1.000 Spritzen sind nur die Spitze des Eisbergs - Warum das Peer-Projekt wichtig und nötig ist

Projektleiter Philipp Kreutzer und Sozialarbeiter Florian Baumgärtner vor dem Eingang des freien Trägers Fixpunkt gGmbH

Projektleiter Philipp Kreutzer und Sozialarbeiter Florian Baumgärtner vor dem Eingang des freien Trägers Fixpunkt gGmbH

Auf den ersten Blick sieht der Kreuzberger Oranienplatz aufgeräumt und sauber aus. Doch es täuscht, denn an der Ecke zur Dresdener Straße macht sich an diesem Mittwochvormittag eine kleine Gruppe Menschen für einen besonderen Einsatz bereit: Fünf Menschen, sie tragen gelbe Westen, gelb-rote Eimer und lange Greifarme. Sie kennen die Drogenszene aus eigener Erfahrung und wissen genau, wo sie gebrauchte Spritzen und Nadeln, infektiöse Konsumrückstände finden und einsammeln können, um sie am Ende des Tages fachgerecht zu entsorgen.

Seit im April 2024 durch das Bezirksamt das Peer-Projekt aus Mitteln des Sicherheitsgipfels in Kreuzberg gestartet wurde, hat sich nicht nur das Leben der 16 Teilnehmer*innen, zwischen Anfang 20 und Anfang 60 Jahre alt, ein Stück weit geändert. Insgesamt haben sie bis Ende September mehr als 17.000 gefährliche infektiöse Gegenstände eingesammelt, die der alltägliche Drogenkonsum auf öffentlichen Plätzen und in den Parkanlagen nach sich zieht.

Das Wort Peer kommt aus dem Englischen und bedeutet „gleichgestellt“. In der Schule bedeutet es, dass ältere Schüler*innen den jüngeren hilfreich zur Seite stehen. In Kreuzberg steht es für ein niedrigschwelliges Projekt für Beschäftigung und Tagestruktur, das der Zielgruppe die Möglichkeit auf Zuverdienst bietet, während in der Gruppe erlerntes Wissen weitergetragen wird.

Mit Weste, Greifarm, stichfesten Schuhen und einem speziellen Sammeleimer ausgestattet, zeigt Fixpunkt-Mitarbeiter Martin Krätzer, worauf es bei der Suche ankommt

Mit Weste, Greifarm, stichfesten Schuhen und einem speziellen Sammeleimer ausgestattet, zeigt Fixpunkt-Mitarbeiter Martin Krätzer, worauf es bei der Suche ankommt

Angemessene Bezahlung des Arbeitseinsatzes

Philipp Kreutzer (34) ist der Projektleiter des freien Trägers Fixpunkt gGmbH: „Im Frühling haben wir begonnen, suchmittelabhängige oder -gefährdete Teilnehmer für dieses Projekt zu akquirieren. Entscheidend ist dabei, dass wir die Arbeit mit 12,50 Euro pro Stunde angemessen entlohnen.“

Über die benachbarten Konsumräume am Kottbusser Tor und in der Reichenberger Straße wurde nach geeigneten Personen Ausschau gehalten. Auch wenn es sich um ein niedrigschwelliges Angebot handelt, für das weder Berufsausbildung noch ein Schulabschluss nötig ist, muss ein Peer zum Beispiel stark genug und in der Lage sein, auch mit schwierigen Situationen umzugehen, die beim Spritzensammeln auftreten können, beispielsweise, wenn sie akut konsumierende Personen antreffen.“

„Mit allen Interessenten haben wir über die Pflichten und Aufgaben gesprochen, und sind mit ihnen mögliche Perspektiven, die das Peer-Projekt verspricht, durchgegangen. Mit der Zustimmung aller 16 Teilnehmenden sind wir mit ihnen gestartet“.

Im Rahmen der Projekt-Teilnahme erfolgte zunächst eine Arbeitssicherheitsuntersuchung, bei der die Peers die Möglichkeit haben ihren Impfstatus überprüfen und sich gegebenenfalls immunisieren zu lassen. „Das ist beim Umgang mit den infektiösen Fundstücken unumgänglich. „Darüber hinaus werden die Teilnehmenden für Wichtigkeit der eigenen Gesundheitsvorsorge sensibilisiert“, so der Projektleiter.

Auch von hinten weist die warngelbe Weste darauf hin, dass im Auftrag des freien Trägers Fixpunkt gGmbH gesammelt wird

Auch von hinten weist die warngelbe Weste darauf hin, dass im Auftrag des freien Trägers Fixpunkt gGmbH gesammelt wird

Projekt-Teinehmer*innen erhalten umfassende Schulungen

Zudem sorgt Fixpunkt für die Ausstattung: Jede*r Teilnehmer*in erhält ein Paar stichfeste Sicherheitsschuhe, einen Greifarm mit Magnetverstärkung (damit auch einzelne oder gebrochene Spritzenkanülen aufgenommen werden können) und einen gelb-roten Eimer zum Entsorgungstransport der Fundstücke.

„Zur Grundausstattung gehört auch unsere gelbe Warnweste, die im vorderen Bereich wie auch auf dem Rücken, gut sichtbar auf die Mitarbeit bei Fixpunkt hinweist. Mit dem Tragen dieser Weste werden unsere Leute auf der Straße sichtbar, und sind ansprechbar für alle, denen sie beim Einsammeln begegnen. Damit stehen sie draußen auch für unsere Werte ein, was für die Teilnehmer eine neue, verantwortungsvolle Situation ist. Denn als normaler Konsument werden Betroffene in der Regel übersehen.“

Das Projektteam stehe auch als Ansprechpartner für Anwohner*innen, Gewerbetreibende und Institutionen beratend zur Verfügung, erklärt Philipp Kreutzer: „Wir besuchen bei Bedarf Schulen und Kitas, wenn dort Fragen auftauchen, wie sie am besten mit Spritzenfunden oder konsumierenden Personen umgehen können. Wir beraten und sprechen uns mit den Verantwortlichen genau ab.“

Bevor es zum Einsatz kommt, muss jede*r, die*der mitmachen möchte, ein Erste Hilfe-Training absolvieren. Hier gibt es auch eine Extra-Schulung über Erste Hilfe bei Drogenunfällen. Denn in der Praxis an besonders belasteten Orten kommt es mitunter auch zu Notfällen wie einer Überdosis. Da ist es klar, dass die Mitglieder der Gruppe im Notfall helfen müssen.

Diese Spritze mit Kanüle wird im verschließbaren Spezial-Eimer entsorgt

Diese Spritze mit Kanüle wird im verschließbaren Spezial-Eimer entsorgt

Die neue Aufgabe tut gut

Ganz wichtig und über die Arbeit hinaus in allen Lebensbereichen anwendbar ist das Deeskalationstraining, das die Teilnehmer*innen durchlaufen. Hier werden Situationen nachgestellt und besprochen, die während der Rundgänge mit Konsumierenden oder auch Anwohner*innen entstehen können. Die Teilnehmenden können sich ein Bild machen, üben und für sich die beste Lösung finden, wie sie schwierige Situationen angehen können.

Florian Baumgärtner (30) ist Sozialarbeiter bei Fixpunkt. Er begleitet die neuen Peers in der Anfangsphase und leitet sie an: „Wir haben festgestellt, dass unsere Teilnehmer an den neuen Aufgaben wachsen. Die neue Aufgabe, die sie im Rahmen des Peer-Projekts übernehmen tut ihnen gut. Außerdem hilft ihnen der Zuverdienst bei der Alltagsbewältigung.“

In der Gruppe gibt es feste Regeln: Pünktlichkeit ist selbstverständlich, denn einmal in der Woche treffen sie sich, um dreieinhalb Stunden auf unterschiedlichen Routen Drogenspritzen und Nadeln einzusammeln. An drei Tagen in der Woche ist jeweils eine andere der drei Teilgruppen unterwegs. In der Gruppe, die zwischen zwei und fünf Personen umfasst, gibt es keine Alleingänge an versteckte Orte hinter Hecken oder Mauern. Hier wird stets zu zweit vorgegangen.

Trifft die Gruppe auf eine in dem Moment konsumierende Person, wird diese respektvoll in Ruhe gelassen, bis sie den Konsumvorgang beendet hat. Darüber hinaus erklären sie den konsumierenden Personen, wo sie ihre Konsumutensilien sicher entsorgen können, beantworten Fragen und geben Hinweise. „Dadurch, dass unsere Peers selbst aus der Szene kommen, haben sie ein spezielles Wissen und auch einen besseren Zugang zu konsumierenden Menschen. Die Motivation in der Gruppe besteht zu einem großen Teil darin, etwas Sinnvolles an die Gemeinschaft zurückzugeben.“

Schon nach wenigen Metern füllt sich die Liste mit Strichen. Jedes Fundstück wird vermerkt bevor es fachgerecht im Spezial-Eimer entsorgt wird

Schon nach wenigen Metern füllt sich die Liste mit Strichen. Jedes Fundstück wird vermerkt bevor es fachgerecht im Spezial-Eimer entsorgt wird

Positive Rückmeldungen

Ganz wichtig sei das wachsende Bewusstsein der Selbstwirksamkeit der Teilnehmer*innen. „Plötzlich bekommen sie positive Rückmeldungen während der Tour – aus der Gruppe, aber auch von außen, wenn ihnen zum Beispiel Fremde zurufen, dass es super sei, was sie dort machen.“
So läuft das Peer-Projekt bisher gut: Kaum Ausfallquote und die Warteliste füllt sich mit Menschen, die ebenfalls suchtmittabhängig oder -gefährdet sind, und mitmachen wollen.

Draußen am Erkelenzdamm steht Martin Krätzer (57), seit 2009 als Anleiter bei Fixpunkt angestellt, an der kleinen Mauer die den Park umzäunt. Im Rahmen seiner Tätigkeit unterrichtet er bei Fixpunkt verschiedene Computerkurse, ist Spezialist für Transferdruck, und leitet ebenfalls Menschen an, infektiöse Konsumrückstände zu finden und zu bergen, damit sie fachgerecht entsorgt werden können.

Bekleidet mit Weste, Eimer und Greifarm erklärt er eine Liste, die an einem Klemmbrett haftet: „Das ist eine unserer Sammel-Routen, die unsere Teilnehmer laufen. Fünf besonders belastete Orte, die wir nach und nach ablaufen. Pro Runde benötigen wir etwa 3,5 Stunden.“

Die Sammelorte dieser Route sind: der Erkelenzdamm, der Verkehrsgarten am Oranienplatz, der Wassertorplatz, die Mittelinsel am Kotti, der Bereich an der Sparkasse am Kotti und rund um den Konsumraum am Kottbusser Tor.

Martin Krätzer: „Das sind alles Orte, die stark frequentiert und besonders belastet sind. Hier finden wir im Monat etwa 1000 Spritzkörper, die jedoch nur einen Bruchteil des tatsächlichen Aufkommens sind. Die meisten der Konsumenten entsorgen ihr Equipment selbst, auch wenn es oft nicht so aussieht.“

Die Liste der Fundstücke ist unterteilt in Kanüle ohne Schutzkappe, Kanüle mit Schutzkappe und Spritzenkörper. Jeder Fund entspricht einem Strich auf der Liste. Zudem wird vermerkt, wie viele Konsument*innen angetroffen wurden, und ob man Gewerbetreibende oder Polizei getroffen hat.

Martin Krätzer: „Wir notieren alle wichtigen Daten auf der Tour. Ich erkläre den Teilnehmenden, was wir suchen und wie wir es finden. Und ganz wichtig: wie wir die Fundstücke behandeln, ohne uns selbst daran zu verletzen. Das Auge muss sich erst einmal daran gewöhnen, um an den Rändern des Platzes, im Schutze der Büsche, Verbrauchsmaterialien von normalem Müll optisch zu filtern. Grundsätzlich verwenden alle den Greifer, wenn sie dort Spritzkörper oder Kanülen anheben. Mit der Hand wird nichts angefasst.“

Schon von weitem sind die bunten Spritzen zu erkennen, die neben Alkoholtupfern und leeren Natron-Ampullen achtlos weggeworfen wurden

Schon von weitem sind die bunten Spritzen zu erkennen, die neben Alkoholtupfern und leeren Natron-Ampullen achtlos weggeworfen wurden

Nötig und wichtig

Zwischen Ansammlungen von Alkoholtupfern, blutigen Tüchern, leeren Natron-Behältnissen liegen zahlreiche gebrauchte Spritzen in bunten Farben auf dem Boden. Farbig in Rosa, Blau, Gelb oder Grün, damit die Konsument*innen erkennen, dass es sich um Never-Share-Spritzen handelt, die man nicht mit anderen teilen darf. Nach einiger Zeit sind die herumliegenden Spritzen schon von weitem sichtbar auf dem Boden zu sehen.

An der nächsten Station, am Wassertorplatz erschwert sich die Suche, da die auf Hügeln angelegten Büsche zeitgleich als Toilette und Unterschlupf dienen und mittendrin im Dickicht auch noch ein Zelt aufgestellt wurde.

Martin Krätzer: „Hier ist es alles andere als angenehm zu sammeln, aber weil das Grünflächenamt hier gerade alles reinigen ließ, geht es. Auch hier, zwischen den dicht bewachsenen Büschen, wird alles von unseren Teilnehmern abgesucht. Besonders starke Vermüllungen melden wir per Foto beim Amt, dann gibt es Sonderreinigungen.“

Auf der Tour wird klar, wie nötig und wichtig Projekte wie diese sind. Für die Teilnehmer*innen wie auch für das Umfeld.

———————————————————————————————————————————-
Beiträge zu den anderen Projekten, die mit Mitteln aus dem Sicherheitsgipfel finanziert werden