Die Bibliothek als „Wohnzimmer in der Stadt“

Gabriele Schneider und Patrick Ludwig

Gabriele Schneider und Patrick Ludwig

In der Bezirkszentralbibliothek Pablo Neruda am Frankfurter Tor steht das Ende einer Ära bevor. Nach fast 45 Dienstjahren in Friedrichshain geht die aktuelle Leiterin des Standorts, Gabriele Schneider, 2024 in Rente. Seit Mitte November 2023 läuft der Wissenstransfer an ihren aktuellen Stellvertreter Patrick Ludwig, der die Funktion in der Bezirkszentralbibliothek mit rund 35 Mitarbeiter*innen im Frühjahr 2024 übernehmen wird. Knapp 20 Jahre lang war Gabriele Schneider Leiterin der Bezirkszentralbibliothek. Der Bibliotheksstandort in Friedrichshain zählt jährlich rund 290.000 Besucher*innen und etwa 800.000 Ausleihen.

Kreuzberger Bibliotheken 2023 Pablo Neruda

Gabriele Schneider und Patrick Ludwig

Von der kleinen Kinderbibliothek in die Bezirkszentralbibliothek

Zum 1. März geht Gabriele Schneider in den Ruhestand. Seit 1979 ist sie Bibliothekarin in Friedrichshain. Ihre erste Stelle trat sie nach Abschluss ihres Studiums der Bibliothekswissenschaft in Leipzig in der Kinderbibliothek in der Mainzer Straße, Ecke Scharnweberstraße, an. „Zu der Zeit wurden Bibliothekare für öffentliche Bibliotheken, auch in Berlin, händeringend gesucht.“ Denn viele Bibliothekar*innen arbeiteten in den Gewerkschaftsbibliotheken, die damals besser bezahlten. „Kurz nachdem ich in der öffentlichen Bibliothek angefangen habe, wurden die Gehälter dann aber angeglichen.“

Für Gabriele Schneider als junge Fachschulabsolventin war die freie Stelle als Kinderbibliothekarin in Berlin ein Glücksgriff. Gemeinsam mit einer Kommilitonin zog sie in eine Einzimmer-Altbauwohnung mit der Toilette auf halber Treppe in Friedrichshain. Ihre Mitbewohnerin trat eine Stelle in der neuen Großsiedlung in Marzahn in einem funktionalen Neubau an – „das Gegenteil von der Arbeit in den Friedrichshainer Altbauten.“

Damals gab es im Stadtteil Friedrichshain über ein Dutzend kleinere Bibliotheksstandorte, mehr als die Hälfte der Einrichtungen waren reine Kinderbibliotheken. Viele von ihnen waren in kleinen Ladengeschäften untergebracht, häufig mit weniger als 200 Quadratmetern Fläche. An den kleinen Standorten wurde nach und nach der Bibliotheksbetrieb eingestellt.

Im Laufe ihres Berufslebens wechselte die gebürtige Karl-Marx-Städterin rund ein halbes Dutzend Mal den Bibliotheksstandort innerhalb Friedrichshains und war unter anderem in der Sonntagstraße, der Samariterstraße und der Straße der Pariser Kommune („der erste Standort mit Zentralheizung“) im Einsatz. 2001 öffnete in der Grünberger Straße im Hinterhof eines Fabrikgebäudes erstmals wieder eine Hauptbibliothek im Stadtteil. Nachdem die ursprüngliche Hauptbibliothek in der Mollstraße an der Grenze zu Mitte 1989 geschlossen worden war, gab es in Friedrichshain über zehn Jahre lang nur kleinere Bibliotheksstandorte. „Hier konnten wir nun endlich wieder unseren Bestand aufbauen und erneuern. Denn der entsprach überhaupt nicht mehr den Anforderungen.“ Außerdem konnten endlich wieder Lese- und Arbeitsplätze angeboten werden.

Sommerfest Stadtbibliothek

Seit zwölf Jahren am Standort am Frankfurter Tor

Vor zwölf Jahren zog die Bezirkszentralbibliothek dann an den jetzigen Standort am Frankfurter Tor ein. Das ehemalige Schulgebäude wurde zum Bibliotheksstandort umgebaut. „Nach so langer Zeiten hatten wir bei uns Bezirk endlich mal wieder eine Art Bibliotheksneubau. Als Fachbereich durften wir bei der Sanierung und der Gestaltung mitreden, und unsere Bedarfe, zum Beispiel für einen Veranstaltungsraum, wurden berücksichtigt“, erinnert sich die 65-Jährige. Da sich die Arbeit in Bibliotheken innerhalb des vergangenen Jahrzehnts extrem gewandelt hat, wurde in der Bezirkszentralbibliothek allerdings fünf Jahre nach der Eröffnung schon wieder umgeräumt. Der ursprünglich als Veranstaltungsort angedachte Seminarraum wurde schnell zu klein. 2019 wurde der Werkraum als neuer Ort für Workshops oder Lesungen eröffnet. Doch auch der stößt manchmal an seine Kapazitätsgrenzen.

„Bibliotheken haben sich seit meinem Studium massiv verändert – zum Positiven, wie ich finde! Früher ging es hauptsächlich um Medienausleihe. Inzwischen sind Bibliotheken so viel mehr. Sie sind wichtige Ort in der Nachbarschaft. Sie sind ein Wohnzimmer in der Stadt, ein kommunaler Ort mit vielfältigen Angeboten. Sie sind Orte des Tauschens und Leihens, nicht nur von Medien.“

Als Kinderbibliothekarin stimmt sie diese Entwicklung besonders froh. „In den Kinderbibliotheken haben wir schon immer viele Veranstaltungen gemacht, zum Beispiel Lesungen und Lesenächte. Da freut es mich, dass der Funke nun auch in den Erwachsenenbereich übergesprungen ist. Ich gehe mit einem richtig guten und zufriedenen Gefühl!“

Kreuzberger Bibliotheken 2023 Pablo Neruda

Immer mehr Veranstaltungen

Das Veranstaltungsprogramm der Bezirkszentralbibliothek wurde in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet. Interessiert schauen Gabriele Schneider und ihr Team auf andere europäische Städte, wie Oslo oder Aarhus, und deren Bibliotheksangebote. „Dort gibt insgesamt einen höheren Standard als hier, aber mit unseren Inhalten müssen wir uns als Bibliothek definitiv nicht verstecken.“

Ideen für Veranstaltungen und Projekte kommen sowohl aus der Belegschaft als auch von Bürger*innen. „Viele Menschen aus dem Bezirk bringen sich selbst und ihre Ideen hier ein.“ Die Bibliothek kooperiert hierfür auch mit Vereinen, Initiativen und engagierten Nachbar*innen. Ein aktuelles Beispiel sind die musikalischen Bilderbuchkinonachmittage, die seit Dezember monatlich von einer Gruppe Eltern organisiert werden. „Immer mehr Menschen und Gruppen melden sich mit Ideen für Kurse oder Veranstaltungen bei uns, die auf fruchtbaren Boden fallen“, erläutert Gabriele Schneider: „Darüber freuen wir uns sehr. Es gibt unglaublich viel Interesse und Bedarf. Langsam fehlt uns aber der Platz.“
Patrick Ludwig ergänzt: „Wir haben bei uns keine Veranstaltungen, die schlecht laufen. Alles, was wir anbieten, ist gut besucht!“ Das zeigt sich auch einen Tag vor Heiligabend. Erstmals veranstaltete die Bibliothek auf Initiative von Mitarbeiter*innen hin ein Weihnachtssingen. Der Werkraum in Erdgeschoss war am 23. Dezember bis auf den letzten Platz gefüllt mit Kindern und Erwachsenen, die eine Stunde lang gemeinsam sangen und musizierten. Auch hier zeigte sich, dass die Angebote der Bibliothek den Nerv der Friedrichshain-Kreuzberger*innen treffen.

Besonders nach dem Ende der Corona-Beschränkungen zeige sich ein deutlicher Zuwachs an Teilnehmer*innen an den Angeboten in der Bezirkszentralbibliothek. Durch die wachsende Einwohnerzahl des Bezirks nähmen auch die Bedarfe an die Bibliothek zu. „Eigentlich bräuchten wir mehr Personal und mehr Räume, um diesen Bedarfen gerecht zu werden.“
Positiv stimmt Gabriele Schneider auch, dass die Bibliothek als Einrichtung im Bezirk, aber auch innerhalb des Bezirksamtes, in den vergangenen Jahren immer sichtbarer geworden sei. Auch die Finanzierung habe sich verbessert, entspreche aber immer noch nicht der Finanzierungsvereinbarung mit dem Land Berlin.

Kreuzberger Bibliotheken 2023 Pablo Neruda

Vom Jugendbibliothekar zum Bibliotheksleiter

Der künftige Leiter der Bezirkszentralbibliothek, Patrick Ludwig, ist seit 2018 dort beschäftigt. Nach dem Abitur machte er zunächst eine Ausbildung zum Verlagsbuchhändler bei einem Verlag in Kreuzberg, der geisteswissenschaftliche Texte publizierte, bevor er sein Bachelorstudium für Bibliotheksmanagement in Potsdam begann. Zum Ende seines Masterstudiums der Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin übernahm er die neu geschaffene Stelle als Jugendbibliothekar.

Er baute den Jugendbestand am Standort auf und richtete als eines seiner ersten Projekte die Gaming Zone ein. Außerdem erarbeitete er das Konzept für den Werkraum, der Anfang 2019 eröffnet wurde.
Der gebürtige Ulmer lebt seit 17 Jahren in Friedrichshain. „Dadurch habe ich mich schnell mit der Bibliothek und all ihren Projekten identifiziert. Ich habe ein natürliches Interesse daran, dass hier alles läuft.“ Nachdem er bereits Ende 2021 die stellvertretende Leitung des Hauses übernommen hatte, war es für ihn der logische nächste Schritt, sich auf die Leitung der Bezirkszentralbibliothek zu bewerben. „Da Frau Schneider aktuell eine Vier-Tage-Woche hat, bin ich montags sowieso schon allein im Büro und hatte schon vor dem Wissenstransfer einen guten Eindruck davon, welche Aufgaben bei der Leitung liegen.“

In 2023 hat der 35-Jährige berufsbegleitend eine Weiterbildung für Nachwuchsführungskräfte in Bibliotheken an der Freien Universität Berlin absolviert. Davon habe er inhaltlich profitiert. „Im Rahmen der Weiterbildung habe ich Kolleginnen und Kollegen aus Bibliotheken deutschlandweit kennengelernt und konnte mir ein breites Netzwerk aufbauen. Das ist sehr hilfreich, weil ich nun viele andere Bibliotheksführungskräfte kenne, die ich bei Bedarf nach Erfahrungen und Ideen fragen kann.“ Für das neue Jahr steht neben einem prall gefüllten Jahresprogramm am Standort auch die Einstellung von fünf neuen Kolleg*innen an. Für die neuen Mitarbeiter*innen muss Patrick Ludwig als Führungskraft die Einarbeitungspläne und Hospitationen an den anderen Standorten der Stadtbibliothek organisieren. Durch die Übergabe seiner Vorgängerin fühlt er sich auf diese Aufgabe, die er erstmals übernimmt, gut vorbereitet. Außerdem erhält die Bezirkszentralbibliothek in 2024 neue Ausleihtheken auf allen Etagen – ein Projekt, das gut vorbereitet und eng begleitet werden muss. Insgesamt fühlt sich der neue Leiter für sein Aufgabengebiet gut gewappnet: „Ich habe in den sechs Jahren hier schon einiges erlebt und ein dickes Fell. Gleichzeitig ist die Leitung des Hauses natürlich nicht zu unterschätzen.“

Kreuzberger Bibliotheken 2023 Pablo Neruda

Zufriedener Abschied in den Ruhestand

Für den Ruhestand hat sich Gabriele Schneider einiges vorgenommen: „Ich werde sicher eine gute Kundin der Volkshochschule hier im Bezirk. Ich freue mich darauf, viele gestalterische Kurse zu belegen und endlich wieder richtig kreativ zu arbeiten, zum Beispiel mit Holz oder in der Schmuckgestaltung.“ Das kreative Arbeiten habe ihr in den letzten Jahren als Leitung zwischen Administration und Budget ein wenig gefehlt. Außerdem wolle sie mehr Sport machen, lesen und viel für sich tun: „Damit ich richtig alt werde!“ Zudem freut sich die Friedrichshainerin auf mehr Zeit für die Familie, besonders für ihr vier Monate altes Enkelkind, das ebenfalls in Berlin lebt.