- Mai 2019
Es war die große Liebe.
Ich: Medizin-Studentin an der Humboldt-Universität im Osten.
Er: IBM-Ingenieur im Westen Berlins.
Ich hatte das Glück, mit Hilfe meines Freundes auch den Westteil der Stadt kennenzulernen. Doch während eines Urlaubs an der Ostsee wurde die Mauer gebaut. Mit meinem Freund konnte ich mich nicht mehr treffen. Trotzdem: An der Universität bekam ich seinetwegen zunehmend Probleme. Sie gipfelten in der Vorladung vor einen Parteiausschuss.
Die lakonische Mitteilung: „Hier gibt es doch genug Männer. Wenn Sie den Kontakt zum Klassenfeind aufrechterhalten, können Sie nicht mehr an einer Arbeiter- und Bauern-Universität studieren. Wir schicken Sie dann aufs Land, wo Sie Zuckerrüben ernten können.“
Mein Freund bastelte inzwischen an einer Möglichkeit zur Flucht. In Michendorf schob mich mein Fluchthelfer in den Kofferraum eines gemieteten VW-Pritschenwagen. Die Flucht gelang! Obwohl der Kofferraum an der Grenze ausgeleuchtet wurde, bemerkte man mich hinter einer gebastelten Wellblechwand nicht.
An der Freien Universität studierte ich problemlos weiter. Zu meinem großen Glück klingelte es wenig später an meiner Tür – meine Mutter stand vor mir. Auch ihr und meiner Schwester war die Flucht zusammen mit der Familie gelungen. Aber bedauerlicherweise verstarb mein inzwischen Verlobter kurz darauf und viel zu früh.
Am 9. November 1989 joggte ich mit einem Lauffreund durch den Grunewald. Auf dem Weg von der Arbeit an der Technischen Universität hatte er im Radio gehört, dass die Grenze auf sein soll. Wir verkürzten unsere Strecke, fuhren verschwitzt ans Brandenburger Tor und erlebten das Unfassbare: Durch das Tor wälzte sich in beiden Richtungen eine riesige aufgeregte Menschenmenge.
Die wenigen, an der Straßenseite stehenden Vopos hatten sich teilweise umgedreht oder lächelten uns verlegen an. Die riesige Menschenmenge schob uns vorwärts, immer weiter in Richtung Rotes Rathaus.
„Kommen wir auch wieder zurück?“ lautete meine bange Frage. „Was ist, wenn die Grenze wieder geschlossen werden. Wir haben keine Papiere bei uns“. Aber sie wurde nicht, sie blieb offen.
In dieser Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Aus irgendeinem Grund war ich, als die Mauer noch stand, nach Ost-Berlin gereist und hatte keine Papiere bei mir, die mich als Bürger des Westens hätten ausweisen können. Folglich musste ich ab sofort in der DDR bleiben. Dieser Traum verfolgte mich anschließend noch jahrelang, allerdings in abnehmender Frequenz.
Wenn mich gelegentlich noch heute dieser Albtraum heimsucht, habe ich beim Aufwachen keine Panikattacken mehr, sondern muss herzhaft lachen. Denn es gibt keine DDR mehr, keinen Staat in Deutschland, der mich nach meiner Einreise festhalten könnte. Es gibt nur noch ein wiedervereintes Land, meine Heimat, welches sich Deutschland nennt.