Wenn Babys Bäume wachsen lassen
Bild: Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg
Unser Bezirksamt hat sich Ziel gesetzt, die Müllmenge im Bezirk drastisch zu senken und dazu im Vorjahr das Zero-Waste-Konzept vorgestellt. Es dient als Leitfaden und Roadmap auf dem Weg zum „Zero Waste“-Bezirk. Im Rahmen dessen laufen verschiedene Projekte und Programme.
Aktuell kooperieren wir hierzu mit dem Projekt Dycle, das einen komplett neuen Weg entwickelt hat, wie Babywindeln hergestellt und wiederverwertet werden. Die Organisation möchte den unterbrochenen Kreislauf von Material und Nährstoffen wieder schließen. Benutzte Babywindeln können gesammelt und in hygienischen, fruchtbaren Humus/Terra Preta umgewandelt werden.
Familien aus Friedrichshain-Kreuzberg können sich bis Ende des Monats für einen zweiwöchigen kostenlosen Praxistest der komplett kompostierbaren Windeleinlage anmelden. Die benutzten Windeleinlagen werden dann eingesammelt und von Dycle zu Humus weiterverarbeitet, der zum Pflanzen von Beerensträuchern und Obstbäumen verwendet wird.
Der Kontakt zwischen dem Team von Dylce, das 2017 mit der Entwicklung seiner Windeleinlage begonnen hat, entstand über die Transition-Touren, die das Bezirksamt gemeinsam mit Transfair e.V. seit einigen Jahren für seine Mitarbeiter*innen anbietet. 2018 besuchten Gruppen von Mitarbeiter*innen das Team von Dycle in ihren Räumen. Dycle und die bezirkliche Koordinatorin für nachhaltige Entwicklung, Helena Jansen, blieben in Dialog. Zum Zero-Waste-Konzept des Bezirks passt die Idee wunderbar. Außerdem gibt es im Bezirk viele Babys und zahlreiche Familien, denen Müllvermeidung und Nachhaltigkeit am Herzen liegen.
Wir haben uns mit den beiden Gründer*innen Ayumi Matsuzaka und Christian Schloh getroffen und uns die Idee von Dycle und ihre Vision erläutern lassen.
Ayumi Matsuzaka hat in Weimar Kunst studiert und sich mit dem Thema Kunst im öffentlichen Raum befasst. Über eines ihrer Kunstprojekte kam sie mit dem Thema Windelmüll in Berührung und beschäftigte sich weiter damit. „Das Projekt war für mich ein Wendepunkt. Ich habe entschieden, mich künftig anders mit dem Thema auseinanderzusetzen als künstlerisch und mich lieber mit der Produktentwicklung einer komplett kompostierbaren Windeleinlage zu beschäftigen.“
Der Diplom-Ingenieur Christian Schloh war als Mitgründer sofort von der technischen Herausforderung begeistert, eine solche Windel zu entwickeln, die zu Terra Preta weiterverarbeitet werden kann.
Die beiden erklären: „Unsere Vision ist es, fruchtbare Erde für ökologische Landwirtschaft zu erzeugen. Mit diesem Ziel sind wir zum Thema Windeln gekommen. Denn die Ausscheidungen von Babys und Kleinkindern sind die ideale Grundlage für Terra Preta.“ Auch die benutzten Windeleinlagen seien eine perfekte Basis für Humus viel besser für Böden geeignet als Gülle aus der Landwirtschaft. Denn Babys und kleine Kinder werden wesentlich gesünder und vielseitiger ernährt als Tiere in konventioneller Haltung. „Und mit weniger Medikamenten!“
Die beiden wünschen sich ein Umdenken. „Menschliche Ausscheidungen sollten nicht generell als etwas Ekliges wahrgenommen werden, das möglichst schnell weggespült werden muss. Denn es ist etwas, womit jeder einen Beitrag für fruchtbare Böden und gesunde bezahlbare Lebensmittel leisten kann.“
„In der Kooperation mit dem Bezirksamt wollen wir Neugier wecken und Vorurteile gegenüber Stoffwindeln und dem Konzept ‚windelfrei‘ abbauen“, sagt Christian Schloh. Im zweiwöchigen Testzeitraum bekommen Familien die Möglichkeit, das Konzept einfach mal für sich ausprobieren. „Dabei wollten wir aber niemanden überzeugen. Wir möchten ein Angebot machen. Niemand sollte sich deswegen stressen. Es werden sicher auch Familien feststellen, dass Dycle für sie nicht funktioniert. Das gehört dazu!“ Ayumi Matsuzaka fügt hinzu: „Dennoch hilft uns das Feedback der Familien – und für die Gesellschaft und die Umwelt zählt jede kleine Veränderung, jede eingesparte Einwegwindel.“
Den Umgang mit Stoffwindeln muss man üben. Um die Eltern darauf einzustellen, bietet Dycle aktuell mehrere Online-Workshops zur Einführung ins Thema und Vorbereitung auf die Praxis an.
Auch Einrichtungen, wie Kitas und Familienzentren, und Multiplikatorinnen, beispielsweise Hebammen, sollen ins Projekt eingebunden werden. Die Kontaktaufnahme mit den Kitas gestaltet sich allerdings etwas schwieriger als angenommen. Nach Monaten des Notbetriebs und regelmäßig notwendigen Anpassungen der Coronamaßnahmen in den Einrichtungen sowie generellem Personalmangel haben viele Kitaleitungen gerade keinen Kopf und keine Zeit für weitere Projekte. Hinzukommen Schließzeiten in vielen Häusern über die Sommerferien. „Das hatten wir ein bisschen unterschätzt“, erklärt Christian Schloh selbstkritisch. „Aber wir bleiben dran. Dafür waren viele Familienzentren begeistert von unserem Konzept.“
Kinder und Familien hätten einen ganz anderen Bezug zu Pflanzen und Stadtgrün, wenn diese mit der Terra Preta gepflanzt oder gedüngt würden, die durch kompostierbare Windeln entstanden sind. Daraus wüchse dann eine besondere Verantwortung für die Pflege und den Erhalt der Bäume und Pflanzen.
Den Projektgründer*innen geht nicht nur um Windeln. Es geht um das gesamte System. Wie wollen wir leben? Wie gehen wir mit unseren Ressourcen um? Alles ist miteinander verbunden. Es ist ein Kreislauf. „Es geht darum, das System zu verändern. Mit den kompostierbaren Windeln machen wir einen Anfang. Am Ende geht es darum, in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen und wie wir als Gesellschaft mit Rohstoffen und unserer Umwelt umgehen wollen. Wie soll unsere Stadt in 20 Jahren aussehen?“, so die Gründerin. Dafür könne jede*r Einzelne einen Beitrag leisten – Familien können beispielsweise beim Thema Wickeln ansetzen.
Windeln und Windelmüll seien natürlich nur ein Aspekt der großen Herausforderung Müllvermeidung, doch in gewisser Weise gehe auch dieses Thema alle in der Gesellschaft etwas an, und nicht nur Eltern kleiner Kinder. „Christian und ich haben beide keine Kinder. Dennoch beschäftigen wir uns mit der Frage, wie wir bei den Windeln etwas verändern können. Wieso sollten sich nur Eltern damit beschäftigten. Kleine Kinder sind Teil unserer Gesellschaft. Das Thema Wickeln geht uns also alle an.“