Johanna Scheller berichtet aus Harlow

Bericht vom 05.10.2022

Last but not least: Die Hospitation geht in die Endrunde und steht somit kurz vor dem Abschluss. Inzwischen freue ich mich riesig auf Zuhause, bin aber gleichzeitig froh, die Möglichkeit über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, gehabt zu haben. Ein bisschen schade ist, dass so langsam alles vertrauter geworden ist und nun auch schon mal private Gespräche zustande kamen. Kaum ist man richtig angekommen , muss man auch schon wieder weg. Aber so ist das nun mal mit Austauschprogrammen. Die Erfahrung und die Horizonterweiterung nehme ich natürlich mit.

Die letzte Woche steht den anderen in nichts nach. Ich lerne wieder neue Bereiche kennen. Diesmal den Fachbereich „family solutions“, hier wird, wie der Name schon sagt, nach Lösungen für Familien gesucht und das Team „children with disabilities“, also dem Team für Kinder mit Behinderungen. Den Bereich „familiy solutions“ besuche ich nicht persönlich, weil das Team an einem anderen Standort sitzt. Der Standortleiter bringt mir die Arbeitsweise in einer Videokonferenz näher. Neben dem „family solutions“ Team befindet sich auch noch das „family centre“, also das Familienzentrum, an einem anderen Standort. Diese räumliche Aufteilung soll signalisieren, dass es sich um eine niedrigschwellige Unterstützung handelt. Ausserdem sollen die Eltern sich bewusst sein, dass das Angebot „consent-based“, also freiwillig ist. Auch in England haben es Sozialarbeiter im Jugendamt mit vielen Vorurteilen zu tun. Die ganze Arbeit und Bemühungen rund um Familien mit Unterstützungsbedarf kommt auch hier in der Öffentlichkeit nicht immer richtig an.

Aber zurück zu den Fachbereichen: Im „family solutions“ Team bekommen Familien Unterstützung, die nicht im Kinderschutz angesiedelt sind. Die Methoden sind wie bei uns: Hier sind zum Beispiel der Systemische oder Ressourcen orientierte Ansatz zu nennen. Die Hilfekonferenzen nennen sich TAF (Team around the Family). Hier werden die Unterstützungsmaßnahmen geplant.

Neben den ambulanten Hilfen gibt es noch das Familienzentrum mit ähnlichen Angeboten wie in Deutschland. Einen großen Unterschied gibt es jedoch: Die Sozialarbeiter, die hier arbeiten, erstellen auch die vom Gericht in Auftrag gegebenen „parental ability assessments“, also Erziehungsfähigkeitsgutachten, nur psychiatrische Gutachten werden von Psychiatern durchgeführt.

Auch in das „children with disabilities“ Team konnte ich einen guten Einblick erhalten. In diesem Team bekommen sowohl Kinder mit körperlichen, aber auch mit seelischen Behinderungen Unterstützung. Die Sozialarbeiter gehen initial zum Hausbesuch und notieren, was die Familie als praktische Unterstützung benötigt. Bei körperlichen Behinderungen werden alle möglichen Hilfsmittel notiert und bewilligt. Das kann ein Spezialbett oder ein Rollstuhl sein. Wenn die Wohnung nicht behindertengerecht ist, dann wird nach einer passenden Wohnung gesucht. Während meiner Hospitation habe ich zwei Hausbesuche mitmachen können, beide Male bei körperlich und geistig behinderten Kindern. Die Familien werden sehr gut unterstützt. Für Kinder, die nicht in einer Regelschule beschult werden können, wird ausserdem nach einer alternativen Schule gesucht. Da die Nachfrage oft das Angebot übersteigt, ist das keine leichte Aufgabe. Das „children with disabilities“ Team ist übrigens das einzige Team, dass alle Bereiche abdeckt. Egal ob Kinderschutz ein Thema ist oder Gerichtsverfahren anhängig sind, hier ist immer ein einziges Team zuständig. Alle anderen Teams geben die Fälle an das jeweilige Team ab, sobald sich der „Level“, also der Gefährdungsgrad ändert.

Auch in der letzten Woche bin ich von dem Engagement und dem Einsatz der Kollegen beeindruckt. Auch wenn es Unterschiede gibt, sind auch einige Verfahrensweisen sehr ähnlich. Ein Vergleich der Fachbereiche ist lohnenswert und bietet für beide Seiten Potenzial für Verbesserungen. Insgesamt konnte ich meinen Erfahrungshorizont erweitern, daher bin ich wirklich froh, dass ich an der Hospitation teilnehmen konnte und möchte mich hiermit nochmals recht herzlich bei allen, die das auf deutscher und englischer Seite möglich gemacht haben, bedanken!

It was a great experience!
Thanks

Bericht vom 28.09.2022

Hello everybody,

inzwischen habe ich die 3.Woche der Hospitation abgeschlossen. Jede Woche kommt mir wie das Kapitel eines Buches vor, nicht zuletzt, weil ich die Erlebnisse jeweils in einem Blog verarbeite. Diese Form der Vogelperspektive dient nicht nur als Wissenstransfer, sondern hilft mir auch zu reflektieren und zu integrieren, was ich gelernt und erfahren habe. Hier ist inzwischen wieder Ruhe eingekehrt nach den Ereignissen der letzten Wochen rund um die Causa Queen. Back to normal, wie es hier so schön heißt.

In dieser Woche habe ich wieder die Gelegenheit genutzt, neue Bereiche und Arbeitsfelder kennenzulernen. Auf der Agenda stand diesmal das „child in care“ Team und der Fachbereich „D-Bit“. Aber hierzu später. Vorher möchte ich noch von einem interessanten Meeting berichten, an dem ich teilnehmen konnte. Das sogenannte MACE-Meeting. Wofür dir Abkürzung steht, habe ich nicht herausgefunden, aber da es hier nur so von Abkürzungen wimmelt, habe ich aufgegeben, hinterher zu kommen. Wichtig ist ja nur zu wissen, um was für ein Meeting es sich inhaltlich handelt. Und das ist spannend und wiederum ein Ansatz, den ich nicht kenne. In diesem Meeting geht es um child exploitation. Also eine Ausbeutung von Kindern auf irgendeine Art.

Allen Themen wird hier mit dem sogenannten „multi-agency-approach“ begegnet was sich in diesem Meeting mehr als widerspiegelt. Im MACE-Meeting werden Fälle vorgestellt und es werden Lösungsansätze bearbeitet. In einem Fall habe ich 25 geladene Teilnehmer gezählt! Es geht hier um junge Menschen, meistens Jugendliche, die ausgebeutet werden. Es kann sich hierbei um kriminelle oder sexuelle Ausbeutung handeln. Da es hier viel Bandenkriminalität gibt, ist das oft ein Thema. Auch sind die Jugendlichen selbst häufig abgängig und werden dann als „missing“ child geführt. Je nachdem, was das Thema ist, sind verschiedene Parteien involviert. Die Polizei ist aber eigentlich fast immer dabei. Teilnehmer sind daneben auch „child exploitation officer“, „safeguarding officer“ oder „missing co-ordinator“.

Oftmals sind tatsächlich Leib und Leben der Jugendlichen in Gefahr, die Bedrohungen sind real. Dadurch, dass alle an einem Strang ziehen und der Informationsfluss sehr gut funktioniert, kann diesem ernsthaften Problem bestmöglich begegnet werden. Wenn Bedrohungen zu groß werden, wird auch schon mal eine ganze Familie umgesiedelt, um die Kinder zu schützen. Der multy-agency-Ansatz hat mich wirklich überzeugt.

Nun aber zum „child in care“-Team. Diesem Team sind Kinder zugeordnet, die stationär in der Jugendhilfe untergebracht sind. Wie schon vorher erwähnt, handelt es sich überwiegend um Unterbringungen in Pflegefamilien. Eigentlich ist das Prozedere ähnlich wie in Deutschland. Es gibt regelmäßig Hilfekonferenzen. Die Intervalle sind jedoch nach Altersgruppen eingeteilt. Für unter 5- jährige wird alle 3 Monate eine Konferenz abgehalten, für ältere Kinder alle 6 Monate. Außerdem werden die Kinder alle 4 Wochen in den Pflegefamilien besucht. Da das auch die Kollegen des Social Service machen, ist hier eine Fallzahl von höchstens 20 Fällen die Norm, meistens sind es weniger.

Im „D-Bit“ Team konnte ich daneben noch einen ambulanten Ansatz kennenlernen, der verhindern soll, dass Kinder stationär untergebracht werden müssen. In diesem Team arbeiten die Kollegen mit einem Lösungs-und Ressourcen orientierten Ansatz. Die Familie soll gestärkt werden, um eine Unterbringung zu vermeiden. Es scheint eine hohe Erfolgsquote seit Einführung des Ansatzes zu geben. Die stationären Unterbringungen sind zurück gegangen. Daneben gibt es im ambulanten Bereich noch sogenannte „support worker“. Eigentlich ähnelt die Arbeit der von Familienhelfern jedoch hat keiner der Mitarbeiter Sozialarbeit studiert.

In England wird die Qualität der Sozialarbeit regelmäßig von einer unabhängigen Agentur geprüft. Essex schneidet hier sehr gut ab mit seiner „outstanding performance“. Nicht zuletzt auch deshalb, weil hier Bindungsarbeit einen großen Stellenwert hat und auch andere Instrumente der Sozialarbeit erfolgreich implementiert sind. Das ist in England keine Selbstverständlichkeit. Deshalb fahren die Manager hier regelmäßig in andere Gegenden in UK und vermitteln ihren Ansatz und ihr Wissen weiter.
Insgesamt gibt es in England zu wenige „skilled Socialworker“, weshalb es ein Programm ins Leben gerufen wurde, indem Sozialarbeiter innerhalb kurzer Zeit einen Bachelor Degree erreichen können. Neu eingestelltes Personal, teilweise Quereinsteiger, bekommen ein 6-wöchiges Training, dürfen danach anfangen zu arbeiten und erreichen ihren Bachelor in Sozialarbeit nach einem Jahr Studium neben dem Job. Not macht erfinderisch.

Das Fazit der 3.Woche: Es bleibt spannend und ich bin froh, in Harlow, der westlichsten der insgesamt 4 Standorte, eingesetzt zu sein. Denn: Hier gibt es eine großes Gemeinschaftsgefühl, was sich auch in den eigens kreierten Slogans widerfindet: „West is the best“. Oder:“Simply the West“. Selbst auf den Kaffeetassen im Büro finden sich die Slogans wieder.
Zu Recht, wie ich finde!

So, jetzt geht es in die Endrunde, see you next week!

Bericht vom 22.09.2022

Hi there, I’m back, jetzt geht es in die 2.Runde.

Die zweite Woche war mindestens genauso ereignisreich, wie die erste. Natürlich ist damit das Arbeitsumfeld gemeint, aber nicht nur. Es ist schon ein ganz besonderes Gefühl in England zu sein, wenn die Identität der Engländer, die so eng mit der britischen Krone verbunden ist, ins Wanken gerät. Ganz Großbritannien trauert und ich muss sagen: Mich berührt es auch. Immerhin bin auch ich mit der Queen aufgewachsen. Es war ja gar nicht zu vermeiden. Komischerweise scheine ich ein Talent dafür zu haben, immer in den intimsten britischen Momenten vor Ort zu sein. Schon 2007 habe ich eine ähnliche Stimmung in London miterlebt: Damals hat England gegen Deutschland beim Fußball verloren. Wieder mal. Torkelnde, trauernde, weinende Männer auf leergefegten Straßen, das war damals das Stadtbild. Was für englische Männer der Fußball ist, ist für das weibliche Pedant die Krone. Das Ergebnis ist aber dasselbe: Eine Identitätskrise ungeahnten Ausmaßes. Dabei kennt man ja den Engländer nicht wirklich gefühlsnah. Nicht umsonst heißt es schließlich: stiff upper lip, also die steife Oberlippe. Naja, so ganz stimmt es eben doch nicht. Aber gut, nun mal zurück zur eigenen Identität, also zur beruflichen.

In dieser Woche konnte ich neben dem Family Support und Protection (FSP) Team noch Einblicke in weitere Bereiche erhalten. Im FSP Team bearbeiten die Kollegen ebenso schwere Fälle, wie im Assessment und Intervention Team. Der Unterschied ist, dass bereits eine Einschätzung zur Gefährdung erfolgt ist und es jetzt darum geht, die vermutete Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Solange die Kindeseltern mitwirken und kooperativ sind, handelt es sich um eine Hilfe, die dem Level 3 zugeordnet wird. Wenn ein Kind auf dem sogenannten „child protection plan“ ist, gibt es viel zu beachten.

Ob das Kind diese Zuordnung erhält, wird auf einem sogenannten „strategy meeting“, wieder mit ganz vielen unterschiedlichen Professionen, entschieden. Sobald das der Fall ist, wird ein strukturiertes Prozedere in Gang gesetzt. Nach einer fest vorgeschriebenen Anzahl von Tagen wird ein „initial child protection meeting“ einberufen. Das erste von mehreren im Abstand von 6 Wochen. Die Sitzung wird von einem unabhängigen Konferenzleiter moderiert, was einen neutralen Blick auf die Dinge gewährleisten soll. Der zuständige Sozialarbeiter ist also nur Teilnehmer, wie alle anderen auch. Diesmal sind auch die Eltern dabei. Es werden Sorgen formuliert und Ziele gesetzt, die es zu erreichen gilt. Ähnlich wie bei uns wird auch der Weg dahin, also die Handlungsschritte, definiert. Alle Beteiligten, auch die Eltern, geben am Ende eine Bewertung über das bestehende Risiko ab. Es werden Punkte von 1-10 vergeben. 1 ist das größtmögliche Risiko und bei 10 wäre das Problem gelöst. Auf den nächsten Konferenzen wird die Bewertung wiederholt. Zwischendurch finden alle 4 Wochen sogenannte „core-meetings“ statt.

Alle Handlungsgrundlagen für diese Verfahrensweisen finden sich im childrens act von 1989 wieder. Dieses Gesetz wird regelmäßig überarbeitet. Immer dann, wenn ein Kind ernsthaft zu Schaden kommt, was leider auch hier passieren kann, findet eine Aufarbeitung in sogenannten „saveguarding practice reviews“ statt. Diese Reviews haben manchmal eine Änderung der Gesetzgebung zur Folge. In einem dieser Fälle wurde herausgefunden, dass die mangelnde Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Fachkräften maßgeblich am tragischen Verlauf Schuld waren, hier wurde nachgebessert. Der Gesetzgeber achtet daher inzwischen stark darauf, dass alle Professionen in regelmäßigem Austausch stehen.

Neben den vielen Meetings haben es die Kollegen in Harlow noch mit anderen zeitaufwändigen Umständen zu tun. Da die Verwaltung in Harlow für einen flächenmäßig sehr großen Landkreis zuständig ist, leben die Klienten teilweise sehr weit weg. Eine Stunde Fahrt für den einfachen Weg ist keine Seltenheit. Oft holen die Sozialarbeiter die Klienten sogar von Zuhause ab. Ein Service, der bei uns so nicht üblich ist. Aber es finden auch sehr häufig Hausbesuche statt.

Im Kinderschutz ist hier auch die Anzahl der Besuche genau definiert und festgelegt. In jedem Kinderschutz-Meeting wird erneut entschieden, ob es sich weiter um einen Kinderschutzfall handelt. Wenn die Gefährdung weiterhin besteht und nicht abgewendet werden kann, wird, wie bei uns, das Gericht eingeschaltet. Wenn die Probleme weitestgehend gelöst werden konnten, wird die Familie vom protection plan genommen, Zugang zu freiwilligen Leistungen gibt es aber immer noch.

In dieser Woche habe ich noch etwas ganz Neues kennengelernt : Ich durfte an einem Funding-Meeting teilnehmen. Hier werden alle Ausgaben rund um die Familie beantragt. Während in Deutschland nur Kinder, die stationär untergebracht sind, Dinge wie Schul-, Fahr- oder Kleidergeld bekommen, kann in England im Social Services neben anderen Sozialleistungen, wie Universal Credit (vergleichbar mit Hartz 4), jedes Kind weitere Unterstützung erhalten. In den Meetings beantragt der zuständige Sozialarbeiter Leistungen für seine Klienten, er muss das aber gut begründen. Das können auch Essensgutscheine oder Haushaltsgegenstände sein. Durch die Energiekrise werden immer mehr Essensgutscheine beantragt.

Ganz spannend, aber auch traurig war ein Tag, den ich im „Specialists Team“ begleiten durfte. In diesem Team liegt die Zuständigkeit bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Wie mir berichtet wurde, kommen immer mehr junge Menschen mit dem Boot in Kent im Süden Englands an. Die Jugendlichen werden dann im ganzen Land verteilt. Ausserdem liegt in Essex der Flughafen Stansted. Viele reisen auch auf dem Flugweg ein.

Während meines Hospitationstages kam ein junger männlicher Flüchtling in Stansted an. Ich durfte die zuständige Kollegin und den Jugendlichen in die ausgewählte Unterkunft begleiten und habe auch am Aufnahmegespräch teilgenommen. Sehr praktisch ist, dass es eine sogenannte „Language-Line“ gibt. Braucht man einen Dolmetscher, ruft man die Nummer an und bekommt sofort einen Übersetzer für die benötigte Sprache. Der Übersetzer wird einfach per Telefon dazugeschaltet. Das ist super praktisch und vereinfacht diesen Prozess enorm! Wenn angenommen wird, daß der Jugendliche ein falsches Alter angegeben hat, findet ein sogenanntes „age assessment“ statt. Das machen hier die Sozialarbeiter mittels eines vorgegebenen Fragebogens und anhand von Beobachtungen. Glaubwürdigkeit ist hier das zentrale Thema. Was auch immer wieder ein Thema ist, ist das sogenannte „child trafficking“, also Kinderhandel. Leider gab es in dem Fall, den ich miterlebt habe, diese Vermutung. Eine wirklich traurige und für die Behörden fast unlösbare Geschichte.

Mein Fazit von der zweiten Woche: Die britischen Kollegen leisten unglaublich viel, haben viele Herausforderungen zu meistern und sind dabei doch sehr positiv, zuversichtlich und humorvoll. Es ist toll zu sehen, dass es auch hier Menschen gibt, die sich für andere einsetzen, die im prozesshaften und mit Bindungsarbeit versuchen, einen positiven Weg für Familien in Krisen zu ebnen, wie bei uns in Deutschland auch. Das allein reicht meiner Ansicht nach schon aus, eine gemeinsame Identität, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Die Menschlichkeit ist das bindende Glied, auch ohne Krone und den Fußball. Selbst der Brexit vermag das nicht zu verhindern.

So, nun aber genug für heute! Enough for today! To be continued next week….

God save the King and everyone else!

Viele Grüße

The Queen

Bericht vom 13.09.2022

Dear colleagues,

nach 2 Jahren Wartezeit aufgrund der Pandemie ist es endlich soweit: England ruft. Die Planung vorab war schon ein bisschen aufregend, gibt es doch einiges zu beachten nach dem Brexit. Nachdem mit viel Unterstützung und Recherche aller Beteiligten die Einreisemodalitäten geklärt sind, geht es Anfang September los in Richtung UK. Nach einem kurzen Flug und folgendem easy going Self-Check-In mit Reisepass und nettem Blick in die Kamera bin ich drin, im Land, das eigentlich draußen ist, zumindest aus der EU.

Mein Hospitationsziel Harlow steuere ich nicht sofort nach meiner Ankunft an. Vorerst checke ich in meinem, für unsere Verhältnisse, sündhaft teuren Airbnb ein. Hier bin ich Gast bei einer jungen Familie mit 2 Hunden und dem 6 Monate alten Baby Leo. Leo nenne ich heimlich den kleinen „Happy Baby Buddha“. Sehr genügsam, immer lächelnd, wenig laut: Ein Traumkind also. Ohne natürlich meine Sozialarbeiter-Maßstäbe anzusetzen. Der größere der beiden Hunde, Lara, ist ein Rescue -Hund, wer weiß, woher. Lara ist mal aus dem Fenster gestürzt, hat sich die Vorderbeine gebrochen, die dann schief wieder zusammen gewachsen sind. Ihrer Lebensfreude hat das keinen Abbruch getan. Aber genug von meiner Unterkunft, die, das sei noch erwähnt, sehr schön in der Nähe eines Flusses und beliebten Pubs liegt. Bei der Ankunft habe ich noch nicht geahnt, dass ich diese pristine Umgebung später sehr zu schätzen wissen würde. Denn: Harlow ist anders. Die Bewohner dieser Stadt in Essex sind eher unterprivilegiert, mit all den Problemen, die das mit sich bringt. Die Stadt ist erst nach dem zweiten Weltkrieg gebaut worden, mit dem Ziel, staatlich unterstützten Wohnraum für Familien zu schaffen, die sich Wohnraum auf dem ersten Wohnungsmarkt nicht leisten können.

Ich bin im Goodman House eingesetzt, das ist der Name des Gebäudes, indem die öffentliche Verwaltung untergebracht ist. Hier bin ich in der ersten Woche dem Assessment & Intervention Team des Jugendamtes, welches hier Social Services heißt, zugeordnet. Da Duty-Woche ist, d.h. das Team nimmt alle Meldungen entgegen und bearbeitet sie kurz nach deren Eingang, ist hier viel los. Die Bewohnerstruktur spiegelt sich in den Meldungen wieder. Es werden schwere Fälle von vermuteten Kindeswohlgefährdungen gemeldet. Bei den meisten Meldungen liegt die Vermutung ohne weitere Prüfung bereits nahe, dass es sich um eine Kindeswohlgefährdung handelt.

Die Einschätzung und Indikatoren sind in etwa dieselben wie in Deutschland. Die Bearbeitung der Fälle läuft aber anders ab. Im englischen System ist die Einschätzung, die Verantwortung und die Sicherstellung des Kinderschutzes auf viele Schultern verteilt. An den Konferenzen nehmen alle beteiligten Professionen, die mit der Familie zu tun haben oder hatten, teil. Neu ist für mich, dass selbst die Polizei mit am Tisch sitzt und eine Einschätzung zum Kinderschutz abgibt. Auch Ärzte, Hebammen, Lehrer, Psychiater und andere Professionen sind geladen. Nicht selten sitzen 10 oder mehr Personen am Tisch oder tagen in hybrider Form. Die Entscheidung, ob der Fall im Kinderschutz geführt wird, treffen alle Beteiligten zusammen. Ebenso haben alle Professionen gleichermaßen die Verantwortung, den Kinderschutz sicherzustellen. Im besten Fall ziehen alle am gleichen Strang.

Sozialarbeiter bearbeiten in Großbritannien viel weniger Fälle als in Deutschland, so etwa 10-15 sind es in meinem Team auf Zeit, dafür sind die Aufgaben aber umfassender. Viele Aufgaben, die bei uns an Träger ausgelagert sind, erledigen die Kollegen selbst. In Kinderschutzfällen ist klar festgelegt, wie oft die Familie besucht wird. Es gibt ein strukturiertes Ablaufschema und es erfolgt eine Triage, wie im Krankenhaus. Die Familie wird dann in Level 1, 2,3 oder 4 eingeteilt. Level 4 ist akuter Kinderschutz. Sozialarbeiter, die das Wächteramt ausüben, dürfen in Großbritannien, anders als in Deutschland, kein Kind Inobhut nehmen. Das ist der Polizei vorbehalten. Im akuten Kinderschutz wird eine Police Protection angestrebt. Letztendlich entscheidet aber die Polizei, ob sie das Kind aus der Familie nimmt, oder nicht.

Fast alle Kinder, auch Jugendliche, werden, wenn möglich, in Pflegefamilien untergebracht, wenn eine Fremdunterbringung indiziert ist. Andere Unterbringungsformen sind nicht weit verbreitet. Vorab wird immer im familiären Umfeld geprüft, ob es Möglichkeiten innerhalb der Familie gibt. Sehr oft werden Familienräte vorgeschaltet, damit die Familie eine eigene Lösung finden kann. Gearbeitet wird in England in Großraumbüros. Kein Mitarbeiter, bis auf die Leitungskräfte, haben einen eigenen Platz.

Im „Hotdesk-Prinzip“ wird jeden Tag von einem anderen Platz aus gearbeitet. War man auf einem Hausbesuch, kann es sein, dass der Platz von morgens weg ist. Festnetztelefone habe ich nirgends gesehen, jeder hat ein Mobiltelefon. Es gibt hier keine Akten mehr, schon seit Jahren. Das Equivalent zu unserem Programm Sopart heißt hier Mosaic. Alles, was in Papierform kommt, wird eingescannt. Braucht man einen Ausdruck, wird dieser nach Gebrauch geschreddert. Aufgrund von Datenschutzrichtlinien werde ich hier keine Fallkonstellationen schildern.

Nur soviel: Die erste Woche war interessant und aufregend, aber auch sehr anstrengend. Ich konnte an einigen Konferenzen teilnehmen und war auch mit auf verschiedenen Hausbesuchen. Die Kollegen sind sehr freundlich und verhalten sich sehr kollegial. Harlow County Council ist als sehr guter Arbeitgeber bekannt und alle, mit denen ich gesprochen habe, arbeiten gerne hier. Dennoch sind alle sehr beschäftigt. Ich werde, so gut es geht, eingebunden in Prozesse und lerne viel Neues kennen, was spannend ist. Insgesamt ein guter Start!

In der zweiten Woche hospitiere ich in einem anderen Team, dem „Family Support und Protection“ Team. In diesem Bereich werden Fälle bearbeitet, die im Kinderschutz angesiedelt sind und die Kindeseltern zur Mitarbeit bereit sind. Hierüber werde ich nächste Woche berichten.

And by the way: Natürlich bin ich am Wochenende nach London gefahren, habe der Queen Tribut gezollt und vor dem Kensington Palace eine Schweigeminute eingelegt. Vielleicht schaffe ich es nächste Woche auch zum Buckingham Palace. Rest in Peace.

Bis nächste Woche