"Der beste Job der Welt"

Wolfgang Nagel im Trauzimmer

Mit dem Standesamt in Kreuzberg ist Wolfgang Nagel familienbedingt über viele Jahrzehnte verbunden – viel länger schon als seine eigene Tätigkeit dort dauert. Denn sein Vater war bis 1986 der Leiter des Standesamtes. Den gebürtigen Kreuzberger führte es über Umwege an den ehemaligen Arbeitsplatz seines Vaters. Nach dem Abitur jobbte er erstmal eine Weile auf dem Blumengroßmarkt zwischen Friedrich- und Lindenstraße und entpackte dort frühmorgens die Blumen. Im Anschluss ging er zum Deutschen Roten Kreuz und arbeite über sieben Jahre als Rettungssanitäter. „Das waren sehr lehrreiche Jahre, aber nicht immer schön.“ Daher wollte er sich beruflich neu orientieren und bewarb sich beim Bezirksamt für eine Beamtenlaufbahn. Da er selbst in Kreuzberg 61 in der Nähe der Heilig-Kreuz-Kirche aufgewachsen ist, kam für ihn nur ein Bezirk in Frage: Kreuzberg.

1987 begann der damals 29-Jährige dann in seinem Heimatbezirk seine Ausbildung im gehobenen Dienst der Verwaltung. Im Zuge der dualen Ausbildung mit Studium an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege am Kurfürstendamm durchlief er verschiedene Stationen, unter anderem im Sozialamt und im Wohnungsamt. Im letzten Jahr seiner Ausbildung kam er ins Standesamt, das damals am Mehringdamm untergebracht war – und hatte Glück. Zum Ende seiner Ausbildung war dort eine Stelle frei, sodass er übernommen und zum Standesbeamten weitergebildet wurde.

1992 schloss Wolfgang Nagel seine Ausbildung zum Standesbeamten ab. Seitdem hat er rund 2.000 Ehen geschlossen, zunächst am Mehringdamm und seit 2004 am heutigen Standort in der Schlesischen Straße 27A. In seinem Büro im dritten Stock stehen noch die amtlichen Schilder des ehemaligen Dienstgebäudes mit dem Berliner Bären und erinnern den vorigen Standort.

Eherpaar bei der Trauung

900 Eheschließungen pro Jahr

27 Mitarbeiter*innen sind im Standesamt Friedrichshain-Kreuzberg beschäftigt, darunter 16 Standesbeamte. Jährlich schließen die Kolleg*innen dort rund 900 Ehen, die meisten an Freitagen, aber auch an anderen Wochentagen. Auch Samstage werden vom Standesamt für Eheschließungen angeboten. In 2024 kann in Kreuzberg an 15 Samstagen geheiratet werden.

Generell ist es kein Problem, in Kreuzberg einen Termin für die Eheschließung zu bekommen. Das Standesamt ist recht flexibel in seiner Terminfindung. Wer es aus besonderen Gründen eilig habe, könne bereits in der Woche nach der Anmeldung heiraten. Schwierig sei es nur, wenn Paare unbedingt an einem speziellen Termin oder Datum, wie beispielsweise 22. Februar oder 8. August, heiraten wollten.
Die Anmeldung der Eheschließung muss im Wohnbezirk erfolgen, das heißt mindestens einer der beiden Brautleute muss in dem Bezirk gemeldet sind. Anschließend ist die Eheschließung innerhalb von sechs Monaten in Deutschland möglich.

Blick ins Trauzimmer

artebereich für Eheschließungen im Standesamt

Nicht immer nur der Hochzeitsmarsch

In Kreuzberg gibt es ein großes Trauzimmer, das für die Zahl der Eheschließungen im Bezirk vollkommen ausreiche. In dem Raum im ersten Stock finden 20 Gäste Platz. Vorn neben dem alten Holztisch steht eine Stereoanlage, auf der Wolfgang Nagel und seine Kolleg*innen die vom Brautpaar gewünschte Musik abspielen. Das seien glücklicherweise immer wieder unterschiedlichen Lieder und Stücke. „Den Hochzeitsmarsch haben offenbar alle Leute glücklicherweise etwas über, sodass die Musikauswahl sehr vielfältig ist. Ich lerne auch immer mal wieder Neues kennen.“ Manchmal gebe es auch Live-Musik mit Instrumenten, gespielt von Bekannten oder Verwandten des Brautpaars. Das sei immer besonders schön und bewegend.

Häufig werden in Kreuzberg Eheschließungen von einem*einer Dolmetscher*in begleitet, wenn ein*e Partner*in oder dessen Familie kein Deutsch verstehen. Spricht eine*r der Brautleute nicht ausreichend Deutsch, ist eine Übersetzung rechtlich sogar vorgesehen, da sichergestellt werden muss, dass die Person versteht, was sie tut. Die gerichtlich anerkannten Übersetzer*innen muss das Brautpaar jedoch selbst buchen und bezahlen.

Gelegentlich werden die Eheschließungen aus Kreuzberg auch in die weite Welt übertragen: „Wir hatten schon Livestreams für Familien in Australien, Japan oder anderen Ländern. Wenn die Verwandten nicht anreisen können, ist das eine schöne Möglichkeit, sie teilhaben zu lassen.“ Die Mitarbeiter*innen im Standesamt seien hier immer bemüht, auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Brautleute einzugehen und diese, soweit es möglich und zulässig ist, zu erfüllen.

Hochzeitsschuhe

Eheschließung an Land, zu Wasser und in der Luft

Reguläre Eheschließungstermine außerhalb des Standesamtes werden in Friedrichshain-Kreuzberg derzeit nicht angeboten. Ob eine andere Örtlichkeit für die Trauung genutzt werden kann, liegt auch im Ermessen des*der einzelnen Standesbeamten. Entscheidend ist vor allem die bezirkliche Zuständigkeit. Die Berliner Standesämter können ausschließlich innerhalb der jeweiligen Bezirksgrenzen Trauungen durchführen. Wenn das Brautpaar eine Örtlichkeit innerhalb des Bezirks vorschlägt, schauen Wolfgang Nagel und seine Kolleg*innen individuell, ob sich dies ohne zu großen Zeitaufwand umsetzen lässt und sie diese Eheschließung an einem anderen Ort übernehmen können.

Wolfgang Nagel war schon mal auf dem Oberdeck eines Schiffes in der Rummelsburger Bucht im Einsatz, wobei ihm wegen des Windes die Zettel wegflogen. Eine frühere Kollegin hat sogar eine Eheschließung an Bord des roten Wasserflugzeugs übernommen. Als begeisterter Motorradfahrer hat Wolfgang Nagel einmal eine Motorradhochzeit mitgemacht. Auch im Brachvogel am Landwehrkanal hat das Team des Standesamtes früher viele Eheschließungen durchgeführt, bevor das Lokal 2021 abbrannte.

Wartebereich für Eheschließungen im Standesamt

Wartebereich für Eheschließungen im Standesamt

„Standesbeamte sind Mangelware“

Für eine Laufbahn als Standesbeamte*r werden die Mitarbeiter*innen der Verwaltung gesondert ausgebildet. In Wolfgang Nagels Fall waren es zwei Jahre praktische Ausbildung durch die erfahrenen Kolleg*innen, um die hoheitliche Aufgabe der Beurkundung übernehmen zu dürfen.

Standardisiert und strukturiert sei diese Ausbildung in Berlin bislang nicht. Während viele westdeutsche Kommunen ihre Standesbeamten für den theoretischen Ausbildungsteil an die Akademie für Personalstandeswesen ins hessische Bad Salzschlirf schickten, sei in Berlin leider nicht für alle Neulinge möglich. Es ist nur festgelegt, dass die Nachwuchskräfte pro Bereich (Geburten, Sterbefälle und Eheschließungen) im Standesamt mindestens sechs Monate verbringen und im Zuge dessen die dafür notwendigen Fachkenntnisse erlernen.

Seit Mitte der 1990er Jahre ist Wolfang Nagel selbst Ausbilder und lernt die neuen Standesbeamten an. Gemeinsam mit seiner Amtsleitung arbeitet er aktuell daran, die Ausbildung für die Standesbeamten in Friedrichshain-Kreuzberg mehr zu strukturieren. „Mit einer planvollen und vergleichbaren Ausbildung zeigen wir auch Respekt für die Berufsanfänger, die zu uns kommen.“

Denn: „Standesbeamte sind Mangelware. Ich kann froh sein, dass mir mein Beruf nicht auf die Stirn geschrieben steht. Sonst würden mich vielleicht andere Standesämter mit dem Netz von der Straße wegfangen – sowie früher das Shanghaien bei Seeleuten!“, scherzt Wolfgang Nagel über das Nachwuchsproblem in seinem Berufsfeld. Zwar würden sie regelmäßig neue Kolleg*innen ausbilden, viele wechselten jedoch nach kurzer Zeit in andere Felder. Als Grund nennt er neben dem demografischen Wandel, der die gesamte Verwaltung trifft, die begrenzten Aufstiegsmöglichkeiten in diesem Berufsfeld und die von der Senatsfinanzverwaltung in Berlin vorgesehene Endbesoldungsstufe A10. Quereinsteiger*innen sind im Standesamt Friedrichshain-Kreuzberg jederzeit herzlich willkommen. Einstiegsvoraussetzung ist die allgemeine Hochschulreife.

Wolfgang Nagel ist ein überzeugter Botschafter für seine Tätigkeit und sagt: „Ich muss Franz Müntefering widersprechen, der mal gesagt hat, SPD-Vorsitzender sei der schönste Job der Welt. Das stimmt nicht. Denn Standesbeamter ist der beste Job der Welt. Ich kann mir keinen bessern vorstellen!“ Der Kreuzberger mag an seinem Beruf vor allem, dass er weisungsfrei agiert und dabei große Verantwortung trägt. Er mag den Kontakt zu Menschen, einerseits zu den Paaren, die er traut, aber auch zu Kolleg*innen in Berlin und aller Welt. Seine Aufgaben bringen es mit sich, dass er regelmäßig Kontakt zu den deutschen Auslandsvertretungen weltweit hat. Mit vielen Mitarbeiter*innen der Botschaften und Konsulate verbindet ihn eine jahrelange Zusammenarbeit.

Wie sehr Wolfgang Nagel für seine Aufgaben brennt, zeigt auch sein später Ruhestand. Der 67-Jährige Beamte hat seine Berufstätigkeit bereits zweimal verlängert und so die Pension nach hinten geschoben. Noch bis 2025 wird er weiter als Standesbeamter arbeiten. Danach ist Schluss, denn für Beamte gilt eine Altersgrenze von 68, die nicht überschritten werden darf.

Eheringe

Promis, Adlige und Punks

Im bunten Innenstadtbezirk waren bei den Eheschließungen, die Wolfgang Nagel durchgeführt hat, im Laufe der Jahre natürlich auch einige Prominente aus Politik und Kultur dabei: eine Tatortkommissarin in der Sprechstunde, ein ehemaliger Regierender Bürgermeister als Trauzeuge und eine – Gala- und Bunte-Leser*innen bekannte – deutsche Adelsfamilie als Hochzeitsgesellschaft. „Die saßen da alle sehr schick gekleidet und mit riesigen Hüten, aber ich kannte die gar nicht – zum Glück, sonst wäre ich vermutlich viel zu nervös gewesen“, gibt Wolfgang Nagel zu: „Natürlich werden bei uns alle Menschen gleich behandelt. Da gibt es keine Sonderbehandlung für Promis. Aber wir sind auch nur Menschen. Wenn also jemand Bekanntes zu uns kommt, den wir persönlich für seine Arbeit schätzen, ist das für uns manchmal doch sehr aufregend!“

Auch den typischen Kreuzberger Lokalkolorit hat der Standesbeamte schon im Trauzimmer erlebt. In den 1990er Jahren waren Teile der Punkerszene vom Kottbusser Tor zu einer Eheschließung gekommen, samt großem Schäferhund, der etwas müffelte: „Das war eine tolle Eheschließung, aber danach musste ich erstmal lüften!“

Hochzeitstorte

Es werden weniger Eheschließungen

Der Großteil der Paare, die Wolfgang Nagel verheiratet, sind zwischen 25 und 45 Jahren. Sehr junge oder sehr alte Paare seien selten. Einzelfälle seien auch Noteheschließungen, die die Standesbeamten ebenfalls übernehmen. In seiner Laufbahn hat Wolfgang Nagel ungefähr 30 solcher Trauungen in Krankenhäusern, Hospizen oder Privatwohnungen durchgeführt. Diese Noteheschließungen werden dann durchgeführt, wenn eine*r der beiden Brautleute lebensbedrohlich erkrankt ist, in den meisten Fällen an Krebs. „Ich bin froh, dass diese Fälle so selten sind. Denn diese Eheschließungen nehmen einen emotional immer ganz schön mit.“

Etwa fünf Prozent der Ehen, die Wolfang Nagel schließt, sind gleichgeschlechtliche Ehen. Außerdem bearbeitet er regelmäßig Vorgänge, bei denen vor 2017 geschlossene eingetragene Lebenspartnerschaften in Ehen umgewandelt werden.

Wie haben sich die Eheschließungen in den letzten Jahrzehnten verändert? Insgesamt seien es weniger Trauungen geworden. „Die Tendenz geht dazu, eher nicht zu heiraten.“ Besonders seit 1998 das Abstammungsrecht reformiert wurde und damit der Unterschied zwischen ehelichen und nicht-ehelichen Kindern beendet wurde, nimmt die Zahl der Eheschließungen ab.

Dafür seien seitdem immer häufiger Kinder der Brautleute bei der Trauung dabei. Kleine Kinder sind allerdings nicht das einfachste Publikum im Standesamt. Obwohl eine standesamtliche Eheschließung nur rund 20 Minuten dauert, seien Kinder schon in dieser kurzen Zeit manchmal so ungeduldig, dass sie laut werden. Wolfang Nagel versucht daher, wann immer möglich, die Kinder in die Zeremonie einzubeziehen. „Ältere Kinder können sehr gut das Übergeben der Ringe übernehmen. Wenn jüngere Kinder jammern oder durch den Raum krabbeln, nehme ich sie schon mal auf den Arm. Aber manchmal klappt das alles nicht. Dann ist es am besten, wenn jemand aus der Hochzeitsgesellschaft mit ihnen vor die Tür geht.“

Hochzeitsstrauß

Respekt, Toleranz und Offenheit

Ein aus Filmen, Serien und anderer Populärkultur verbreitetes Narrativ rund um die Eheschließung ist es, dass eine*r der Brautleute „am Altar“ stehen gelassen wird, weil der*die andere nicht zur Trauung auftaucht. Das sei ihm in über 30 Jahren als Standesbeamter zum Glück nur ein einziges Mal passiert, erzählt Wolfang Nagel: „Die Braut erschien im weißen Brautkleid, er kam nicht. Sie tat mir unendlich leid.“ Wesentlich häufiger passiere es, dass beide Brautleute nicht zum Termin erscheinen. „Das ist auf jeden Fall besser, als wenn unüberlegt eine derart wichtige Entscheidung getroffen wird.“

Bei den Anmeldungen oder Vorgesprächen zur Eheschließung bekommt Wolfgang Nagel immer einen kleinen Eindruck zum Paar und seiner Partnerschaft. „Manchmal, aber recht selten, habe ich im Laufe des Gesprächs das Gefühl: Leute, das wird nix. Das ist natürlich nur ein Eindruck und ein Gefühl. Aber dann würde ich den Paaren gern sagen, dass sie vielleicht lieber nochmal nach Hause gehen und darüber nachdenken sollten.“ Das darf der Standesbeamte natürlich nicht. Das einzige, was er den Paaren bei der Eheschließung mit einem Augenzwinkern oft sagt, und ihnen damit alles Gute für die frisch geschlossene Ehe wünscht, ist: „Ich möchte Sie hier im Trauzimmer nicht nochmal sehen.“ Seine Worte scheinen Wirkung zu zeigen. Denn tatsächlich hat er in seiner Dienstzeit bislang nur einen alten Schulfreund zweimal getraut – beide Male mit der derselben Partnerin.

Ob die Ehen, die er schließt, halten, erfährt Wolfgang Nagel, beruflich selten. Denn Scheidungen sind in Deutschland Sache der Familiengerichte. Die Standesämter, die die Ehe auf den Weg gebracht haben, haben an deren Ende keinerlei Zuständigkeit.

Die Tipps des erfahrenen Standesbeamten für eine gelungene Ehe: „Respekt steht auf jeden Fall ganz oben. Ohne Respekt für einander, aber auch für sich selbst, ist keine Liebe möglich. Jeder muss ich selbst im Spiegel in die Augen schauen können. Nur so kann man eine glückliche Beziehung zu jemand anders führen.“ Auch Toleranz und gegenseitiges Vertrauen sind aus Wolfang Nagels Sicht entscheidend für die Partnerschaft. Das gleiche gilt für Offenheit. „Für eine Beziehung muss man sich dem Partner oder der Partnerin gegenüber öffnen können. Das fällt einigen Menschen sehr schwer, vor allem Männern.“