- September 2019
Es war eine Reise ins Ungewisse. Niemand konnte das Ende vorhersehen.
- Start: 4. November 1989, gegen 6 Uhr am Bahnhof in Halberstadt.
- Erstes Ziel: Prag, deutsche Botschaft.
Um an der Grenze zur Tschechoslowakei nicht aufzufallen, hatte ich nur einen Rucksack als Gepäck mit. In der Nähe von Zittau erreichte ich die Grenze und musste meinen Personalausweis vorlegen. Auf diesen Fall hatte ich mich gut vorbereitet: Ich benannte einen kleinen tschechischen Ort und eine Person, die dort wohnte und meine Oma kannte. Der Grenzpolizist war mit meiner Aussage zufrieden – erste Hürde geschafft!
Mit dem Zug fuhr ich weiter in Richtung Prag. Der Zug endete jedoch vor den Toren der Stadt. Dadurch war ich gezwungen, mich irgendwie weiter durchzuschlagen.
Mit der U-Bahn ging es in Richtung Hauptbahnhof. Mir war nur bekannt, dass sich die Botschaft in der Nähe des Bahnhofs befindet. Dort wollte ich unbedingt vermeiden, fremde Menschen anzusprechen: Ich konnte mir ja nicht sicher sein, ob sich Stasi-Personen dort aufhalten.
Mit der Hilfe eines jungen Pärchens erreichte ich am 5. November genau um 00:05 Uhr die deutsche Botschaft. Mit einer Flasche Bier in der Hand stand ich vor dem großen Tor. Das Tor öffnete sich. Erleichtert betrat ich den Innenhof und musste das Bier an der Pforte abgeben – striktes Alkoholverbot! Sofort entdeckte ich die Bundeswehrzelte im Hof, die ich aus dem Fernsehen bereits kannte.
Am nächsten Tag durften alle DDR-Bürger in die BRD ausreisen – mit Bussen zum Prager Bahnhof und mit Zügen in die Freiheit.
An einem ersten Bahnhof in der BRD wurden die neuen Gäste aus der DDR von vielen Menschen aus dem Westen herzlichst empfangen. Sie verteilten diverse Geschenk, darunter Kosmetikartikel, Schokolade etc. Außerdem konnten wir am Bahnhof einen ersten Anruf mit Verwandten oder Bekannten durchführen.
Wir fuhren im Anschluss weiter nach Bruchsal in Baden, wo wir schließlich auf einem Polizeigelände untergebracht wurden. In der Sporthalle waren bereits Doppelstockbetten für uns reserviert. Von dort ging es am 9. November weiter mit dem Zug nach Frankfurt am Main und mit dem Flugzeug nach Berlin-Tegel, die Landung gegen 23:00 Uhr.
Niemals werde ich die Worte vergessen, mit denen mich ein Bekannter empfing: „Warum bist Du über Prag gefahren? Die Mauer ist doch offen.“
Ich konnte seine Worte zunächst nicht nachvollziehen und war total irritiert. Unfassbar! Es dauerte eine Weile, bis ich die Bedeutung verstand. Die gesamte Reise von Halberstadt über Zittau, Prag und Bruchsal nach West-Berlin führte ich mir noch einmal vor Augen.
Endlich hatte ich mein Ziel erreicht – und jetzt fällt die Mauer. Ich bereue den Entschluss zu der Reise nach Prag trotzdem nicht.
Denn wer hätte ahnen können, dass am 9. November die Mauer fällt?