Mauerfall - oder Wie ich endlich auch zur Zeitzeugin wurde
Bild: Hans Martin Fleischer
Geboren 1965 in Berlin (West) – jenseits der Mauer bekannt als Westberlin – bin ich aufgewachsen mit ihr, kannte kein Berlin ohne sie, lebte ein behütetes Leben in einer Stadt, in der es Printmedien zu kaufen gab, in denen das Wort DDR grundsätzlich in Anführungszeichen gesetzt wurde.
Zu dieser Zeit bedeuteten Reisen, seien es nun Urlaube nach „Westdeutschland“ (wozu wir auch Bayern zählten) oder Verwandtenbesuche in „den Osten“, erst mal „an der Grenze stehen“ – ob im Auto oder in der Bahn. Das war Normalität.
Besonders politisch erzogen worden bin ich nicht. Dass ich irgendwann mitten in echte Geschichte geworfen werden würde, hat lange niemand geglaubt. Für mich selbst war das lange auch gar kein Thema.
Vor 40 Jahren, am 30. 3. 1984, hob ich im EUROPA-Center (dort saß die „Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten“) die Hand zum Beamteneid und begann meine Laufbahn als Bibliotheksinspektoranwärterin (BiA) in meinem Wohnbezirk Wilmersdorf. Tatsächlich war diese Laufbahn der Situation Berlins (West) geschuldet. Junge Leute sollten „mit Sicherheit“ in der Stadt gehalten werden. Allerdings gehörte ich zum vorletzten Jahrgang, die diesen Sonderweg nehmen durften, was ich bei meiner Einstellung aber noch nicht wusste.
Ich lebte sehr bequem vor mich hin. Nach der Ausbildung wechselte ich von Wilmersdorf ans Hallesche Tor, arbeitete in der AGB (wo ich 1988 tatsächlich meinen heutigen Mann kennenlernte, einen Historiker, damals noch Student).
Danach folgte ein kleines Intermezzo im Scharoun-Bau der Stabi (West), bevor ich – am 1. Oktober 1989 – meinen Dienst am Kottbusser Tor antrat.
Und hier beginnt meine eigentliche Mauerfallgeschichte.
„Privat“ verbrachten wir seit dem Spätsommer 1989 besonders viel Zeit vor dem Fernsehgerät. Die Nachrichten „aus dem Osten“ wurden von Tag zu Tag aufregender.
Die verrückteste Geschichte für mich persönlich spielte sich tatsächlich kurz VOR dem Mauerfall ab. Mein damaliger Freund, Geschichtsstudent an der FU, und ich reisten (gemeinsam mit einigen Mitgliedern eines historischen Vereins) am Vormittag des 4. November 1989 nach Ost-Berlin ein, um dort eine Führung durch den Berliner Dom zu bekommen, inklusive Austritt mit Ausblick unter der Kuppel. Da zu DDR-Zeiten grundsätzlich nicht besonders viele Autos unterwegs waren, fiel uns die wenig befahrene Karl-Liebknecht-Straße – und auch die Ruhe insgesamt – nicht sonderlich auf.
Erst nach unserer Rückkehr am Abend und Telefonaten mit unseren aufgeregten Eltern wurde uns klar, welches Großereignis nur wenige Katzensprünge entfernt (auf dem Alexanderplatz) zeitgleich mit unserem Besuch stattgefunden hatte …
Am Abend des 9. November habe ich die legendäre Schabowski-Pressekonferenz nicht live erlebt, aber doch sehr zeitnah davon erfahren und dann die Nacht bei meinen Eltern vor dem Fernsehgerät verbracht. Mein Freund kam auch irgendwann dazu. Für mich war das alles unglaublich und surreal, trotz den vorangegangenen vielen Demonstrationen und dem Genscher-Auftritt mit Folgen in der Prager Botschaft. Tatsächlich fand ich es sogar unheimlich. Mein Freund machte sich noch in der Nacht auf zur Bernauer Straße, aber ich traute mich nicht mitzugehen. Aus der Rückschau ist das vielleicht nicht nachvollziehbar, vielleicht unverständlich. Am Abend und in der Nacht des 9. November hatte ich aber einfach Angst. Es gab ja auch noch keine mobilen Telefone. Kontaktaufnahme zu Menschen, die unterwegs waren, war ziemlich unmöglich. Die Ungewissheit, was mit meinem Freund los war und die ungläubige Freude mündeten natürlich in einer schlaflosen Nacht, in der gedanklich alles drunter und drüber ging. Gegen Mittag des 10. November tauchte der angehende Historiker kurz auf, war dann aber auch schnell wieder unterwegs.
Ich selbst und auch meine Eltern waren da zurückhaltender. Ich kann mich seltsamerweise nicht mehr an meinen ersten Grenzübertritt nach dem Mauerfall – ohne Passierschein! – erinnern. Relativ bald wurde das aber ziemlich normal, wenn auch längere Zeit von leichtem, noch immer ungläubigem Schauder begleitet.
Die unglaubliche Fülle in U-Bahnen, Supermärkten und den Straßen West-Berlins werde ich nicht vergessen – und nicht nur dort war es voll.
In meine Anfangszeit in der Bibliothek am Kotti, die ich am 1. Oktober 1989 passenderweise (aber zufällig) als „Heimatkunde“-Referentin begonnen hatte, fiel also der Mauerfall, der so auch beruflich ganz nah kam – im wahrsten Wortsinn: Von der Bibliothek lief man nur knapp 700 m bis zur Mauer. Am Ende der (West-)Adalbertstraße war unaufhörliches Mauerspecht-Klopfen zu hören – einige meiner Kolleg*innen schleppten damals Mauerstück um Mauerstück an … (Könnte sein, dass noch welche im Keller der Bibliothek lagern?). Damals fungierte die Wilhelm-Liebknecht-Bibliothek noch als „Hauptstelle“ der Stadtbücherei Kreuzberg. Die Namik-Kemal-Bibliothek (mit türkischsprachigen Medien) war noch im Bethanien am Mariannenplatz 2 untergebracht. Inzwischen sind sie zusammengelegt zur „Mittelpunktbibliothek Wilhelm Liebknecht / Namik Kemal“ geworden…
Ich erinnere mich an die Massen von blauen Personalausweisen, die ich ab November 1989 in die Hand nahm, um unsere Ost-Berliner Nachbar*innen mit Bibliotheksausweisen zu versorgen. Es bildeten sich tatsächlich lange Schlangen an unseren Auskunftstheken. „Wahnsinn!“ war das Wort dieser Tage. Ich bekam den Auftrag, täglich die Zahl der Neuanmeldungen – telefonisch! – in allen Kreuzberger Zweigstellen zu erfragen und der Amtsleitung zu melden, die dann ihrerseits an die Senatsverwaltung weitermelden durfte.
Mein „Heimatkunde“-Etat für Berlin-Bücher wurde deutlich aufgestockt, Berlin-Reiseführer (für den West-Teil) wurden zum Ausleihrenner.
Die meisten Neu-Nutzer*innen kamen aus Mitte, während wir wenig später Partnerbezirk von Prenzlauer Berg wurden. An unsere Treffen mit den Kolleg*innen in der Greifswalder Straße – am liebsten ab 7.30 Uhr – erinnere ich mich noch gut.
2001 wurde bekanntermaßen aus Friedrichshain und Kreuzberg unser schönes Friedrichshain-Kreuzberg.
Dass ich meinen Dienst seit 2015 in der Bibliothek am Frankfurter Tor ausübe, erscheint fast zwangsläufig – so sehe ich mich als Drei-Tore-Bibliothekarin, die ich ohne Mauerfall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht geworden wäre.
Text: Andrea Lindow-Bahl
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