Diese Woche war ich im Bereich Périnatalité eingesetzt, das bedeutet, alles rund um die Geburt, was den gesamten Zeitraum der Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Postpartalzeit (bei PROFA bis zum 6. Lebensmonat des Kindes) einschließt. Ich habe dabei die Périnatalité in Aigle, in Renens und in Yverdon-Les-Bains kennengelernt. Aigle lag wieder in einem Tal umgeben von Bergen nahe an der französischen Grenze, Yverdon-les-Bains am Neuenburger See. Renens ist quasi der Sitz der Leitungsebene plus Beratungszentrum, dadurch ist das Team dort viel größer. In allen perinatal-Teams wird immer im Tandem Hebamme – Sozialarbeiterin gearbeitet, d.h. jede Frau bekommt einen Termin bei der Hebamme und bei der Sozialarbeiterin (assistante sociale, AS) angeboten, manche nehmen aber auch nur eins davon in Anspruch. Wichtig ist dabei, dass die Frauen oft trotzdem noch außerhalb „freie“ Hebammen haben, wobei in der Schweiz (zumindest im Kanton Waadt/ Vaud) hier der Fokus eindeutig auf dem Wochenbett liegt und weniger, wie in Deutschland möglich, Teile der Schwangerenvorsorge von den Hebammen übernommen werden.
Die Hebammen bei PROFA heißen auch „sage-femme conseillère“ (SFC), was so viel wie beratende Hebamme heißt. Nach der Geburt werden die Frauen zuhause von ihren freien Hebammen betreut und suchen PROFA vor allem für eine Beratung durch die Sozialarbeiterin auf, da es dann um die individuelle Elterngeldberechnung geht oder um Kommunikation mit dem Arbeitgeber. Es wird auch nach dem Geburtserlebnis gefragt. Im Bereich Périnatalité konnte ich die größten Unterschiede zu Deutschland bzw. Berlin feststellen. Zum einen ist die Schwangerenversorgung hier nicht auf Frauen ohne Krankenversicherung fokussiert, da es das in der Schweiz quasi nicht gibt.
Das Gesundheitssystem ist stark gestaffelt, es gibt für alle eine Art Basis-Krankenversicherung, die sich Besserverdiener dann komplementär aufstocken, was sehr weit verbreitet ist (auch weil Zahnarztbesuche im Basistarif gar nicht enthalten sind). Jede und jeder muss für sich selbst festlegen, wie hoch er oder sie die Grenze für die finanzielle Selbstbeteiligung legt, was dann die Monatsbeiträge beeinflusst. Es ist vom Kanton vorgesehen, dass jede Schwangere die Beratung durch eine SFC und AS in Anspruch nehmen kann, wobei natürlich dennoch nicht alle Frauen erreicht werden.
Die Berechnung des Elterngelds und des Mutterschutzes ist sehr individuell und wird erst nach der Geburt festgelegt, da es vom Geburtstermin abhängt, ob die Frau noch bis zum Monatsende verlängern kann. Prinzipiell haben die Frauen 14 Wochen Mutterschutz, währenddessen sie auch 100% der Bezahlung erhalten, danach gehen aber viele Frauen auch zurück in den Job. Manche bekommen von ihrem Arbeitgeber, wenn sie bei großen Firmen arbeiten, noch einen Monat „geschenkt“. Andere beschließen noch ein paar Monate unbezahlt oder teilfinanziert dranzuhängen. Ich war sehr überrascht, dass viele Frauen nach 14-18 Wochen wieder arbeiten gehen und die wichtige Zeit des Bindungsaufbaus scheinbar hinter der Wirtschaftlichkeit zurückstehen muss.
Als ich erzählt habe, wie es bei uns ist, waren manche Kolleginnen ganz begeistert. Diese Begeisterung legte sich, als ich erwähnte, dass es meist nur 60% des Gehalts während der Elternzeit gibt. Der Kanton Waadt ist wohl der einzige, der ein zusätzliches Unterstützungsprogramm hat, mit dem man das Elterngeld aufstocken kann. Dafür gibt es in der Schweiz noch eine andere Besonderheit: Frauen haben das Recht, Stillzeiten oder Zeiten für das Abpumpen der Muttermilch als Arbeitszeit abzurechnen. Dafür stehen ihnen je nach Länge des Arbeitstags zw. 30 und 90 min zu, welche während oder morgens vor bzw. nach der Arbeit genommen werden können. Einen Mutterschutz vor der Geburt gibt es nicht, viele Frauen werden aber von ihrer Gynäkologin krankgeschrieben, um die letzten Wochen vor der Geburt nicht mehr arbeiten zu müssen. Insgesamt war ich diese Woche bei mehreren Beratungen mit Schwangeren oder Familien, die gerade Nachwuchs bekommen haben, dabei.
Besonders interessant fand ich dabei die Gespräche der Hebamme mit den Frauen, da hier auch auf psychologische Komponenten eingegangen wurde. Z.B. ging es dabei um psychische Belastungen in der Schwangerschaft, vorangegangene Fehlgeburten, das Warten auf die Geburt, die partnerschaftliche Beziehungsqualität und Unterstützung o.ä. Eine Psychologin, die bei psychischer Belastung in der Schwangerschaft Beratung anbietet, wie ich das in Berlin mache, gibt es bei PROFA so nicht. Dafür wird immer an externe vermittelt.
Bei einem Gespräch mit der Leitung des Bereichs Périnatalité wurde mir erklärt, dass hier auch nach den DOTIP-Prinzipien zum Umgang mit häuslicher Gewalt gearbeitet wird und die Bereiche hier vernetzt sind. Ebenfalls werden Workshops und Gruppen für werdende Eltern angeboten wie z.B. die „Ateliers Futurs Parents“, welche in Kooperation mit MenCare Suisse für werdende Mütter und Väter einzeln angeboten werden und welche keine Geburtsvorbereitungskurse sind, sondern auf das Muttersein und Vatersein vorbereiten. Leider hatte ich nicht die Gelegenheit an einem solchen Workshop teilzunehmen.
Insgesamt war es ein wenig enttäuschend, dass ich aus unterschiedlichen Gründen in die psychologischen Bereiche bei PROFA so wenig reinschnuppern konnte. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass ich als Abschluss meiner Hospitation an der teils anonymen Gruppe teilnehmen konnte, bei der Männer, welche in Beziehung mit einer Frau leben oder gelebt haben, jedoch homosexuell sind oder eben Sex mit Männern haben, sich in vertraulichem Rahmen austauschen können.
Besonders spannend und lehrreich war dabei, dass die Männer, welche (bis auf einen Mann Mitte 20) alle zwischen 50 und 75 Jahren waren, zum einen an ganz unterschiedlichen Punkten ihres Coming-Out standen, aber auch ganz unterschiedliche Lebensmodelle bevorzugten. Nicht jeder strebte ein komplettes Coming-Out an, manche hatten ihre Frau bereits eingeweiht, andere nicht, manche wollten mit ihrer Frau zusammen bleiben, manche nur räumlich, andere gar nicht. Für die neueren Mitglieder der Gruppe war es eine große Bereicherung, die Erfahrungen der anderen zu hören. Es war eine unterstützende Atmosphäre, die zwischen ausgelassenen Momenten und Momenten der Trauer wechselte. Für eine solche Gruppe gäbe es sicher auch in Berlin Bedarf.