Gedenken an Hatun Sürücü

Pressemitteilung Nr. 17 vom 02.02.2022

Der Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung ruft zum Gedenken an Hatun Sürücü sowie aller Opfer von Gewalt gegen Frauen im Namen der Ehre.

  • Montag, den 7. Februar um 11 Uhr
  • Oberlandgarten1/Ecke Oberlandstraße, 12099 Berlin-Tempelhof

Am 7. Februar 2005 wurde Hatun Sürücü mit 23 Jahren von ihrem jüngeren Bruder auf offener Straße in Berlin-Tempelhof erschossen. Sie wollte ein freies und selbstbestimmtes Leben führen und hat damit bewusst gegen die strengen Regeln und tradierten Ehrvorstellungen ihrer Familie verstoßen.

Hatun Sürücüs Schicksal steht für viele Mädchen und Frauen, die unter Gewalt im Namen der Ehre leiden. Sie leben in patriarchalisch geprägten Familien, in denen sie kontrolliert werden und in denen voreheliche Beziehungen verboten sind. Auch junge Männer sind betroffen, besonders wenn ihr Lebensentwurf nicht der heterosexuellen Norm entspricht. Homosexualität ist geächtet, die Jungfräulichkeit (der Frau) das höchste Gut und Grundvoraussetzung für das Ansehen der ganzen Familie. Diese tradierten Werte kollidieren im Laufe des Erwachsenwerdens mit der Suche nach selbstbestimmten Lebenswelten und dem Erwachen der eigenen sexuellen Wünsche. Die daraus entstehenden Konflikte scheinen oft unlösbar. Bei vielen enden sie mit einer Zwangsverheiratung, bei Manchen, wie im Falle Hatun Sürücüs, mit einem Mord.

Der Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung, der von der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten des Bezirkes Friedrichshain-Kreuzberg koordiniert wird, besteht seit 2002. In diesem Gremium sind die Berliner Antigewaltprojekte, Krisen- und Zufluchtseinrichtungen, TERRE DES FEMMES, HEROES, der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (Miles), MANEO, Frauenhäuser, Schulen, Rechtsanwältinnen, das Landeskriminalamt Berlin, Jugendämter und Jobcenter sowie die für die Gleichstellung zuständige Senatsverwaltung vertreten, die mit ihrer wichtigen Expertise zur Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und sogenannter Ehrenmorde beitragen.

Der Berliner Arbeitskreis leistet mit Infobroschüren gegen Zwangsverheiratung, Flyern und Workshops an Schulen für Mädchen, Jungen und junge Frauen eine intensive präventive Arbeit. Er hat hat Handlungsempfehlungen für die Berliner Jugendämter zum Thema „Intervention bei Gewalt gegen Mädchen und jungen Frauen in traditionell-patriarchalen Familien“ erarbeitet, um die Jugendamtsmitarbeiter*innen im Umgang mit schwierigen Familienkonstellationen bei Gewalt und Zwangsverheiratung zu unterstützen und Hilfsangebote für Mädchen und junge Frauen in Konfliktsituationen zu etablieren.

In den vergangenen 17 Jahren seit Hatun Sürücüs Tod hat es Fortschritte in den Bereichen der Justiz und in der Aufklärungsarbeit gegeben. Zwangsverheiratung ist inzwischen ein eigener Straftatbestand und „Ehren“-Morde werden in der Regel nicht mehr als Totschlag mit einer geringen Strafe geahndet. Trotzdem bleibt noch viel zu tun.

Dass Zwangsverheiratungen und Morde im Namen der Ehre auch in Deutschland eine Rolle spielen, zeigen die in größeren Abständen durchgeführten Befragungen zum Ausmaß von Zwangsverheiratungen in Berlin. Die zuletzt 2017 durchgeführte Befragung von Institutionen, Beratungseinrichtungen, Schulen und Antigewaltprojekten zu bei ihnen bekannt gewordenen Fällen ergab insgesamt 570 Fälle von Zwangsverheiratungen. Dies sind 19 Prozent mehr als bei der letzten Befragung 2013 (460 Fälle), allerdings war auch die Zahl der befragten Einrichtungen 2017 um 40 Prozent höher. Auch 2017 war mit 93 Prozent der Großteil der Betroffenen weiblich (2013: 92 Prozent): insgesamt suchten im Jahr 2017 529 Mädchen und Frauen und 41 Jungen und junge Männer die Beratungseinrichtungen auf bzw. wurden anderen Institutionen bekannt. Im Vergleich dazu waren es 2013 431 Mädchen und Frauen und 29 Jungen und Männer.

Leider gibt es bislang nur wenige spezifische, auf die Thematik ausgerichtete Beratungs- und Kriseneinrichtungen für von Zwangsverheiratung betroffene Jungen und junge Männer. Ein großer Erfolg war jedoch die Eröffnung der LSBTI*-Krisenwohnung im Jahr 2019. Diese vom AWO Kreisverband Berlin Spree-Wuhle in Kooperation mit dem Leben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg geschaffenen Zufluchtswohnung, die auch vom Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung unterstützt wurde, bietet von Gewalt betroffenen LSBTI* Personen temporären Schutz und richtet sich dabei explizit auch an Personen, die sich durch angedrohte oder bereits vollzogenen Zwangsverheiratung in Gefahrenlage befinden.
Von den 26 Personen, die 2020 eine Anfrage für die Aufnahme in die Krisenwohnung stellten, waren sechs lesbische Frauen, elf schwule Männer und neun transgeschlechtliche Personen.

Homosexuelle Jungen und junge Männer wurden u.a. von Beratungseinrichtungen wie der Opferhilfe, MANEO und den Jugendämtern betreut oder holten sich über Terre des Femmes oder online bei Papatya Unterstützung. Die männlichen Betroffenen sind im Durchschnitt etwas jünger als die weiblichen.

Die meisten Zwangsverheiratungen fanden im Ausland statt. Dort können sich die betroffenen Mädchen und junge Frauen kaum gegen eine Zwangsverheiratung wehren. In vielen Fällen berichteten die Beratungseinrichtungen dementsprechend von einer befürchteten oder erfolgten Verschleppung ins Ausland.

Die letzte Umfrage des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung belegte, dass diese spezifische und in keiner Weise zu rechtfertigende Form der Gewalt auch in Berlin in einem signifikanten Ausmaß gegeben ist und dass demzufolge nach wie vor politischer Handlungsbedarf zur Verbesserung der Prävention und Intervention erforderlich ist.

Ausführliche Evaluierungsergebnisse finden Sie unter https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/politik-und-verwaltung/beauftragte/gleichstellung/zwangsheirat/

Zu den Mitgliedern im Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung gehören:

  • PAPATYA, Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund. „Als interkulturelles Frauenteam schützen wir Mädchen und junge Frauen an einer geheimen Adresse, damit Fälle wie der von Hatun Sürücü sich nicht wiederholen. Wir beraten über unsere Onlineberatung SIBEL bei familiären Problemen und schützen mit unserer Koordinierungsstelle gegen Verschleppung Betroffene davor, gegen ihren Willen im Herkunftsland der Familie zurückgelassen zu werden.“ * Elişi Evi e.V. Interkulturelle Beratungs- und Bildungsangebote für Frauen und Mädchen
    „Elişi Evi e.V. bietet u.a. Beratung und Präventionsworkshops zum Thema Zwangsverheiratung in Berliner Schulen an.“
  • “HEROES – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre für Gleichberechtigung” ist ein gewaltpräventives Gleichstellungsprojekt, in dem junge Männer, die aus ehrkulturellen Milieus stammen, mit rollenspielbasierten Peer-to-Peer-Workshops andere Jugendliche dazu einladen, mit ihnen über Ehre und streng patriarchale Strukturen in der Gesellschaft zu diskutieren um ihnen mehr Raum für unterschiedliche Sichtweisen und alternative Handlungsweisen zu ermöglichen. * WILDWASSER e.V. „Mädchen und (jungen) Frauen, die sich trauen, die Familie zu verlassen, muss unbedingt auch ein adäquater Wohnraum parallel oder nach der Unterstützung durch das Jugendamt oder die Frauenhäuser zur Verfügung gestellt werden. Wenn sie die Hilfestrukturen verlassen, gehen sie z.T. in alte gefährdende Strukturen zurück, weil sie keine eigene Perspektive entwickeln können.“
  • TERRE DES FEMMES setzt sich seit Jahrzehnten gegen Zwangsheirat und Gewalt im Namen der Ehre ein. Der Verein klärt die Öffentlichkeit auf und schult Fachpersonal, kämpft dafür, dass sich die Gesetze zugunsten der Betroffenen ändern und leistet Präventionsarbeit an Schulen – aktuell mit dem Schultheaterprojekt „Mein Herz gehört mir“ – Gegen Zwangsverheiratung und Frühehen“.“ Insbesondere die Präventionsarbeit an Schulen ist dringend notwendig: Betroffene Schüler*innen wissen oft nicht, an wen sie sich wenden sollen und wo sie Hilfe erhalten, umso wichtiger ist die sensible Aufklärungsarbeit vor Ort. Aber auch die Regelfinanzierung von spezialisierten Beratungs- und Zufluchtseinrichtungen sowie die Schaffung weiterer ist dringend notwendig, um Betroffenen adäquat helfen zu können.“
  • Landeskriminalamt – Zentralstelle für Prävention ist seit 2002 Mitglied im Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung und unterstützt die Arbeit aktiv.
  • Der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg setzt sich mit seinem Beratungsangebot„ im Zentrum für Migrant*innen, Lesben und Schwule (MILES) für die Interessen und den Schutz von LSBTI*-Personen ein, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität von sogenannter Zwangsverheiratung oder von körperlicher und psychischer Gewalt in ihrem sozialen Umfeld bedroht sind. Gemeinsam mit dem AWO Kreisverband Berlin Spree-Wuhle bietet der LSVD Berlin-Brandenburg betroffenen Personen seit 2019 anonym und unbürokratisch Zuflucht und Unterstützung in der LSBTI*-Krisenwohnung (awo-schutzwohnung.de). Die stetig steigende Zahl der Anfragen aus dem gesamten Bundesgebiet zeigt, wie dringend notwendig der Ausbau solcher Schutzorte für LSBTI*- Personen ist.
  • TIO „Nach wie vor ist das Thema Zwangsverheiratungen und Gewalt im Namen der Ehre in Berlin sehr aktuell. Betroffene Frauen und Mädchen, aber auch junge Männer, die von dieser Menschenrechtsverletzung betroffen sind, kontaktieren die TIO e.V. – Beratungsstelle. TIO e.V. – Beratungsstelle fordert einen flächen-deckenden Ausbau des vorhandenen Unterstützungssystems durch die Eröffnung von regelfinanzierten spezifischen Fachberatungsstellen gegen Zwangsheirat/Gewalt im Namen der Ehre für alle Geschlechter und fachspezifische pauschalfinanzierte Zufluchtseinrichtungen für betroffene junge Erwachsene in Berlin. Neben der fachspezifischen Beratung bietet die TIO e.V. – Beratungsstelle Workshops gegen Zwangsverheiratung und Gewalt im Namen der Ehre für Berliner Schulen, Multiplikatorinnen und Fachkräfte an.“
  • Die OPFERHILFE BERLIN e.V. berät Opfer und Zeug*innen von Straftaten und deren Angehörige deliktübergreifend, unabhängig von Alter, Gender, Herkunft bei ihren individuellen Anliegen. Viele Mädchen, junge Frauen und junge Männer erleiden Gewalt und Druck in ihren Familien und dürfen keine selbstbestimmten Entscheidungen für ihr Leben treffen. Dagegen möchten wir ein Zeichen setzten! Derzeit gibt es keine spezifischen Beratungsstellen für Jungen und Männer, die von Zwangsverheiratung betroffen sind, so dass wir neben den Mädchen und Frauen insbesondere diese ansprechen und beraten möchten.
  • Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege, Gleichstellung
  • Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte des Bezirkes Friedrichshain-Kreuzberg und Koordinatorin des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung „Nur durch die intensive Kooperation, das Engagement und die fachliche Expertise der verschiedenen Akteur*innen des Berliner AK gegen Zwangsverheiratung und die Sicherstellung der Finanzierung der Beratungseinrichtungen durch die Politik kann eine kontinuierliche Arbeit gewährleistet werden.“
  • Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg
  • MEG- betreutes Wohnen
  • KLUBHEIM COURAGE Wohnprojekt
  • FRAUENKRISENTELEFON
  • TÜRKISCHER FRAUENVEREIN
  • ZUFF e.V.
  • Frauenhaus COCON
  • ZWEITES FRAUENHAUS
  • MANEO

Ansprechpartnerin
Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung
c/o Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin
Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte
Petra Koch-Knöbel

Telefon: (030) 90 298-4111
E-Mail: petra.koch-knoebel@ba-fk.berlin.de