabe der Wiener Obdachlosenzeitung in der Hand. Der Exbärte neben mir hält sich beschämt beide Tatzen vor die Augen. Wolfgang hingegen, der bislang nicht wirklich redegewandt war, nimmt die Situation zum Anlass seine Gitarre auszupacken und stimmt eines seiner alten Lieder an: „Wann in da Fruah die Nocht gegen den Tog den Kürzern ziagt, und wenn da erste Sonnenstrah’l de letzte Dämmerung dawiagt, dann woch i auf, in der Kinettn wo i schlof“. Wende mich wieder dem Würstelverkäufer zu, der mittlerweile messerscharf trotz der ihm vertrauten Gesangseinlage meines Kompagnons erkannt hat, dass ich wohl nicht in seiner Stadt zuhause bin. Erkläre ihm, dass ich aus Berlin bin und hier in Wien gerade für vier Wochen in der MA11, der Kinder- und Jugendhilfe der Stadt Wien, hospitieren würde. “Berlin?”. Ja, wiederhole ich freundlich. Der Verkäufer setzt zu einer komprimierten Fassung der Wiener Stadtgeschichte an.

Wien ohne dritten Mann

In Wien hätte es auch mal eine Mauer gegeben, die sei Mitte des vorletzten Jahrhunderts aber geschleift worden, aus dem Material hätte man dann die ganzen Häuser gebaut, die man heute noch an dem Wiener Ring bewundern könne. Denke an die Mauer in Berlin, die inzwischen länger nicht mehr steht als sie die beiden Berliner Stadthälften geteilt hatte; vereinzelt ist sie noch in Museen oder an wenigen Straßenkreuzungen in Berlin zu bewundern, mir fällt jedoch kein einziges Haus in Berlin ein, das aus ihren Resten Gebaut sein könnte. Der Würstelmann reißt mich aus meinen Überlegungen und setzt seine Geschichtsstunde fort. Ob ich wisse, dass die Hofburg der drittgrößte zusammenhängende Gebäudekomplex der Welt sei, dass ca. 25% der österreichischen Bevölkerung in Wien lebe, dass Wien mit über 800 Kilometern das weltweit dichteste öffentliche Verkehrsnetz habe, dass es an der neuen Donau den längsten Badestrand Europas gäbe, dass Wien im Verhältnis die Dichte an Kultureinrichtungen einer Vier-Millionen-Stadt habe, und ob mir bewusst sei, dass sein Würstelstand hier in der inneren Stadt wie ebendiese quasi irgendwie auch zum Unesco-Weltkulturerbe gehöre? Bin ziemlich beeindruckt. Nehme jetzt doch vier Verlängerte für Freund Tatze, Wolfgang, den Zeitungsverkäufer und mich, hab’s nicht mehr eilig. “Interessant”, sage ich, mir war nicht bewusst was ich über meine Lieblingsstadt alles nicht wusste. Möchte mich nunmehr revanchieren. Ob er gewusst habe, frage ich den Imbissmann, dass in Wien ca. 60.000 Menschen in den Städtischen Behörden arbeiten, davon allein ca. 1.750 MitarbeiterInnen in der Wiener Kinder- und Jugendhilfe, dass es auf Wien verteilt insgesamt neun Familienzentren gibt, dass mein Kollege Fred unter fred.wien.at Infos aus erster Tatze für junge Eltern und Familien habe und dass im Jugendamt im letzten Jahr Dolmetschertätigkeiten in 53 Sprachen in Anspruch genommen wurden? Jetzt ist es der zum Weltkulturerbe gehörende Wurstverkäufer, der beeindruckt scheint. Plötzlich greift er unter die Theke und holt eine Flasche Berliner Luft Schoko heraus. “Für mich nicht”, unterbricht Fred die gesellige Runde, er sei noch im Dienst und müsse gleich ins Studio, ein neues Video für seine Internetseite aufnehmen. Derweil greift Wolfgang erneut in die Saiten: „I hob mi scho seit zenn Tog nimmer rasiert und nimme gwoschn, und i hob nix als a Flaschn Rum in da Mantltoschn, de gib i ma zum Frühstück und dann schnorr i an um a Zigarettn an, und um an Schülling“. Das ist mein Stichwort. Krame in meiner Manteltasche nach der vergangenen Währung. Statt Münzen finde ich jedoch nur die Kinokarte vom Vorabend und meine Zigaretten. „Oida, Du host an Tschick?“, fragt mich der Zeitungsverkäufer nunmehr überrascht. Reiche ihm die Packung, leere zwei kurze Berliner Luft Schoko und schlage der Würstelstandrunde vor, zusammen ins Schikaneder zu gehen. Ein kurzes Grinsen huscht über das Gesicht des Zeitungsverkäufers, „das geht sich eh aus“.

Müllverbrennungsanlage in Simmering

Das Jugendamt in Europa – eine positive Marke

Ich wurde gestern gefragt, ob mir die etwas morbide Seite Wiens und seiner Einwohnerinnen und Einwohner bereits aufgefallen sei. Nicht wirklich. Die Stadt hatte sich in den letzten Wochen eigentlich allergrößte Mühe gegeben, sich mir von ihrer allerbesten Seite zu zeigen, durch ihr tolles Kulturprogramm, kurze Wege, schummrige Lichter und pralle Törtchen in diversen Caféhäusern der Stadt, und nicht zuletzt durch wirklich überaus sympathische und immer sehr um mich bemühte Kolleginnen und Kollegen in allen Verwaltungs- und Organisationseinheiten der Stadt, die ich in den vier Wochen kennenlernen und besuchen durfte. Wahrscheinlich ist dies in meinen Beiträgen hier bereits ganz gut rübergekommen. Doch plötzlich, womöglich sich meiner aufkommenden Schwermut ob meines bevorstehenden Abschiedes bewusst, zeigt mir Wien gestern dann doch zum ersten Mal die kalte Schulter, dass es mich vielleicht doch erstmal wieder ganz gerne loswerden würde: nasskalter Regen, in dem ich mich morgens verlaufe, und Schneeregen ins Gesicht am Cobenzl auf dem Weg zum dortigen Weinanbau. Eine Führung im stadteigenen Weingut und zwei Tage zuvor in der MA48 bzw. in der in Wien allseits bekannten Müllverbrennungsanlage in Simmering waren nochmal tolle Ausflüge, die hier für uns Berliner Hospitanten organisiert wurden. Vor knapp zwei Wochen konnte ich mich am Donaukanal noch in die sonnigen Arme der Stadt legen, jetzt jedoch zwinkert sie mir zu: siehste, dit is‘ dit Wetta, dass dia bald wieda zu Hause in Berlin erwarten tut, jewöhn’ da glei‘ ma‘ dran, und stell deene nassen Botten nich‘ in den Wech, denk’ dran, dass de noch packen musst, mach deene Jacke jefälligst ordentlich zu. Nun gut, auf dem Zentralfriedhof war ich wieder nicht, Falco wird dort noch eine Weile weiter auf mich warten müssen; bei meinem letzten Besuch auf dem Zentralfriedhof dürfte er noch quicklebendig durch die Dominikanische Republik gedüst sein. Ich habe also, abgesehen von dem Konzert mit Nino aus Wien, der mit Sir Tralala neben der Liebe auch das Sterben besungen hatte, dem Teil Wiens, der vielleicht gerne mal mit dem Tod auf ein Glaserl jungen Wein anstößt, keine große Beachtung geschenkt. Viel lieber bin ich durch die Straßen und Gassen der Stadt gelaufen, habe mich berauscht und dabei immer wieder etwas gesucht, was unbekannt oder vertraut war. Ich bin gespannt, wie mich nunmehr Berlin zu Hause erwarten wird.

Stadtkino Wien

Vorher werde ich mich noch verabschieden, nochmal auf eine Mehlspeise ins Lieblingscafé, auf ein Konzert ins Chelsea, mich von meinem geliebten Stadtkino verabschieden und nochmal durch den Stadtpark schlendern.

Was nehme ich mit, nicht nur persönlich, sondern auch für meine Arbeit im Jugendamt in Berlin, was nehme ich mit von dem Europäischen Gedanken, dem ich ja irgendwie auch zu verdanken habe, dass ich vier Wochen lang im Rahmen des LoGo Europe Projektes in einer anderen, städtischen, europäischen Verwaltung hospitieren durfte? Womöglich sogar mehr, als ich es jetzt so ganz spontan und abschließend hier benennen könnte.

Trzesniewski

Zunächst einmal einen tatsächlichen Rucksack voller vieler kleiner Geschenke und Aufmerksamkeiten meiner Wiener Kolleginnen und Kollegen, etwas peinlich be- und gerührt fühle ich mich, weil ich doch so sehr danken möchte. Immerhin konnte ich mich mit Brötchen von Trzesniewski revanchieren. Was in Berlin liebevoll beschmierte Stullen wäre, sind hier Brötchen, aber die Berliner, die hier Krapfen heißen, nennt man in Berlin ja auch Pfannkuchen .., egal, das würde jetzt (wieder mal) zu weit führen. Sicher wird der erste Tag im Berliner Büro etwas komisch sein, trotzdem nehme ich zuerst einmal jedoch Motivation mit, dort wie hier Teil einer Aufgabe zu sein, der ich mich schon immer verbunden fühlte. Als Jugendlicher und später junger Erwachsener habe ich immer wieder Kinder und Jugendliche in Berlin, auf internationalen Fahrten und in Zeltlagern betreut. Kein Zufall sicherlich, dass ich im Jugendamt gelandet bin, dass passt schon. Auch damals war es eigentlich nicht neu, aber bereits enorm wichtig, sich der Angelegenheiten von Kindern, Jugendlichen und ihrer Familien anzunehmen. Schon damals hieß es „Kinderrechte – ein Fall für uns“. Inzwischen gibt es die UN-Kinderechtskonvention seit dreißig Jahren, doch längst ist nicht alles gut. Kinder, Jugendliche und Familien haben, sei es in Wien, in Berlin oder sonst wo auf der Welt, oftmals nicht die Lobby, die sie brauchen. Eltern und Familien bedürfen der Unterstützung durch Einzelne und der Gesellschaft. Es ist keine Schande, um Hilfe zu bitten, es sollte selbstverständlich sein, den Problemen und auch Eigenheiten von Kindern, Jugendlichen und Eltern mit offenen Armen in der Gesellschaft zu begegnen. Jugendämter können dabei ein Teil sein, der Hilfe und Unterstützung anbietet, niederschwellig, lösungsorientiert und immer mit dem Ohr, das zuhört. Nicht besser wissen, eher anbieten, nichts vorschreiben, lieber Lösungswege aufzeigen. Das Wort ‚Jugendamt‘ sollte dabei positiv besetzt sein und keine Ängste wecken. Dafür kann noch einiges getan werden. In Berlin. In Wien. Ich habe hier erfahren, was anders und was gleich ist in den beiden Städten, warum es so und nicht anders ist, wie es mal war, wie es vielleicht mal sein könnte.

Ich fahre nicht zurück nach Berlin mit dem Gedanken, dass hier in Wien etwas schlechter oder besser ist. Vielmehr habe ich die Motivation weiter darüber nachzudenken, was die Belange derer sind, für die das Jugendamt da sein soll, wie junge Menschen und Eltern erreicht werden können, wie es gelingen könnte, mit Jugendhilfeträgern Hilfe zu entwickeln, die angenommen wird, ohne große Hürden, vielleicht ohne viel Papierkram und Bürokratie. Wie können Vorbehalte abgebaut werden? Wie könnte das Jugendamt vielleicht zu einer positiv besetzten Marke werden? Da sind sicher noch mehr Gedanken, die mich im Zug nach Berlin begleiten werden. In jedem Fall bin ich allen Beteiligten in beiden Städten sehr dankbar. Den Berliner Kolleginnen und Kollegen, die mich haben gehen lassen, den Wiener Kolleginnen und Kollegen, die mich aufgenommen und von ihrer Arbeit erzählt haben, und nicht zuletzt denen, die in Berlin und Wien den Verwaltungsaustausch zwischen den beiden Behörden organisiert und betreut haben. Meine vier Wochen waren toll. Es wäre schon schön, wenn sich der Europäische Gedanke weiter ausbreiten würde über die Verwaltungen Europas. Voneinander lernen, abschauen, nachfragen, mitteilen und zusammenarbeiten. Das wäre wirklich schön. Ich war und bin dabei.