Berlin, den 22.10.2024
In den letzten Wochen gab es zahlreiche Berichte in verschiedenen Berliner Zeitungen über die Prüfung des möglichen Einsatzes von Nicarbazin zur Reduzierung der Stadttaubenpopulation durch den Senat. Leider wurden in diesen Berichten häufig wichtige Hintergründe und mögliche Konsequenzen nur oberflächlich oder gar nicht behandelt. Die Berliner Landestierschutzbeauftragte Dr. Kathrin Herrmann möchte daher einige Missverständnisse richtigstellen und die tierschutzrechtlichen sowie finanziellen Bedenken erläutern, die mit der Verwendung von Nicarbazin verbunden sind.
Was ist Nicarbazin?
Nicarbazin wird seit den 1950er Jahren in der Geflügelhaltung eingesetzt, um parasitäre Infektionen zu bekämpfen. In höheren Dosen konnte auch eine Verringerung der Fruchtbarkeit von Vögeln festgestellt werden. Es handelt sich jedoch nicht um ein hormonelles Verhütungsmittel. Der genaue Wirkmechanismus ist noch nicht vollständig geklärt. Man vermutet jedoch, dass Nicarbazin die Funktion des Proteins ZP-3 und die Stabilität der Dottermembran beeinflusst, wodurch die Embryonalentwicklung verhindert wird.
Prüfung des Einsatzes bei Stadttauben: Bedenken und hohe Kosten
Obwohl Nicarbazin in der Geflügelhaltung verwendet wird, gibt es nur unzureichende Studien zur Sicherheit und Wirkung bei Stadttauben. Die Prüfung des möglichen Einsatzes von Nicarbazin zur Reduzierung der Taubenpopulation in Berlin wirft daher erhebliche tierschutzrechtliche und finanzielle Bedenken auf. Aufgrund der fehlenden Studien zur Sicherheit und Wirkung stufe ich die Verfütterung von Nicarbazin als genehmigungspflichtigen Tierversuch ein. Die Durchführung einer solchen wissenschaftlichen Studie muss unter kontrollierten Bedingungen erfolgen – und nicht durch Ausbringung des Futters auf die Straße.
Nicarbazin verursacht bei Hühnern bekannte Nebenwirkungen wie Leberverfettung, verminderte Hitzetoleranz, erhöhte Stoffwechselrate, reduzierte Futter- und Wasseraufnahme sowie eine deutliche Erhöhung des Cholesterinspiegels im Blut (vgl. Clinipharm-Datenbank https://www.vetpharm.uzh.ch/Wirkstoffe/000000000033/0950_07.html). Es ist also zu befürchten, dass diese Nebenwirkungen auch bei Stadttauben auftreten, da diese zur Unterbindung der Fruchtbarkeit noch höhere Dosen aufnehmen müssten als in der Geflügelhaltung, wo Nicarbazin nur in niedriger Dosierung und für kurze Zeiträume gegen Kokzidien eingesetzt wird. Der langfristige Einsatz und die höheren Dosen bei Stadttauben erhöhen das Risiko, dass die Nebenwirkungen sogar gravierender ausfallen als bei Hühnern. Zusätzlich verursacht der Einsatz von Nicarbazin erhebliche Kosten. Laut Victoria Adam, die das Präparat „Ovistop“ in Deutschland vertreibt, belaufen sich die jährlichen Kosten für die Behandlung von 100 Tauben auf etwa 4.500 Euro. In Berlin leben schätzungsweise 17.000 bis 19.000 Stadttauben, was jährliche Kosten von rund 855.000 Euro allein für das Medikament bedeuten würde – ohne die zusätzlichen Aufwendungen für Fütterung und Monitoring. Angesichts dessen, dass das Budget für das gesamte Stadttaubenmanagement in diesem Jahr auf null gesetzt wurde und im kommenden Jahr voraussichtlich nicht die im Haushaltsplan vorgesehenen 200.000 Euro zur Verfügung stehen werden, ist der Einsatz von Nicarbazin schon aus finanziellen Gründen keine realistische Option.
Tierschutzrechtliche Bedenken
Die Verfütterung von Nicarbazin ist auch aus tierschutzrechtlicher Sicht problematisch. Die Dosierung kann nicht kontrolliert werden, was zu Überdosierungen und gesundheitlichen Risiken auch für andere Tierarten führen könnte. Zudem verstößt der Einsatz von Nicarbazin gegen das Artenschutzrecht (§ 44 BNatSchG), da es die Fortpflanzung wildlebender Vogelarten beeinträchtigen kann.
Effektive Alternativen
Es gibt bereits bewährte, tierschutzgerechte Alternativen, wie betreute Taubenschläge, bei denen die Eier gegen Attrappen ausgetauscht werden. Diese Methode hat sich in Städten wie Augsburg und Chemnitz als effektiv und kostengünstig erwiesen und bietet eine nachhaltige Lösung für das Problem der Stadttauben. Das Berliner Stadttaubenmanagementkonzept aus dem Jahr 2023 (abrufbar unter https://www.berlin.de/lb/tierschutz/tauben/artikel.1334314.php) hat betreute Taubenschläge und weitere flankierende Maßnahmen bereits vorgesehen und den Einsatz von Nicarbazin nach eingehender Prüfung abgelehnt. Es ist daher fraglich, warum diese Maßnahme nun erneut diskutiert wird, zumal tierschutzgerechte und finanziell tragbare Alternativen bereits zur Verfügung stehen. Weitere Informationen finden Sie in der Stellungnahme der Landestierschutzbeauftragten vom 17.05.2024, abrufbar unter diesem Link.