Eine Nacht, die bis heute nachwirkt

Hans Martin Fleischer mit seinem Foto vor der Brücke an der Bornholmer Straße

1989 studierte ich Wirtschaftswissenschaften an der TU Berlin. Am 9. November hatten wir eine Willkommensparty in einem Studentenwohnheim. Meine Kommilitonen saßen in einem Nebenzimmer vor dem Fernseher, gegen 22:45 Uhr flog die Tür auf: „Die Mauer ist offen! Hat jemand ein Auto?“ Zufällig hatte ich ein Auto dabei und so kamen wir gegen 23:15 Uhr an der Bornholmer Brücke an, wenige Minuten bevor um 23:25 Uhr der letzte Schlagbaum hochging. Wir standen mehrere Stunden auf dem südlichen Brückenbogen, also schon auf DDR-Gebiet. Eine Nacht, die bis heute nachwirkt.

Den vollen Kontext der Ereignisse habe ich an dem Abend nicht erfasst. Der „Fall“ der Mauer war jedenfalls keine „Öffnung“. Die Reiseregelungen waren in erster Linie eine Maßnahme zur Ausbürgerung von DDR-Bürger*innen, um den Ausreisedruck über Drittländer zu mindern.

Nur der erste Punkt in dem Ministerratsbeschluss befasste sich mit normalen Privatreisen, ohne Genehmigung waren aber auch sie nicht möglich. Die Punkte 2, 3 und 4 thematisierten die „ständige Ausreise“. Am Anfang wurden an der Bornholmer Straße noch die Pässe ungültig gestempelt.

In der Euphorie des Abends konnten wir nicht ahnen, welche Prozesse im Hintergrund liefen. Die Führung der NVA und der Grenztruppen versetzte rund 30.000 Soldaten in „erhöhte Gefechtsbereitschaft“. Man wollte sich zumindest als Option militärische Maßnahmen offenhalten.

Dazu kam noch ein wenig beachteter kalendarischer Glücksfall. Der Jahrestag der Oktoberrevolution in Russland – nach dem gregorianischen Kalender eine „Novemberrevolution“ – fiel 1989 auf einen Dienstag, den 7. November. Der Rest der Woche war damit gelaufen, alle höheren Entscheidungsträger waren am Donnerstagabend des 9. November nicht erreichbar.

Boris Snetkow, der oberkommandierende General der Westgruppe der Roten Armee in der DDR hatte seinen Kollegen von der NVA nur wenige Wochen vor dem 9. November zugesichert, im Fall der Fälle würde die Sowjetarmee fest an der Seite der Streitkräfte der DDR stehen. Nach seiner Entlassung gehörte er im August 1991 zu den Unterstützern des Putsches gegen Gorbatschow.
An negativen Ideen, von der Ausbürgerung bis hin zum Einsatz von Militär, hat es an diesem 9. November also nicht gemangelt.

Dem haben Hunderttausende friedlich etwas entgegengesetzt, was nicht zu überwinden war.

Text: Hans Martin Fleischer

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