22. Berliner Online-Tierschutzforum am 20.12.2022

Labor mit Affen befestigt an Gestängen

Am Dienstag, den 20.12.22 um 19 Uhr findet unser 22. Berliner Online-Tierschutzforum statt. Diesmal wird Dr. Christoph Maisack, 1. Vorsitzender der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht (DJGT) e.V., einen Vortrag über die nach wie vor herrschenden Umsetzungsdefizite der EU-Tierversuchsrichtlinie in deutsches Recht.

Kostenlose Anmeldung über Eventbrite

Abstrakt

Unzureichende Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie (Richtlinie 2010/63/EU) im deutschen Tierschutzgesetz und in der Tierschutz-Versuchstierverordnung

Die Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (EU-Tierversuchsrichtlinie) ist am 9. Nov. 2010 in Kraft getreten und gem. ihrem Art. 61 Abs. 1 ab dem 1. Jan. 2013 in den Mitgliedstaaten anzuwenden.
Am 25. 7. 2019 hat die EU-Kommission in einer „mit Gründen versehenen Stellungnahme“ eine Vielzahl von Punkten benannt, in denen die Bundesrepublik Deutschland diese Richtlinie bislang nicht oder nicht korrekt umgesetzt habe. Diese Stellungnahme bedeutete die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens. Daraufhin sind mit Änderungsgesetz v. 18. 6. 2021 im Tierschutzgesetz und mit Änderungsverordnung vom 11. 8. 2021 in der Tierschutz-Versuchstierverordnung einige der Vorschriften, die das Recht der Tierversuche betreffen, geändert worden. Trotzdem gibt es aber weiterhin eine ganze Anzahl beträchtlicher Umsetzungsdefizite, die sich zu Lasten des von der Richtlinie angestrebten Tierschutzniveaus auswirken.

Die wichtigsten sind:
  1. Obwohl die EU-Kommission in ihrer Stellungnahme mehrmals betont hat, dass – bevor ein Tierversuch von der dafür zuständigen Behörde genehmigt werden kann – sowohl dessen Unerlässlichkeit (i. S. des Fehlens ausreichend wirksamer tierschonender Alternativen) als auch dessen ethische Vertretbarkeit (i. S. eines Überwiegens des angestrebten Nutzens gegenüber den zu erwartenden Schmerzen und Leiden der Versuchstiere) nachgewiesen sein müssen, heißt es im deutschen Tierschutzgesetz in § 8 nach wie vor nicht, dass diese Genehmigungsvoraussetzungen, bevor eine Genehmigung erteilt werden darf, nachgewiesen sein müssen bzw. dass sie zur Überzeugung der Genehmigungsbehörde feststehen müssen.
  2. Obwohl die EU-Kommission in ihrer Stellungnahme mehrmals hervorhebt, dass ein Tierversuch nur durchgeführt werden darf, wenn die Behörde vorher eine „positive Projektbeurteilung“ vorgenommen hat – d. h. wenn sie vorher das Vorliegen aller gesetzlichen Genehmigungsvoraussetzungen, vor allem der Unerlässlichkeit und der ethischen Vertretbarkeit des Tierversuchs, festgestellt hat – sieht das deutsche Tierschutzgesetz in § 8a vor, dass eine Genehmigung fingiert wird, wenn es die Behörde innerhalb der von der Bundesregierung in der Tierschutz-Versuchstierverordnung festgelegten Bearbeitungsfrist nicht geschafft hat, das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen der Genehmigungsvoraussetzungen festzustellen und über die Erteilung oder Ablehnung der Genehmigung zu entscheiden. Es findet dann mit dem Ablauf der Bearbeitungsfrist eine „Genehmigung durch Schweigen“ statt, obwohl die EU-Tierversuchsrichtlinie ein derartiges Rechtsinstitut nicht kennt.
  3. Obwohl die EU-Kommission in ihrer Stellungnahme die bisherige deutsche Rechtspraxis – danach sind Tierversuche bereits dann genehmigt worden, wenn der antragstellende Wissenschaftlicher ihre angebliche Unerlässlichkeit und ethische Vertretbarkeit wissenschaftlich begründet dargelegt hatte, ohne dass die Behörde befugt war, zu überprüfen, ob die von ihm in seiner Darlegung behaupteten Tatsachen zutreffend und vollständig waren – mit scharfen Worten kritisiert hat, ist die gesetzliche Formulierung „wissenschaftlich begründet dargelegt“ nur aus dem Tierschutzgesetz gestrichen worden, wohingegen sie in der Tierschutz-Versuchstierverordnung in nicht weniger als 14 Vorschriften weiterhin auftaucht. Das erhöht die Gefahr, dass die Behörden auch in Zukunft bei der Genehmigung von Tierversuchen wesentliche Voraussetzungen bereits dann als erfüllt ansehen werden, wenn sie von dem Antragsteller „wissenschaftlich begründet dargelegt“ worden sind, ohne – wie es nach der Richtlinie erforderlich wäre – hinsichtlich aller Genehmigungsvoraussetzungen von dem Antragsteller einen Nachweis zu fordern.
  4. Von den antragstellenden Wissenschaftlern wird weiterhin – entgegen dem, was die Ausschüsse des Bundesrats für Agrarpolitik und Verbraucherschutz sowie für Kulturfragen insoweit gefordert haben – nicht verlangt, in den Genehmigungsanträgen Darlegungen zu machen, anhand derer es den Genehmigungsbehörden ermöglicht wird, die wesentlichen Genehmigungsvoraussetzungen – insbesondere die Unerlässlichkeit und die ethische Vertretbarkeit des beantragten Tierversuches – eigenständig zu beurteilen.
    So haben die Bundesrats-Ausschüsse für Agrarpolitik und Verbraucherschutz und für Kulturfragen in dem Verfahren zur Änderung der Tierschutz-Versuchstierverordnung u. a. gefordert, dem antragstellenden Wissenschaftler nicht nur eine Beschreibung und wissenschaftliche Rechtfertigung seines Versuchsvorhabens einschließlich des damit verfolgten Zwecks aufzugeben, sondern auch „die Angabe, welcher Erkenntnisgewinn auf welche Weise angestrebt wird und welcher Nutzen damit erreicht werden soll; der Nutzen ist nach Art, Ausmaß, Wahrscheinlichkeit, Zeitnähe seiner zu erwartenden Verwirklichung und Zahl der davon voraussichtlich profitierenden Personen so genau wie möglich zu beschreiben; weiter ist zu begründen, weshalb der Nutzen nach Einschätzung des Antragstellers so hoch ist, dass ihm gegenüber den Schmerzen, Leiden und Schäden der Versuchstiere das Übergewicht zukommen soll“ (BR-Drs. 393/1/21 S. 20, 21). Weiter haben sie gefordert, ihm aufzugeben, darzulegen, „welche Quellen auf der Suche nach verfügbaren Ersatz- und Ergänzungsmethoden durchsucht und welche systematischen Recherchen in der Literatur hierzu durchgeführt worden sind; weiter die Darlegung, welche Anstrengungen unternommen worden sind, um die wissenschaftliche Fragestellung so zu verändern, dass sie mit Hilfe eines oder mehrerer Verfahren ohne lebende Tiere oder mit deutlich weniger lebenden Tieren und mit weniger schweren, weniger lang andauernden oder weniger häufigen Schmerzen, Leiden und Schäden der Tiere beantwortet werden kann; darzulegen ist auch, welche Methoden zur Verbesserung des Wohlergehens der Tiere bei der Vorbereitung und Durchführung des Tierversuchs und in der Zeit nach dessen Beendigung angewendet werden“ (BR-Drs. 393/1/21 S. 22, 23). Alle diese Forderungen sind von der Bundesregierung im Verfahren zur Änderung der Tierschutz-Versuchstierverordnung zurückgewiesen worden.
  5. Im Hinblick auf die nach der EU-Richtlinie erforderliche Projektbeurteilung – also insbesondere die Beurteilung, ob ein geplanter Tierversuch unerlässlich und ethisch vertretbar ist – unternimmt die Bundesregierung in zwei Vorschriften der Tierschutz-Versuchstierverordnung sogar den Versuch, einen Teil dieser (nach der Richtlinie allein in den Händen der Genehmigungsbehörde liegenden) Projektbeurteilung in die Hände des antragstellenden Wissenschaftlers und von ihm beauftragter und bezahlter Personen zu legen: Die Genehmigungsbehörde soll an die Beurteilungen des Antragstellers und seiner Beauftragten gebunden werden, anstatt ihr die von der EU-Kommission in der Stellungnahme v. 25. 7. 2019 (Nr. 23) geforderte „vollumfänglich selbständige Beurteilung im Sinne des Artikels 38“ zu ermöglichen. Auch hiergegen haben die Ausschüsse des Bundesrats für Agrarpolitik und Verbraucherschutz sowie für Kulturfragen protestiert (BR-Drs. 393/1/21 S. 31, 32), aber ohne Erfolg.
  6. Im Widerspruch zu der Stellungnahme der EU-Kommission – darin wird ausdrücklich gefordert, dass das deutsche Tierschutzgesetz eine „Überprüfung durch die Behörde, z. B. durch die Hinzuziehung relevanter Experten, ob das Projekt tatsächlich wissenschaftlich gerechtfertigt ist, beinhalten“ müsse – sehen das Tierschutzgesetz und die Tierschutz-Versuchstierverordnung weiterhin nicht vor, dass die Behörde im Genehmigungsverfahren Sachverständigengutachten – z. B. zur Frage des Vorhandenseins geeigneter Ersatz- oder Ergänzungsmethoden oder zur Art, Ausmaß und Wahrscheinlichkeit des Nutzens, den der erstrebte Erkenntnisgewinn für Rechtsgüter der Allgemeinheit voraussichtlich haben wird, oder auch zur Schwere des Leidens der Versuchstiere – in Auftrag geben und für ihre Entscheidung über den Genehmigungsantrag verwenden darf.
  7. Im Hinblick auf Tierversuche, die bei den verwendeten Tieren zu voraussichtlich länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen (schwerst belastende Tierversuche), hätte – um eine Vereinbarkeit mit der EU-Tierversuchsrichtlinie herzustellen – bestimmt werden müssen, dass solche Tierversuche „nur in Ausnahmefällen genehmigt werden“ und nur, „wenn aufgrund außergewöhnlicher Umstände eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit für einen besonders hohen, den üblichen Rahmen signifikant übersteigenden Nutzen für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier besteht.“ Auch dies ist nicht geschehen.

Die ausführliche Stellungnahme finden Sie hier: https://www.berlin.de/lb/tierschutz/stellungnahmen/artikel.1080602.php

Kurzbiografie:

Dr. Christoph Maisack wurde am 11. 5. 1953 in Reutlingen geboren. Nach dem Studium der Rechts- und der Wirtschaftswissenschaften in Tübingen und Dijon/F legte er 1981 das Erste und 1986 das Zweite Juristische Staatsexamen ab. Ab 1987 befand er sich im Justizdienst des Landes Baden-Württemberg und war dort zunächst als Verwaltungsrichter und Staatsanwalt und von 1993 bis 2012 als Richter am Amtsgericht in Bad Säckingen tätig. Von April 2012 bis März 2017 war er zur Landesbeauftragten für Tierschutz in Baden-Württemberg und von April 2017 bis zum Eintritt in den Ruhestand im Mai 2021 zur Landesbeauftragten für Tierschutz in Hessen abgeordnet.

Seit den 1980er-Jahren beschäftigt er sich mit Fragen des Tierschutzes, vorwiegend aus juristischer Sicht. An der Universität Hamburg hat er zum Thema „Zum Begriff des vernünftigen Grundes im Tierschutzrecht“ promoviert. Er ist Mitautor des im Verlag Beck/Vahlen veröffentlichten Kommentars „Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz“ (erste Aufl. 2003, zweite Aufl. 2007, dritte Aufl. 2016 und vierte Aufl. voraussichtlich 2023). Im Januar 2011 wurde ihm der Tierschutzpreis des Landes Rheinland-Pfalz verliehen. Er ist Vorsitzender der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht e. V. (DJGT) und erstellt als solcher Rechtsgutachten zu Tierschutzfragen.