Berliner Gedenktafel für Gertrud Rothgießer
Pressemitteilung vom 11.09.2023
Die Stadt Berlin erinnert seit dem 8. September 2023 an dem Haus in der Paradestraße 35 in Tempelhof mit einer Berliner Gedenktafel an die Physikerin und Kinderärztin Gertrud Rothgießer (1888–1944), die zwischen 1926 und 1933 hier lebte und arbeitete.
2021 wechselte das Haus in der Paradestraße 35 seine Bewohnerin – im Prozess der Sanierung kam die Geschichte der Erstbewohnerin zum Vorschein. Ein metallener Eckschutz am Eingang, wie in Krankenhäusern verwendet, und der Waschbeckenanschluss im Wohnzimmer warfen Fragen auf: Wer hat hier vor fast 100 Jahren gewohnt?
1926 eröffnete Dr. Gertrud Rothgießer ihre Kinderarztpraxis in diesem Haus in der neu erbauten Siedlung „Neu-Tempelhof“ westlich des Flughafens. Sie wurde am 21. März 1888 in Bielefeld als erstes von vier Kindern von Anna und Georg Rothgießer geboren. Die Familie zog 1887 nach Berlin und war dort schnell bekannt, denn sie verkörperte mit ihrem innovativen und liberalen Lebensstil die moderne jüdische Gesellschaft der Stadt. Georg Rothgießer war ein vielseitiger Technikpionier und Ingenieur, er betrieb u.a. zwei Verlage für technische Literatur. Gertrud Rothgießer studierte ab 1908 Physik und Mathematik, zuvor war sie als Gasthörerin eingeschrieben, da es Frauen in Preußen nicht erlaubt war zu studieren. Am 22. Februar 1913 promovierte sie im Fach Physik und wechselte danach zur Medizin. Nach ihrer Approbation war sie Assistenzärztin in der Kinderheilanstalt im Genesungsheim Buch und eröffnete danach als unabhängige, sozial engagierte Kinderärztin ihre eigene
Praxis in Tempelhof. Sie war Mitglied im „Verein sozialistischer Ärzte“. Ab 1933 durfte Gertrud Rothgießer als Jüdin ihren Beruf nicht mehr ausüben und emigrierte nach Marienbad in die Tschechoslowakei, wo sie mangels Zulassung nicht mehr praktizieren konnte und ein Kinderheim eröffnete. Das Münchner Abkommen 1938 zwang sie erneut zur Flucht, sie zog nach Prag. Am 17. Dezember 1941 wurde sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und arbeitete bis zur Schließung des Lagers 1944 als Kinderärztin in der Hamburger Kaserne. Am 9. Oktober 1944 wurde Gertrud Rothgießer nach Auschwitz deportiert und im Gas ermordet.
Ihre Eltern Anna und Georg Rothgießer sowie ihre Cousine Mathilde starben in Theresienstadt, ihr Bruder Heinrich Rothgießer wurde 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet, ihrer Schwester Elisabeth Eisenhardt geb. Rothgießer (1894–1983) und ihrem Bruder Hermann Otto Rothgießer (1899–1987) gelang die Emigration nach Südamerika und Südafrika.
Die Nachfahren der überlebenden Geschwister haben den langen Weg auf sich genommen und waren am 8. September 2023 aus Chile und den USA mit mehr als zwanzig Personen in Tempelhof bei der Enthüllungszeremonie anwesend.
Die Berliner Gedenktafeln sind ein Programm des Landes Berlin, eingebunden in das Förderprogramm Historische Stadtmarkierungen der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die weißen Porzellantafeln werden von der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin hergestellt. Die Recherche und Organisation der Tafel lag bei dem Verein Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin, der sich seit 2013 bei der Umsetzung des Berliner Gedenktafelprogramms engagiert.
Pressestelle
Daniel Bartsch
komm. Pressesprecher
Christopher Suss
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit