„Für die Szene bin ich der Mensch, der hilft.“

Jacqueline van der Heyden

Den Kotti kennt jede*r – in Berlin und auch im Rest der Republik. Er ist berühmt-berüchtigt. Für einige gilt er als ein Angstraum, für andere ihr Szene-Treffpunkt. Für Jacqueline van der Heyden ist das Kottbusser Tor ihr Arbeitsplatz. Die Sozialarbeiterin ist seit 2019 beim Fixpunkt e.V beschäftigt und als Teil eines Teams im Auftrag des Bezirksamtes in der Gemeinwesensbezogenen Sozialarbeit dort und rund um den Görlitzer Park unterwegs. Im Mai 2023 startete das Projekt in seiner aktuellen Form, damals finanziert aus den Kotti-Sondermitteln. Seit diesem Jahr wird die gemeinwesenbezogene Sozialarbeit mit Geldern aus dem Lenkungsgremium für mehr Sicherheit und Sauberkeit und zur Vermeidung von Sucht und Obdachlosigkeit finanziert.

Kottbusser Tor Südseite

Gemeinwesensbezogene Sozialarbeit rund um Kotti und Görli

Das Konzept hinter der gemeinwesensbezogenen Sozialarbeit ist, dass nicht nur mit der Szene selbst gearbeitet wird, sondern auch mit dem Umfeld. Es gehe darum, einen Blick aufs Gemeinwesen zu haben und in beide Richtungen für Verständnis zu werben – für die Nachbarschaft, aber auch für die Szene. Jacqueline sieht sich als Vermittlerin. Außerdem sei es ihre Aufgabe, Bedarfe im Umfeld zu erkennen und herauszufinden, wo es hake. Dafür kooperiert ihr Team mit anderen sozialen Trägern. Außerdem bietet sie Workshops zum Umgang mit der Szene an, für die Mitarbeiter*innen der Berliner Stadtreinigung, die rund um das Kotti die Straße reinigen. Auch mit den Teams des FHXB-Museums und der Mittelpunktbibliothek hat sie schon Workshops durchgeführt.

Die Sozialräume, in denen Jacqueline und ihre Kolleg*innen aktiv sind, liegen alle in SO36. Untersucht werden sollte ursprünglich auch, ob es Verdrängungseffekte durch die Kotti-Wache gibt. Jacqueline und ihre Kolleg*innen beobachten die „Szene“, wie sie sie nennen. Gemeint sind Menschen mit Suchterkrankungen. „Die Szene ist sehr mobil und verschiebt sich immer mal wieder.“ Über Anwohnerbeschwerden erhält das Team aktuelle Informationen, wo sich die Szene aufhält. Neben dem Schwerpunkt am Kottbusser Tor ist auch der Platz ohne Namen an der Falckensteinstraße ein Treffpunkt der Szene. Beschwerden der Anwohner*innen erhalten die Sozialarbeiter*innen über die bezirkliche Suchtbeauftragte, die diese über die App „Ordnungsamt Online“ und weitere Kanäle erreichen. Viele Menschen aus der Nachbarschaft wenden sich bei Fragen und Anliegen auch direkt an Fixpunkt e.V.

Görlitzer Park

Vielfältige Szene

Wie groß die Szene ist, die Jacqueline und ihre Kolleg*innen betreuen, ist schwer zu sagen. Belastbare Zahlen gibt es nicht, zumal die Szene so beweglich ist. „Mal kommen sie hierher, mal ziehen sie weiter.“ Gibt es an einer Stelle in der Stadt oder im Bezirk repressive Maßnahmen, zieht die Gruppe weiter. Viele, mit denen Jacqueline heutzutage in Kreuzberg arbeitet, kennt sie von ihrer früheren Tätigkeit im Wedding. Alle Zahlen sind Schätzungen. „Aber es sind Hunderte.“ Das Altersspektrum reicht von 15 bis über 70. Für die Betreuung der Jugendlichen unter 20 kooperiert Fixpunkt mit dem Träger Gangway, der auf Jugendarbeit spezialisiert ist.

Der Männeranteil sei deutlich höher als der Frauenanteil. Aber es gebe auch Frauen unter den drogensüchtigen Personen, am Kotti weniger, am Görli dafür mehr. Seit dem Winter hat sich eine Jugendszene entwickelt. Unter diesen jungen Leuten sind unter anderem unbegleitete minderjährige Geflüchtete, aber auch andere Gruppen. Die Szene sei sehr vielfältig. „Da sind alle Nationalitäten und alle Kulturen dabei. Es gibt Leute, die noch arbeiten gehen und nachmittags hierherkommen. Das ist zwar selten, aber auch das gibt es.“

Die Verfügbarkeit der verschiedenen illegalen Substanzen verändert sich immer mal wieder. Aktuell ist Kokain deutlich verfügbarer als Heroin. Viele Menschen auf der Szene haben polytoxe Konsummuster. Das bedeutet, dass Unterschiedliche Substanzen konsumiert werden. Auch Medikamentenmissbrauch ist in der Szene weit verbreitet.

Ein großer Teil derer, mit denen Jacqueline zusammenarbeitet, haben keinen Zugang zum deutschen Sozialsystem, zum Beispiel, weil sie keinen Aufenthaltsstatus haben. Dazu gehören auch Staatsbürger*innen anderer EU-Länder, für die die Freizügigkeit nicht mehr gilt – beispielsweise, weil sie in Deutschland im Gefängnis waren. „Denen kann ich keine Angebote machen.“ Das sei für die Sozialarbeiter*innen herausfordernd und frustrierend.

Kottbusser Tor

"Die meisten hier kennen mich."

Die generelle Fragestellung des gemeinswesensbezogenen Ansatzes ist: Wie können wir die Situation verbessern? Das gelte sowohl für die Szene als auch für Anwohner*innen und andere Betroffene. Für die drogengebrauchenden Menschen sind das medizinische Versorgung oder die Bereitstellung von Kleidung oder der Zugang zu Duschen, aber auch Unterstützung bei der Bürokratie. Dazu gehören das Beantragen eines neuen Ausweises, das Ausfüllen von Anträgen, die Vermittlung an eine Schuldnerberatung, Informationen zur Grundsicherung oder anderen Sozialleistungen. „Einfach alles, was so anfällt.“ Für viele dieser Leistungen und Angebote sei für die Menschen aus der Szene der Zugang erschwert. Gerade zum deutschen Sozialsystem leiste Jacqueline viel Aufklärungsarbeit. „Im Zweifel begleite ich die Leute auch ins Amt, aber eigentlich arbeite ich mit einem empowernden Ansatz. Wenn ich den Eindruck habe, sie bekommen das auch selbst hin, schicke ich sie allein.“ Einige Klient*innen hätten allerdings große Vorbehalte oder Ängste.

Dreimal pro Woche ist Jacqueline für jeweils drei Stunden lang im Streetwork-Einsatz, um zu schauen, wie es der Szene vor Ort geht. Zweimal die Woche ist sie rund um den Kotti unterwegs und einmal im und am Görli. Ein weiteres Team ist an anderen Tagen vor Ort, sodass die Sozialarbeiter*innen jeweils dreimal pro Woche in den beiden Sozialräumen tätig sind. Im Winter verlagere sich viel in die U-Bahnhöfe. Bei diesen Einsätzen ist sie zu Fuß unterwegs. „Wir stehen dann hier am Kotti. Wir beobachten und quatschen und schauen, wie die Situation ist.“ Je nach aktueller Lage plant sie auch kurzfristig um. Der Job erfordere eine hohe Flexibilität.

„Die meisten hier kennen mich.“ Das gelte sowohl für die Szene als auch für die Nachbarschaft. Auch Anwohner*innen, Gewerbetreibende und Aktive aus Projekten sprechen die Sozialarbeiterin regelmäßig an.

Ihre Kernarbeitszeit liegt zwischen 9 und 17 Uhr. Aber wenn eine Begleitung zum Zahnarztbesuch ansteht, ist sie auch schon um 8 Uhr dabei. Zusätzlich macht sie mit den Kolleg*innen jede Woche eine Tour mit dem Rad und steuert auch den Moritzplatz, den Mariannenplatz und den Böcklerpark. Immer mit dabei ist ihre rote Fixpunkt-Umhängetasche, an der sie einerseits gut erkannt wird und in der andererseits ein umfangreiches Equipment verstaut ist. Dazu gehören Konsumutensilien sowohl für das Spitzen als auch für das Aufkochen von Crack, ein Notfallset für Überdosen, Feuerzeuge, Zahnbürsten, Lippenpflegestifte und Rasierer, aber auch eine Zange und ein Spritzenabwurfbehälter. „Den nutze ich aber nicht so viel. Sonst würde ich nichts anderes mehr machen.“ Hierfür gibt es im Bezirk verschiedene andere Projekte und Akteure, beispielsweise das Peer-Projekt oder die Kiezhausmeister.

Platz ohne Namen

Nach jeder Streetwork-Einheit fertigt Jacqueline einen Bericht mit einer Statistik zu den Kontakten, Beratungen und Themen. Zwischen Projektbeginn im Frühjahr und Ende Juli hatte das Team im Sozialraum Görlitzer Park 542 Kontakte gesamt. 24 Beratungen und sechs Vermittlungen in weiterführende Hilfen wurden durchgeführt. Im Bereich des Kottbusser Tors liegen die Zahlen deutlich höher: Dort waren es im gleichen Zeitraum 4.449 Kontakte, 515 Beratungen und 388 Vermittlungen in weiterführende Hilfen.

Für ihre Arbeit benötigt die Sozialarbeiterin viel Unterstützung durch Sprachmittler*innen. Häufig ist sie mit einer Kollegin unterwegs, die ebenfalls Sozialarbeiterin ist und arabisch spricht. Jacqueline selbst spricht Englisch und ein bisschen Französisch. Die weiteren Sprachen, die im Umgang mit der Szene, gebraucht werden, sind russisch und spanisch. Hier arbeitet das Team der gemeinwesensbezogenen Sozialarbeit auch mit den Kolleg*innen aus dem Gesundheits- und Sozialzentrum am Kotti zusammen, die einige weitere Sprachen abdecken können. Wenn Jacqueline rund um das Kottbusser Tor unterwegs ist, hat sie generell jemanden zum Übersetzen dabei.

Auch die Gremienarbeit ist ein wichtiger Teil von Jacquelines Job. Sie ist Teil der Praktikerrunde für den Görlitzer Park und der Präventionsrunde Kotti. Dort werden Informationen unterschiedlicher Akteure zusammengetragen und erörtert. „Wir tauschen uns alle untereinander aus und gucken gemeinsam, dass es besser wird.“ Bei regelmäßigen Treffen mit der bezirklichen Planung und Koordinierung bespricht sie mit der bezirklichen Suchthilfekoordinatorin weitere Bedarfe.

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Beiträge zu den anderen Projekten, die mit Mitteln aus dem Sicherheitsgipfel finanziert werden

Beitrag über das mobile Toiletten-Team
Beitrag über das Peer-Projekt von Fixpunkt