Radtour in Xhain: 210 Minuten zu den Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit

Am Lausitzer Platz finden sich die interessierten Radler*innen zusammen, die Räder werden verteilt

Am Lausitzer Platz finden sich die interessierten Radler*innen zusammen, die Räder werden verteilt

Markthallenflair, verkehrsberuhigte Plätze, fairer Handel und gut abgestimmte biozertifizierte No-Waste-Kitchen: Die öffentlich finanzierte Fahrrad-Rundtour „Spurensuche durch Friedrichshain-Kreuzberg: Mit dem (E-)Bike vom May-Ayim-Ufer bis zu Fair Fashion“ startet am Lausitzer Platz und führt zu weniger bekannten Ecken Kreuzbergs, an denen Klimaschutz wie auch globale Gerechtigkeit im Alltag ihren Platz gefunden haben.

Am Treffpunkt finden sich interessierte Radfahrer*innen zusammen. Bei der Anmeldung konnte gratis ein E-Bike oder ein „normales“ Fahrrad vorbestellt werden. Wir sind zwölf Personen und stellen uns gegenseitig vor. Schnell wird klar, Luciano aus Namibia hatte mit etwa 12.300 Kilometern die weiteste Anreise. Ihm folgt, wenn auch knapp, mit etwa 3.000 Kilometern Anreisedifferenz Diana, die normalerweise im sonnigen Kalifornien lebt.

Doch bevor weitere Details die Runde machen können, werden die Räder zugeteilt. Die Jüngsten der Gruppe hatten kurioserweise die E-Bikes und ein Lastenrad reserviert. Alle anderen vertrauen auf ihre Beinkraft und fahren entweder mit einem eigenen Bike, oder sie bekommen eines von Tourleiterin Elena (Fair Spaces GmbH) zugewiesen.

Nach einer kurzen Einführung, auch in das Fahren der unterschiedlichen Räder, geht’s los. Über den Platz, der vor einigen Jahren in eine Fußgängerzone umgewandelt wurde, vorbei an vielen Menschen, die in den Cafés die Sonne genießen, über Kopfsteinpflaster zur ersten Station: Markthalle Neun.

Olivier Witzkewitz empfängt uns mit eisgekühlter Apfelsaftschorle und ausgewählten Köstlichkeiten in der Markthalle Neun

Hier empfängt uns Olivier Witzkewitz inmitten der lebendigen Markthalle Neun, zwischen Cafébar und dem kleinsten dm-Drogeriemarkt der Welt, mit einer gekühlten Apfelschorle. Der Tisch ist reich gedeckt mit Kostproben einzelner ansässiger Gewerbe.

Wir merken schnell: Hier wird Essen zelebriert, und die Lebensfreude ist hier zuhause -spätestens seitdem die Betreiber 2012 das historische Gebäude mit ihrem Kauf gerettet haben um mit ihrem Konzept, die Halle als Kiezmittelpunkt für Anwohner*innen und Besucher*innen zu beleben. Fast ausschließlich faire, ökologisch und regional erzeugte Lebensmittel des täglichen Bedarfs gehen hier über die Tresen der Markthändler*innen, die gleichzeitig regionale Arbeitsplätze schaffen und diese mit ihrer Qualität sichern. Bei der Lebensmittelverarbeitung wird hier auf umweltschonende Techniken gesetzt. „Auch, wenn es mitunter länger braucht“, sagt Olivier Witzkewitz.

Rohmilchkäse aus bäuerlicher Produktion

So backt das Domberger Brotwerk auf nur 18 Quadratmetern eines ehemaligen Schiffscontainers feines Brot hinter Glas, zum Zuschauen. Wir dürfen auch anfassen und probieren: Eine köstliche Brotstange, die den Namen Seele trägt. Seelen werden hier jeden Tag frisch gebacken. Dazu passend reicht die gläserne Metzgerei Kumpel & Keule saftigen gekochten Schinken. Als Teil einer neuen, jungen Generation von Metzger*innen, denen Transparenz bei der Fleischverarbeitung sehr wichtig ist, produzieren sie hier in der Markthalle mit viel Leidenschaft in einer gläsernen Metzgerei. An der benachbarten Theke können alle Teile der Tiere erworben werden. Gratis gibt es auf Wunsch auch Zubereitungstipps. An der Käsetheke von „Alte Milch“ gibt es Rohmilcherzeugnisse aus bäuerlicher Produktion. Das Ergebnis: Käse, der auf der Zunge zergeht.

Die Zeit rennt, wir müssen die Markthalle verlassen, obwohl es dort sicher noch einiges zu sehen und zu schmecken gegeben hätte. Also: Rauf auf den Sattel und weiter geht’s.

Die Gruppe radelt entspannt zwischen zwei Fahrbahnen entlang der neuangelegten Beete

Unter der Hochbahn, zwischen den U-Bahnhöfen Görlitzer Bahnhof und Kottbusser Tor, wartet das Testfeld des Reallabors Radbahn auf uns. Hier können die Berliner*innen einen Radweg in Mittellage (zwischen zwei Fahrbahnen) ausprobieren. Rechts und links der Radbahn wurden Beete angelegt. Anwohner*innen sind gerade damit beschäftigt, die Pflanzen zu gießen. Sie winken uns erfreut zu. Hier gibt es sehr praktische Gimmicks, die jedes Radfahrer-Herz erfreuen. So zum Beispiel eine Reparatur-Station mit Luftpumpe und Schraubenschlüsseln in allen Größen. Damit das Werkzeug nicht verschwinden kann, ist alles mit einem Seil befestigt. Hier wird der öffentlicher Raum als Gestaltungsfläche vorgestellt, um Menschen spüren und erleben zu lassen, wie sich Lebensqualität durch bauliche Veränderungen im Stadtraum verbessern würde. Vorbei an gemütlichen Sitzbänken radeln wir weiter auf den Weg in Richtung Fraenkelufer am Landwehrkanal.

Auf Höhe der Admiralbrücke ist am Fraenkleufer ein besonderes Pflaster gelegt

Auf Höhe der Admiralbrücke stoppen wir, um uns am Fraenkelufer die Pflasterung anzusehen. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat sich dazu entschlossen, die faire Beschaffung in der Verwaltung zu stärken. Denn die Einhaltung von zentralen Menschenrechten in der Lieferkette von Produkten und Dienstleistungen, die von der öffentlichen Hand beschafft werden, ist noch lange keine Selbstverständlichkeit. So wurden beim Einkauf der Pflastersteine für das Fraenkelufer und den Mehringplatz die herstellenden Betriebe zur Zahlung gesetzlicher Mindestlöhne verpflichtet.

Außerdem müssen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Produzent*innen getroffen werden. Das ist gerade in der Natursteinindustrie dringend notwendig, da viele Arbeiter*innen an Silikose – der Staublunge – erkranken. Auch ausbeuterische Kinder- und Zwangsarbeit darf in den Produktionsstätten nicht vorkommen. Je mehr Details zu diesen Steinen durchdrängen, desto wertvoller fühlt es sich an, darauf zu stehen.

Nachhaltige E-Bikes aus regionalen Hölzern gefertigt

Wir kreuzen die Admiralbrücke und queren den Grafekiez. Stadtgärten statt versiegelter Flächen entlang der Strecke. Die Anwohner*innen haben hier ein kleines Großstadtparadies geschaffen.* In der Wiener Straße besuchen wir gegenüber der großen Feuerwache das kleine Kaufhaus supermarché,* das seit 15 Jahren zuverlässig ökologische Fair-Trade-Kleidung, grüne Mode und fair produzierte Wohnaccessoires jenseits von ausbeuterischer Massenproduktion und Fast Fashion, verkauft. 100 Quadratmeter Verkaufsfläche bieten jedem Körperteil die passende Kleidung in fairer und ökologisch einwandfreier Qualität. Wer auf sich und die Umwelt achtet, kommt an diesem Fachgeschäft nicht vorbei.

Nur zwei Blocks weiter, in der Liegnitzer Straße betreten wir ein kleines Ladenlokal mit sehr ungewöhnlichen Fahrrädern. Künstlerisch anmutend, in jedem Fall straßentauglich, sehen und fühlen wir edle Bikes aus regionalen Hölzern gefertigt. Die Manufaktur „My Esel“ hat sich darauf spezialisiert, nachhaltige E-Bikes aus Holz zu fertigen. Alles außer gewöhnlich sind diese Kunstwerke des Radsports, die tragbar (etwa 22 kg) sind und auch die Höhen und Tiefen des Großstadtasphalts mit der natürlichen Kraft des Holzes abfedern können.

Das Restaurant Happa, in der Schlesischen Straße, bietet rein vegane zertifizierte Bio-Küche an

Wir lassen die Holz-Bikes hinter uns, fahren an Blühwiesen und Bienenhäusern vorbei, die erst kürzlich am Görlitzer Ufer errichtet worden sind, um den Görlitzer Park herum. Unsere Gruppe quert den Wrangelkiez, um an der Schlesischen Straße eine geschmacklich überraschende Pause im Restaurant HAPPA zu machen.Die Macherinnen – Nina Petersen und Sophia Hoffmann – des Lokals bieten an der belebten Straße seit über einem Jahr rein vegane zertifizierte Bio-Küche, inklusive sozialer und ökologischer Wertschätzung an.
Sophia Hoffmann begrüßt uns und erklärt bei einer erfrischenden Rote- Beete-Limonade, das Konzept ihrer „Zero–Waste-Küche“, die sie bereits als Kochbuchautorin bekannt gemacht hat. Neben gepickelter Melonenschale und einer zarten Lauchcreme staunen wir über den deftigen Geschmack, mit dem das selbst geröstete Zwiebelschalengewürz Lust auf mehr macht. „Wir arbeiten abfallvermeidend und nachhaltig und wollen ein Ort der Gemeinschaft sein.“ Geliefert wird auch, was andere nicht mehr kaufen würden. Hoffmann reicht eine Schale mit Marmelade von grünen Tomaten herum: „Zum Beispiel bekommen wir ab und zu grüne Tomaten, und das ist unsere Idee, auch diese wunderbar zu verarbeiten.“

An der Plaza San Rafael del Sur gibt es neben einem zauberhaften Blick auf die Oberbaumbrücke viele Informationen zur Städtepartnerschaft und Nicaragua

Mit dem guten Wissen, dass hier angemessen entlohnt wird, die Arbeitszeiten allen Beteiligten auch ein Leben und eine Familie ermöglichen, und Gerichte angeboten werden, die sich alle Menschen im Kiez leisten können, machen wir auf den Weg, der uns nun nur fast bis nach Nicaragua führt.

Der Landkreis San Rafael del Sur in Nicaragua ist dank einer Städtepartnerschaft seit über 30 Jahren eng mit Friedrichshain-Kreuzberg verbunden. Für mehr öffentliche Wahrnehmung dieser Städtepartnerschaft wurde am nördlichen Ende der Cuvrystraße die Plaza San Rafael del Sur errichtet. Von hier aus genießen wir einen wundervollen Ausblick auf die Oberbaumbrücke und die Spree. Während Schiffe hupend an uns vorbeifahren, erzählt uns Tourleiterin Elena mehr über Nicaragua und über die Geschichte der Städtepartnerschaft.

Am Trinkbrunnen des Lausitzer Platzes verabschiedet sich die Gruppe voneinander

Von hier aus sind es nur noch wenige Pedaltritte bis zum May-Ayim-Ufer. Auch hier halten wir und erfahren viel über die Namensgeberin dieses schönen Ufers. Sie war eine Berliner Dichterin und Pädagogin, die sich wissenschaftlich und auch politisch mit Kolonialismus und Rassismus auseinandersetzte. Ihr zu Ehren wurde das Groebenufer an der Oberbaumbrücke im Jahr 2010 umbenannt. Es war das erste Mal in Deutschland, dass ein kolonialer Straßenname durch den Namen einer Person ersetzt wurde, die sich kritisch mit Kolonialismus und Rassismus auseinandergesetzt hat.

Noch ein letzter Blick auf Spree und Oberbaumbrücke, dann befinden wir uns auf dem Radstreifen an der Skalitzer Straße. Als wir am Trinkbrunnen des Lausitzer Platzes wieder absteigen, sind wir satt und voller neuer Eindrücke. Abseits gängiger Reiserouten haben wir gesehen, wie alltäglich Klimaschutz in allen Facetten und Lebensbereichen in Friedrichshain-Kreuzberg bereits gelebt und geliebt wird.

Hier geht es zu weiteren Terminen und zur Anmeldung.

Das Projekt wurde aus Mitteln aus den “Zuschüssen für besondere touristische Projekte” der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe finanziert. Die Touren des Kursprogramms der Volkshochschule sind gefördert durch “ENGAGEMENT GLOBAL” mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.