2. Analyse: Akten- und Interviewstudie

Das Forschungsteam führte im ersten Teil des Projektes eine umfangreiche Aktenanalyse und eine multiprofessionelle Interviewstudie durch, um Erkenntnisse zu „Gewalt in der Pflege“ zu gewinnen. Hier finden Sie eine Auswahl an ersten Ergebnissen.

1. Aktenstudie:

Ein wesentlicher empirischer Ausgangspunkt des Projektes ist eine Analyse justizieller Akten der Staatsanwaltschaft bzw. Amtsanwaltschaft Berlin zu 354 Fällen von Gewaltvorkommnissen zum Nachteil pflegebedürftiger Menschen ab einem Alter von 60 Jahren, die im Zeitraum 2016 bis 2018 von der Polizei Berlin bearbeitet wurden. Ziel dieser Hellfeldanalyse ist es, Kenntnisse über die Prozesse der Opferwerdung älterer Pflegebedürftiger, die Besonderheiten und Herausforderungen der Ermittlungsarbeiten in diesem Feld sowie den Verlauf und Ausgang des juristischen Verfahrens zu erlangen.

Deliktsspektrum

Polizei und Justiz sind immer wieder mit Straftaten zum Nachteil Pflegebedürftiger befasst, auch wenn die Fallzahlen im Verhältnis zur Allgemeinkriminalität noch vergleichsweise gering sind.
In der folgenden Abbildung wird dargestellt, welche Deliktsgruppen wie häufig im Rahmen der Stichprobe vorkamen.

Deliktspektrum
  • Opfer (n=354)

    Namentlich bekannte Tatverdächtige (n=291)

    • Alter von 60 bis 101 Jahren
    • durchschn. Lebensalter 78 Jahre
    • 64% weiblich, 36% männlich
    • Alter von 22 bis 90 Jahren
    • durchschn. Lebensalter 55 Jahre
    • 39,5% weiblich, 60,5% männlich
  • Vulnerabilitäts- und Belastungsindikatoren:

    • 64% kognitive, neurologische, psychische Erkrankungen (vor allem Demenz)
    • 52% Mobilitätseinschränkungen
    • 25% krankheitsbedingte Kommunikationsbeeinträchtigungen
    • 39% persönliche Belastungen (Gesundheitsprobleme, Konflikte, akute (Arbeits-) Überlastung)
    • 34% pflegebedürftig nach SGB XI
    • 29% kognitive, neurologische, psychische Erkrankungen
Tatorte

Tatorte und Wohnsituation der Opfer

Wird der Blick auf die Wohnsituation gerichtet, ist zu erkennen, dass die Betroffenen zum Tatzeitpunkt zu gleichen Teilen (jeweils 44%) in Einrichtungen oder Privathaushalten lebten. Nach Angaben der deutschen Pflegestatistik wurden zum Jahresende 2019 (Statistisches Bundesamt 2020) jedoch 77% der pflegebedürftigen Personen ab 60 Jahren in der eigenen Häuslichkeit versorgt. So könnte die aus unserer Stichprobe hervorgehende Gleichverteilung der Wohnsituation der Opfer entweder darauf hinweisen, dass in Einrichtungen mehr Taten passieren oder begangene Taten in Einrichtungen häufiger zur Anzeige gelangen und das Dunkelfeld im Bereich der häuslichen Pflege als entsprechend groß anzunehmen ist.

Täter-Opfer-Beziehung

Beziehung zwischen den Opfern und Tatverdächtigen:

In dem häuslichen Pflegesetting spielen auch vorbelastete persönliche Beziehungen sowie die spezifische Pflegesituation eine Rolle, die zu wechselseitigen Aggressionen führen können. Auch Taten durch Fremde kommen vor.

Verfahrensgang
Kenntnis von den Taten erlangt die Polizei vor allem durch Personen aus dem opfernahen Umfeld. Die häufigsten Hinweisgeber:innen waren hierbei Angehörige oder beruflich bzw. ehrenamtlich Pflegende. In seltenen Fällen erfolgt eine Selbstanzeige durch die Tatverdächtigen. Auf die Anzeigenerstattung folgte ein breites Repertoire an polizeilichen Ermittlungsmaßnahmen. Am häufigsten wurden Befragungen bzw. Vernehmungen durchgeführt, Zeugen ermittelt oder Spuren gesichert.

In der nachfolgenden Abbildung ist der Verfahrensausgang dargestellt:

Täter-Opfer-Verfahrensausgang

Zu Verurteilungen kommt es bislang selten. Die Mehrzahl der Verfahren wird durch die Staatsanwaltschaft / Amtsanwaltschaft eingestellt, dies vor allem wegen nicht hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO).

2. Interviewstudie:

Der zweite empirische Ausgangspunkt des Projektes ist eine Interviewstudie. Ergänzend zur Aktenstudie wurden 64 Interviews mit Expert:innen aus verschiedenen Bereichen des Handlungsfeldes geführt, um weitere Facetten des Phänomens „Gewalt in der Pflege“ zu beleuchten. Die Interviews geben Aufschluss über Gefährdungspotentiale, Viktimisierungsrisiken und hiermit in Verbindung stehende kriminogene und protektive Faktoren. Zudem wurden die Expert:innen zu den Optimierungsbedarfen der Kenntniserlangung und Zugangs- und Kontrollmöglichkeiten im Bereich der Pflege und der bisherigen Zusammenarbeit der beteiligten Akteur:innen befragt. Analysen des Interviewmaterials zeigen, dass aus Sicht der Interviewten Gewalttaten gegenüber Pflegebedürftigen wahrscheinlicher werden, wenn folgende Bedingungen vorliegen:

  • Täterseitige…

    • Überforderung
    • unzureichende Qualifikation
    • Rollenkonflikte
    • fehlende Inanspruchnahme von Beratungs-/Entlastungs-/Unterstützungsangeboten
    • fehlende Ansprechpartner:innen

    Opferseitige…

    • kognitive, psychische und körperliche Einschränkungen
    • herausfordernde Verhaltensweisen
    • Abhängigkeitsverhältnis zur versorgenden bzw. pflegenden Person/Einrichtung
  • Beidseitige…

    • wechselseitige Gewalt
    • soziale/räumliche Isolation
    • Vorbelastete (familäre) Beziehungen
  • … in Einrichtungen

    • Organisationsstrukturen
    • strukturelle Rahmenbedingungen wie Arbeitsbedingungen, Personalschlüssel

Demgegenüber werden von den Expert:innen folgende Handlungsansätze als gewaltpräventiv und die Wahrscheinlichkeit einer Gewalttat vermindernd erlebt:

  • Förderung sozialer Teilhabe von pflegebedürftigen Menschen
  • Aufbau eines unterstützenden Pflegenetzwerks informell Pflegender
  • Inanspruchnahme von Beratungs-, Hilfe- und Unterstützungsleistungen Pflegender
  • Bildung und Sensibilisierung von formell und informell Pflegenden
  • Reflexionsprozesse im Hinblick auf die eigenen Handlungen formell Pflegender
  • Implementation einer institutionellen Handlungsleitlinie zum Umgang mit Gewalt
  • (Fort) Entwicklung einer Kommunikations- und Fehlerkultur

Ferner geben die Interviews Hinweise auf Probleme und Optimierungspotentiale in Bezug auf die polizeiliche Kenntniserlangung. Diese wird nicht nur durch die Anzeigebereitschaft, sondern auch durch die Tatentdeckungsmöglichkeiten beeinflusst (siehe Grafik).

ablauf Polizeiliche Kenntniserlangung

Hinzu kommt bei informell Pflegenden eine Handlungsunsicherheit im Hinblick auf die pflegerische Versorgung und den Umgang mit krankheitsbedingten Veränderungen der pflegebedürftigen Menschen sowie die Tatsache, dass viele nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen und wer adäquate Ansprechpartner:innen sind.

Hinsichtlich potentieller Hindernisse der polizeilichen Ermittlungsarbeit in Fällen von Gewalt zum Nachteil pflegebedürftiger Menschen nennen die befragten Expert:innen für die Bereiche Tatnachweis und Täteridentifikation folgende Faktoren:

  • Fehlende Sichtbarkeit von Tatfolgen
  • Schwierigkeit der Unterscheidung von Gewaltfolgen und Folgen von (Mehrfach-) Erkrankungen
  • fehlende Tatzeug:innen
  • unbekannte Tatverdächtige
  • wechselndes Personal in der Versorgung pflegebedürftiger Menschen in (teil)-stationären Einrichtungen sowie in ambulanten Pflegediensten
  • Quantität und Qualität der Pflegedokumentation
  • krankheitsbedingte Einschränkungen des Opfers, die die Aussage- und Vernehmungsfähigkeit beeinträchtigen

Um den genannten Herausforderungen begegnen zu können ist…

… eine Sensibilisierung und Spezialisierung durch Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Polizeibeamt:innen und Mitarbeiter:innen aus dem Handlungsfeld erforderlich. … die Sensibilisierung für das Phänomen “Gewalt in der Pflege” im Rahmen von (polizeilicher) Öffentlichkeitsarbeit zu fördern. … die Etablierung von zusätzlichen Kontrollmöglichkeiten und kommunalen Strukturen der Gewaltprävention förderlich.

Ebenso können Aufklärungsangebote durch die Polizei die Rechts- und Handlungssicherheit unter anderem der formell und informell Pflegenden stärken. Hinzukommt die Notwendigkeit zur Verbesserung der Rahmenbedingungen zur Versorgung von pflegebedürftigen Menschen. Ein wichtiges Optimierungspotenzial wird darüber hinaus in der engen und nachhaltigen Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteur:innen im Handlungsfeld Gesundheit und Pflege in Form eines Netzwerkes gesehen, in dem Prozesse abgestimmt und fortlaufend optimiert werden.

Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung

 
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