"Wilde Möhre" - Kunst am Bau der Bergmannkiez-Gemeinschaftsschule

Wilde Möhre

In der Kreuzberger Nostitzstraße hat diese Wochen ein neues Schulgebäude seinen Betrieb aufgenommen. Wie in anderen öffentlichen Gebäuden auch wurde auch hier Kunst am Bau verwirklicht. Im Treppenhaus des neuen Schulgebäudes der Bergmannkiez-Gemeinschaftsschule findet sich das mehrere Stockwerke übergreifende Kunstwerk „Wilde Möhre“ von Eva Schmidhuber, das sich dem Thema Wildpflanzen und Artenvielfalt widmet. Die Künstlerin wohnt selbst im Bezirk und hat zwei Kinder im Grundschulalter. „Es gibt im Bergmannkiez tatsächlich viele Wilde Möhren.“ Daher sei es passend gewesen, im Kunstwerk diese Wildpflanze darzustellen, die in der Umgebung vorkomme.

Nach ihrem Bachelorstudium in Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität orientierte die gebürtige Bayerin sich in Richtung Kunst und absolvierte den Masterstudiengang Raumstrategien an der Kunsthochschule Weißensee. Seit 2015 leitet sie regelmäßig künstlerische Workshops und arbeitet dabei mit Frauen und Geflüchteten. Ihr künstlerischer Fokus lag lange Zeit auf Film und Fotografie. 2009 hatte sie das Kurzfilmfestival „kiezkieken“ gegründet. Den ersten Kontakt mit der Bildenden Kunst hatte sie während ihres Masterstudiums. Im Zuge dessen entwickelte sie ein Gedenkzeichen für politische Gefangene im Konzentrationslager Sachsenhausen.
Die Idee der Kunst am Bau ist aus Eva Schmidhubers Sicht eine gute Sache. „Das ist Kunst, die nicht in der Galerie versteckt ist, wo sie nur wenige finden, sondern Kunst, die für alle zugänglich ist.“ Gleichzeitig sei es eine extrem hohe Verantwortung, die sie als Künstlerin trage. „Am Ende hafte ich für alles selbst. Die komplette Verantwortung für das Kunstwerk und seine Umsetzung liegt bei mir.“ Der Betrag für die Umsetzung ist fix, sodass das finanzielle Risiko generell bei der Künstlerin liegt.

Schon 1950 legte der Bundestag fest, dass bei allen Bundesbauten ein fester prozentualer Anteil der Bausumme für Kunst am Bau eingesetzt werden soll. Auch im Land Berlin sind die öffentlichen Bauherr*innen verpflichtet, bei Neubauten einen gewissen Prozentsatz der Baukostensumme für Kunst am Bau aufzuwenden.

Wilde Möhre

Internationaler anonymer Teilnahmewettbewerb

Für die Kunst am Neubau der Bergmannkiez-Gemeinschaftsschule gab es einen internationalen anonymen Teilnahmewettbewerb, auf den sich Eva Schmidhuber mit ihrem Entwurf beworben hat. Der Jury lag statt ihres Namens nur eine sechsstellige Chiffre vor. „Dadurch dass es anonym abläuft, ist das Prozedere sehr fair.“ Der Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) habe sich lange für dieses Vorgehen eingesetzt. So fällt die Entscheidung für eine*n Künstler*in nicht über Verbindungen und Netzwerke. „Es zählt die Idee und alle haben eine Chance, zu gewinnen.“ In der männerdominierten Kunstwelt sei das anonyme Verfahren daher vor allem für Frauen ein Segen. „So ist das Verfahren sehr gleichberechtigt und auch neue Künstler*innen haben die Möglichkeit, dass ihre Entwürfe ausgewählt werden.“

Die Wettbewerbe werden vom Büro für Kunst im öffentlichen Raum koordiniert, das seinen Sitz in Kreuzberg hat. Das Büro veröffentlicht die aktuellen Ausschreibungen für Kunst am Bau und informiert alle Künstler*innen, die sich auf den entsprechenden Verteiler haben setzen lassen, per E-Mail über neue Wettbewerbe. „Das ist sehr hilfreich und man behält einen guten Überblick.“ Die Künstler*innen haben dann meist drei bis vier Monate Zeit, um ihren ersten Entwurf einzureichen. In der Regel bewerben sich dabei 100 bis 200 Künstler*innen. Die Wahrscheinlichkeit, weiterzukommen, sei also gering. „Man darf sich daher im Entwurf nicht verlieren.“ Eine Jury wählt aus allen Einreichungen zehn Beiträge aus, die in die nächste Runde kommen. Diese Künstler*innen erhalten eine Aufwandsentschädigung für Modelle oder Materialproben.

Wilde Möhre

Im Fall der Bergmannkiez-Gemeinschaftsschule entschied sich die Kommission für Kunst im öffentlichen Raum und Kunst am Bau des Bezirks für Eva Schmidhubers Entwurf. „Ich freue mich so, dass das geklappt hat, nachdem ich so viel Energie in das Konzept gesteckt habe.“ Der Kommission gehören neben der Bezirksbürgermeisterin und dem Fachbereichsleiter für Kultur und Geschichte auch Künstler*innen und Vertreter*innen der Fachöffentlichkeiten Kunst und Architektur.

Insgesamt hat Eva Schmidhuber in den letzten Jahren an zehn solchen Wettbewerben teilgenommen. Fünfmal ist sie bereits in die zweite Runde gekommen, zweimal für ein Bundesgebäude. „Mal kommt man weiter, mal nicht. Das ist dann immer traurig. Aber es braucht ja eine Vielfalt.“ Manchmal könne man die Ideen, die nicht gewählt wurden, auch für einen neuen Entwurf weiterentwickeln. „Und mit jeder Teilnahme und jedem Entwurf gewinnt man auch neue Erfahrungen.“ Sie selbst ist ebenfalls als Fachpreisrichterin in Verfahren aktiv. Es sei immer spannend zu sehen, welche Entwürfe andere einreichen und wie diese in einer Jury ankämen. Manchmal seien es viel zu viele Konzepte, sodass die Jurymitglieder nur sehr wenig Zeit pro Entwurf hätten. „Das hat mir gezeigt, dass man den Entwurf so einfach wie möglich präsentieren sollte – damit ihn alle schnell verstehen.“

Marc-Antoine Carcéréri, Mina Tempa, Eva Susanne Schmidhuber, Anja Idehen, Anja Isensee

100 Quadratmeter Kunstwerk

Sechs Wochen lang, die gesamten Berliner Sommerferien über, hat Eva Schmidhuber vor Ort gearbeitet. Ihre Familie musste derweil ohne sie verreisen. „Das ist ein sehr großflächiges Kunstwerk.“ Mit einer Diamantfräse bearbeitete sie eine Fläche von 100 Quadratmetern Wand vom Boden bis zu 15 Metern Höhe, um die Zeichnung drei Millimeter tief in die Wand einzugravieren. Hierfür druckte sie ihre Zeichnung auf Transferpapier aus – erst im Maßstab von 1:10. Anschließen dann in 1:1. Anschließend wurde das Kunstwerk in über 5.000 kleine Quadrate unterteilt, die wie Pixel das Bild zusammensetzen.

„Es hat Spaß gemacht, war aber auch sehr anstrengend.“ Gleichzeitig sei die Arbeit auf eine Art auch meditativ gewesen. „Ich liebe Zeichnungen.“ Die bearbeitete Oberfläche wurde dann mithilfe der Vergoldermeisterin und Restauratorin Anja Isensee mit Blattgold belegt. Die vergoldeten Möhren wurden anschließend mit einem 2-Komponenten-Lack fixiert. „Wir haben monatelang getestet, um den richtigen Lack für uns zu finden.“ Die Oberfläche, die im Bewegungsbereich der Grundschulkinder liegt, sollte kratz- und abriebfest sein. Dreimal haben Eva Schmidhuber und ihre Kollegin das Kunstwerk lackiert. So können die Kinder auf dem Weg durch ihr Schulgebäude das Kunstwerk anfassen, ohne es zu beschädigen. Die Zugänglichkeit und Nahbarkeit des Kunstwerks ist der Künstlerin ein wichtiges Anliegen.

Insgesamt hat die Umsetzung des Projekts rund ein Jahr gedauert. „Dreimal so lange, wie ich ursprünglich gedacht hatte.“ Es sei häufig mehr, als man vorher denke. Auch Anpassungen waren nötig, damit die wilden Möhren sich richtig ins Treppenhaus einfügen, weil die Gegebenheiten vor Ort am Ende anders waren als ursprünglich angenommen. Jegliche Änderung am Kunstwerk, die vom eingereichten Entwurf abwich, musste Eva Schmidhuber als Künstlerin beantragen, bevor sie sie umsetzen konnte. Das sei aber keine Seltenheit. „Es ist eben erstmal ein Entwurf, den man einreicht und völlig klar, dass dieser im Laufe der Umsetzung noch ausgearbeitet werden muss.“

Wilde Möhre

Kinder entdecken die Stadtnatur

Ergänzt wird das Wandgemälde im Treppenhaus durch eine Beet-Skulptur auf dem Schulhof. Das Beton-Hochbeet hat die Form der Dolde einer Wilden Möhre. Auf dem Beton finden sich, ebenfalls in Gold, die lateinischen Namen von vom Aussterben bedrohten Insekten, für die die Wilde Möhre eine wichtige Nahrungsquelle ist. „Andrena Argentata, Lycaena Tityrus – die Namen klingen magisch, wie Zaubersprüche.“ Die Arten hat Eva Schmidbauer gemeinsam mit dem NABU -Naturschutzbund Deutschland e. V. ausgewählt. Hiermit möchte sie auf das Artensterben aufmerksam machen und die Schüler*innen für das Thema sensibilisieren.

Das Beet werden die Kinder im Rahmen des Partizipationsprozesses, der ebenfalls Teil der Kunst am Bau ist, selbst mit bepflanzen. Die Aussaat mit Kaltkeimern, wie der Wilden Möhre, ist für November geplant. Die Kinder sollen einerseits die Kostbarkeit der Wildpflanzen erfahren und andererseits die des Goldes. Ihre Kunst sei auch eine Wertschätzung für die Kinder. „Mir war es wichtig, das Schulgebäude für die Kinder schön zu gestalten, damit sie sich dort wohlfühlen.“ Das Kunstwerk und sein Thema passten gut zur Bergmannkiez-Gemeinschaftsschule, die ein Umweltprofil hat. Ziel er Partizipation ist es, dass die Kinder Wildpflanzen innerhalb der urbanen Umgebung entdecken. Im Anschluss werden die Schüler*innen gemeinsam mit der Künstlerin einen Kurzfilm drehen.

Die Bergmannkiez-Gemeinschaftsschule besteht unter diesem Namen seit Sommer 2023 und ist aus dem Zusammenschluss der Lina-Morgenstern-Gemeinschaftsschule und der Lenau-Grundschule entstanden. Lina Morgenstern gründete im 19. Jahrhundert in Berlin die Volksküche und veröffentliche dazu Bücher mit Rezepten. Hier möchte Eva Schmidhuber in der Arbeit mit den Kindern ebenfalls anknüpfen und so an den durch die Schulzusammenlegung verlorenen gegangenen Namen erinnern. Gemeinsam mit den Schüler*innen möchte die Künstlerin ein Rezept der ehemaligen Namensgeberin nachkochen und hierfür Wildpflanzen verwenden. Zum Thema Umweltbildung arbeitet die Künstlerin seit zehn Jahren. Im Rahmen eines Bildungsprojekts arbeitet sie künstlerisch mit bildungsbenachteiligten Kindern. „Der Impuls, sich mit dem Thema Stadtnatur zu beschäftigen, kam von den Kindern selbst.“