Prof. Thomas Hartung: Brauchen wir noch Tierversuche?

Am Montag, den 19.04.2021 machte Prof. Thomas Hartung den Auftakt der 3R Fortbildungsreihe mit der Frage, ob wir noch Tierversuche brauchen, und wenn ja, wofür.

Abstract
Die Frage kann nicht beantwortet werden, ohne zu sagen wofür. Wenn wir über Tiermedikamente sprechen, dann brauchen wir sicher klinische Testungen wie auch beim Menschen. Wenn wir Verhaltensstudien machen, brauchen wir sie. Aber brauchen wir sie wirklich in den Hauptverwendungen wie der Entwicklung von Medikamenten, regulatorische Sicherheitsprüfungen, der Produktion von Antikörpern und anderen biologischen Materialien und Teilen der Grundlagenforschung? Vermutlich weniger als viele denken.
Der Grund ist, dass wir die benötigte Information mit gleicher oder besserer Qualität mit anderen Mitteln generieren können. Immer mehr werden die Limitationen der Tierversuch-basierten Sicherheitsprüfung zur Vorhersage von Gefahren für den Menschen deutlich. Die Entwicklung von Medikamenten zeigt zunehmend, wie oft Tierversuche zu falschen Entwicklungsentscheidungen geführt haben. Wir sehen aber auch mehr und mehr die Einschränkungen der traditionellen (humanen) Zellkultur, wie Zellidentität, Differenzierung, genetische Instabilität und Mykoplasmeninfektionen, als auch nicht-homöostatische und nicht-physiologische Kulturbedingungen.
Die ständige Beschleunigung technischer Entwicklungen moderner Zellkultur und ihre Integration führen zu etwas, was oft als “disruptive technologies” bezeichnet wird. Die Entwicklung von Alternativmethoden für die Produktentwicklung und Sicherheitsprüfung profitiert davon. Die Schaffung großer toxikologischer Datenbanken (“big data”) und “data-mining”-Technologien (“artificial intelligence”) erlauben prädiktive Computermethoden in neuen Maßstäben. Als ein Beispiel dient unser neuer automatisierter „read-across“ (RASAR = read-across-based structure activity relationships). Gleichzeitig führt die Kombination von Zellkultur und Bioengineering zu einer Reihe von Technologien, die die Zellkultur mehr organähnlich machen, wie etwa 3D-Kultur, auf menschlichen Stammzellen basierende Modelle, Perfusion, Ko-kulturen, Kombinationen mit Trägermaterialien, Sensoren etc.. Zunehmend führt das zu “organ-on-chip” oder sogar Multi-Organ “human-on-chip”-Lösungen. Durch die Wiederherstellung der Organarchitektur, der Homöostase der Zellumgebung und von Organfunktionen, spiegeln diese Modelle sehr viel mehr die physiologische Situation wider. Das Beispiel unserer humanen iPSC-basierten Mini-Gehirne dient dazu, dies zu illustrieren. Die kommerzielle Verfügbarkeit von Organoiden verbessert gleichzeitig ihre Standardisierung und Reproduzierbarkeit. Diese technischen Fortschritte versprechen echte “game-changer” zu werden. Kombiniert mit einem zunehmend mechanistischen Ansatz (z.B. „Adverse Outcome Pathway“-Konzepte), integrierten Teststrategien und Evidenz-basierten Methoden der Datenevaluierung und -integration hat dies eine revolutionäre Veränderung in Bewegung gesetzt, wie wir die biologischen Effekte von Substanzen erfassen.
Zunehmend stellt sich damit die Frage, wann auf den Tierversuch faktisch verzichtet werden kann und wie die Implementierung von Ersatzmethoden gefördert und wo sie gefordert werden kann. Den zuständigen Behörden und den Tierversuchskommissionen kommt hierbei eine besondere Bedeutung und Rolle bei. Die Pyrogentestung wird als Beispiel benutzt, die Herausforderungen und Möglichkeiten zu illustrieren.

Kurzvita
Thomas Hartung, MD, PhD, ist der Doerenkamp-Zbinden-Chair for Evidence-based Toxicology und Leiter von den beiden Centers for Alternatives to Animal Testing (CAAT) an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, Baltimore, Maryland, United States und an der Universität Konstanz. An beiden Universitäten ist er Professor für Pharmakologie und Toxikologie. Prof. Hartung ist ehemaliger Chef vom Center for the Validation of Alternative Methods der Europäischen Kommission (ECVAM), Ispra, Italien, und Autor von über 575 wissenschaftlichen Publikationen.