Die Aufgabe: So viele Leben schützen wie möglich

Kinder, auf Beton gemalt, wippen scheinbar auf einer Panzersperre in Kyjiw

Kinder, auf Beton gemalt, wippen scheinbar auf einer Panzersperre in Kyjiw

Die Bezirksbürgermeisterin aus Friedrichshain-Kreuzberg, Clara Herrmann, besuchte gemeinsam mit dem Leiter der Organisationseinheit Klima und Internationales, Lennart Aldick, Ende Juli den ukrainischen Partnerbezirk Darnyzja in Kyjiw. Hier berichtet sie von ihren Eindrücken.

Ein farbenfroher Kindergarten mitten in einem Wohnviertel. Gepflegte Außenanlagen und Spielgeräte, einschließlich eines inklusiven Karussells für die Kinder, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind.

Hinter einem Tor befinden sich weitere Spielgeräte. Sie sind aufgestapelt. Sie standen an der Stelle, wo jetzt gebaut wird. Am 1. September muss die Baustelle fertig sein, denn dann wird der Kindergarten wiedereröffnet und Kinder ab drei Jahren werden hier fünf Tage die Woche betreut. Die Spielgeräte hinter dem Tor kommen dann zurück an ihren ursprünglichen Platz. Nur werden Sie etwas höher stehen als vorher, auf dem Flachdach eines fast in die Erde versenkten neuen Bunkers. In diesen Bunker werden sich Kinder und Erzieher*innen flüchten müssen, wenn der Luftalarm wegen aufsteigender russischer Kampflugzeuge, anfliegender Raketen oder Drohnen ertönt. Aktuell kann das mehrfach täglich passieren, erzählen uns unsere Gastgeber*innen von der Bezirksverwaltung des Kyjiwer Stadtbezirkes Darnyzja. Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine vor über zwei Jahren haben die Kyjiwer*innen knapp 1300 Stunden Luftalarm erleben müssen. Die Aufgabe für die Verwaltung: So viele Leben schützen wie möglich.

Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann (2. v.li.), Verwaltungsleiter Mykola Kalashnik (u.re.), Leiter Klima und Internationales Lennart Aldick (o.re.) und Mitarbeiter*innen der Partnerstadt Darnyzja

Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann (2. v.li.), Verwaltungsleiter Mykola Kalashnik (u.re.), Leiter Klima und Internationales Lennart Aldick (o.re.) und Mitarbeiter*innen der Partnerstadt Darnyzja

Seit September 2022 sind Friedrichshain-Kreuzberg und Darnyzja über eine Solidaritätspartnerschaft miteinander verbunden. Die Partnerschaft trägt dem Wunsch unserer Bezirksverordnetenversammlung Rechnung, sich mit der von Russland angegriffenen Ukraine solidarisch zu zeigen und auf kommunaler Ebene konkrete Unterstützung anzubieten.

Die Mitarbeiter*innen unserer Verwaltung treiben die Partnerschaft mit großem Engagement voran und haben 225.000 Euro an Fördergeldern eingeworben, die das Bezirksamt um 25.000 Euro aufgestockt hat, um in den Kellern der 41 Schulen und in anderen öffentlichen Gebäuden in Darnyzja Schutzräume einzurichten.

In mir breitet sich ein mulmiges Gefühl aus, während ich in den fast fertig gestellten Bunker hinabsteige. In wenigen Wochen werden kleine Kinder diesen Weg nehmen.

Gerade die sehr jungen Kinder im Kleinkindalter kennen nichts anderes als das Leben im Krieg. Der russische Angriff gilt ihnen und ihren Familien, ihrer Art zu leben. Im ersten Jahr des Angriffskrieges wurden in Darnyzja vier Kindergärten und eine Schule angegriffen.

Verwaltungsleiter des Partnerbezirks Darnyzja in Kyjiw Mykola Kalashnik und Clara Herrmann in einem neu eingerichteten Schutzraum für Kindergartenkinder

Verwaltungsleiter des Partnerbezirks Darnyzja in Kyjiw Mykola Kalashnik und Clara Herrmann in einem neu eingerichteten Schutzraum für Kindergartenkinder

Sie alle wurden wiederaufgebaut– in einem beeindruckenden Tempo. Wie müssen sich die Eltern fühlen, die in der Realität des Krieges ihre Kinder weiterhin zur Schule schicken müssen?

Darnyzja ist der größte Bezirk Kyjiws, mit gut 350.000 Einwohner*innen im Südosten am linken Ufer des Dnipro gelegen. 60.000 bis 70.000 Binnenflüchtlinge hat der Bezirk seit Kriegsbeginn aufgenommen. Außerdem wurden die Krankenhäuser aus Bachmut und Kramatorsk zu großen Teilen hierher verlegt. Zusätzlich haben die Verwaltungsbehörden aus sechs Städten in den von Russland besetzten Gebieten in diesem Bezirk Zuflucht gefunden und setzen ihre Arbeit aus dem Exil so gut es geht fort. Das alles bei fast täglichem Luftalarm und oft genug auch direkten Angriffen, die Tod und Zerstörung bringen und zusätzlich das Ziel haben, das Leben der Menschen durch die Unterbrechung der Strom- und Wärmeversorgung unerträglich zu machen.

Familien treffen sich im größten Park des Bezirks, hören dort Musik und Kinder springen durch das spritzende Wasser des begehbaren Brunnen

Familien treffen sich im größten Park des Bezirks, hören dort Musik und Kinder springen durch das spritzende Wasser des begehbaren Brunnen

Doch der Lebensmut ist überall zu spüren. Es ist ein heißer Sommerabend, die Familien treffen sich im größten Park des Bezirks, wir hören Musik und Kinder springen durch das spritzende Wasser eines begehbaren Brunnens.

In Kyjiw gibt es ein gewähltes Stadtparlament und einen gewählten Bürgermeister, aktuell ist das Vitali Klitschko. Die Bezirke sind Verwaltungseinheiten. Mein Gegenüber ist deshalb der Leiter der Verwaltung, Mykola Kalashnik. Sein Team und er leisten Unglaubliches. Sie halten die Schulen und Kindergärten am Laufen, sind verantwortlich für Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen sowie die Feuerwehr und sorgen gleichzeitig dafür, dass Angriffsschäden schnell wieder repariert werden.

Sie arbeiten unermüdlich, damit die Menschen weiterhin in Darnyzja leben können. Sie sorgen für gepflegte Parks und kulturelles Leben, für einen Alltag im Ausnahmezustand. Die Resilienz und Stärke, die sie zeigen, ist in der ganzen Stadt spürbar.

Tausende von Flaggen wurden für im Kampf gefallene Ukrainerinnen und Ukrakiner auf dem Maidan-Platz aufgestellt

Tausende von Flaggen wurden für im Kampf gefallene Ukrainerinnen und Ukrakiner auf dem Maidan-Platz aufgestellt

Die Kolleg*innen dort empfangen uns mit einer großen Herzlichkeit. Sie wünschen sich nichts sehnlicher als Frieden. Einig sind sie sich aber darüber, dass dieser Frieden nur durch einen ukrainischen Sieg erreicht werden kann. Vor einem “Einfrieren” des Krieges haben sie Angst, denn sie wissen, dass Putin und sein Regime umso härter zuschlagen würden. Diese Lektion haben sie seit 2014 gelernt.

Kyjiw, so viel wird mir bei unserem Besuch immer wieder sehr anschaulich, ist eine europäische und eine bunte Stadt. Die Menschen wollen frei und selbstbestimmt Leben und sie sind bereit für diese Lebensweise zu kämpfen. Und nötigenfalls sterben sie für diese Überzeugung.

Viel zu viele Fahnen, jede einzelne steht für im Kampf gefallene Ukrainerinnen und Ukrainer, stehen auf dem Maidan.

Leiter der Verwaltung, Mykola Kalashnik (2. v.li.), Clara Herrmann (3. v.li.) und Leiter Klima und Internationales, Lennart Aldick (o.re.) gemeinsam mit Mitarbeitern des Partnerbezirks Darnyzja in Kyjiw

Leiter der Verwaltung, Mykola Kalashnik (2. v.li.), Clara Herrmann (3. v.li.) und Leiter Klima und Internationales, Lennart Aldick (o.re.) gemeinsam mit Mitarbeitern des Partnerbezirks Darnyzja in Kyjiw

Es ist dieser Wille und diese Lebensweise, die Putins Russland bekämpft und die es nicht dulden will. Hier, weiter westlich, dürfen wir uns keine Illusionen darübermachen: dieser russische Angriff gilt auch uns. Er zielt auf demokratische Prinzipien, die internationale Friedensordnung, auf unsere Freiheiten und unsere Selbstbestimmung.

Nach 34 Stunden mit insgesamt dreimal Luftalarm, einer davon dauerte über zwei Stunden, steigen wir in Kyjiw am Hauptbahnhof in den Nachtzug nach Przemyśl in Polen. Am Bahnsteig verabschieden sich überwiegend Kinder und Frauen von ihren Papas, Opas oder Freund*innen. Keine zehn Minuten später rattert der Zug durch Irpin und Bucha.
Es fällt mir schwer Einzuschlafen. Die Eindrücke und Gespräche hallen lange nach. Die Partnerschaft mit unseren Freund*innen in Darnyzja ist eine Partnerschaft für Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung. Sie ist eine Verpflichtung für uns als Bezirk – und mir nach diesem Besuch ein noch stärkeres persönliches Anliegen. Wir sind diejenigen, bei denen Frieden herrscht. Was für ein Privileg.

Text: Clara Herrmann, Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg