Felix Weisbrich berichtet aus Brüssel

Brüssel: Panorama des Grand Place

Bericht vom 10.10.2022

“Ach, Du gehst nach Brüssel zum Verwaltungsaustausch? Das ist ja eine riesige EU-Verwaltung dort.” So, oder so ähnlich waren die meisten Reaktionen vor meiner Abfahrt. Ich bin aber nicht in Brüssel als Hauptstadt der EU, sondern hier, um die Kommune Brüssel mit ihren Projekten in der Verkehrsverwaltung und der Aufgabe des klimaresilienten Umbaus kennenzulernen. Denn natürlich ist Brüssel von den intranationalen Organisationen EU und Nato geprägt. Natürlich prägt das auch das Stadtbild. Was dabei aber dabei manchmal aus dem Blick gerät ist, dass Brüssel eine Großstadt mit einer wirklich komplexen Vergangenheit und Gegenwart ist. Dabei ist Vieles sehr vergleichbar mit Berlin: Die Stadtstruktur, die Verwaltungsorganisation und die Art, wie Probleme angegangen (oder verschleppt) werden und wie in der Stadt mit den notwendigen Veränderungen der Verkehrsinfrastruktur und bei er klimarobusten Stadtgestaltung umgegangen wird.

Im Kern interessieren mich an meinem Aufenthalt drei Fragen, die aus meiner Arbeit im SGA Friedrichshain-Kreuzberg resultieren.
• Wie setzten die Kolleg*innen dort Verkehrsinfrastrukturen für Rad- und Fußverkehre um?
• Wie agiert Brüssel bei Projekten zur Verkehrsberuhigung?
• Wie arbeiten die Kolleg*innen im landschaftsplanenden und gestaltenden Bereich und welche Projekte zur Anpassung der Stadt an den Klimawandel gibt es?

Die vier Wochen des Verwaltungsaustausches mit LoGo Europe habe ich in zwei Phasen aufgeteilt: Zwei Wochen im Oktober und zwei Wochen im November.

Brüssel ist eine polyzentrische Stadt. Mit insgesamt 19 Gemeinden. In einer dieser Gemeinden habe ich in den ersten drei Tagen hospitiert: In Schaarbeek.
Danach war ich einige Tage in der Region Brüssel, die mit den 19 Gemeinden den gesamten urbanen Raum „Brüssel“ umfasst.

Schlussendlich hospitierte ich in der Stadtverwaltung Brüssel, die mit dem Innenstadtring, dem Fünfeck auch den klingenden Namen „Pentagon“ hat.

An den ersten Tagen in Schaarbeek habe ich zuerst den Dienstsitz der Verwaltung besucht. Das historische Rathaus liegt inmitten eines Jugendstil-Viertels auf einem sternförmig angelegten Platz de la Colignón. Dort sitzen auch die Kolleg*innen des Grünflächenamtes, mit denen ich mir einen der Parks in fußläufiger Nähe anschaute: Der Josaphatpark ist eine 1904 angelegte englische Gartenanlage mit Stadion, Spielwiesen, einem Zoo und Anlagen für Bogenschießen. Mir fällt bei dem ersten Begang auf, wie gut das Amt im Vergleich zu unserem Grünflächenbereich personell aufgestellt ist. Im Park liegen geräumige Gewächshäuser, die zur Anzucht von Stauden für Rabattenbeete genutzt werden. Im Viktoriapark in Kreuzberg haben wir eine auch in etwa die gleiche Zeit fallende Infrastruktur (errichtet 1886), allerdings fehlt uns mit einem Personalabbau von 90% des gärtnerischen Personals schon lange die Kapazität, die Stauden- und Beetbereiche so zu unterhalten, wie es der ursprünglichen Konzeption entsprechen würde. Im Josaphatpark ist aber noch etwas besonders, denn ähnlich wie bei uns im Görlitzer Park laufen hier auch Parkläufer*innen in Doppelstreife umher und sprechen – vor allem Hundehalter*innen – auf die Parkregeln an. Die Läufer heißen hier „Gardiens de la Paix“ also „Friedenswächter“ und haben ähnlich, wie bei uns in Berlin die Aufgabe, die Parkregeln zu verdeutlichen, ohne dabei wie das Ordnungsamt oder Polizei Ordnungswidrigkeiten zu verteilen. Was interessant ist: Die „Gardiens“ regeln auch – ähnlich Schullots*innen den Verkehr vor Schulen und geleiten Die Schüler*innen sicher über Fußüberwege. Vor allem gibt es in Brüssel schon das, was wir im Bezirk noch einrichten wollen: Schulstraßen, bei denen der Kfz-Verkehr vor Schulbeginn für Autos komplett gesperrt wird. Auch hier übernehmen die Gardiens die Aufgabe, die Sperrschranken zu bedienen und mögliche Konflikte zu lösen. Wenn ich im November wiederkomme, werde ich mir die Tätigkeit im „Wintereinsatz“ erneut angucken und tiefer in die Finanzierung der Friedenswächter einsteigen. Denn in Brüssel ist ebenso wie in Berlin bei den Parkläufern und den Kiezhausmeistern die Finanzierung nur zeitweilig gesichert.

Nach den Tagen in Schaarbeek traf ich mich mit der Nichtregierungsorganisation „BRAL“, die sich für die Verkehrswende in Brüssel einsetzen. 2021 hatte ich zusammen mit BRAL an mehreren Online-Konferenzen mitgewirkt, um die Berliner Pop-Up-Radwege mit den Ansätzen in Brüssel zu vergleichen.

Brüssel hat kein Mobilitätsgesetz wie Berlin, aber einen strategische Verkehrs-Gesamtplanungen für die Region Brüssel: Den Plan „GoodMove 2020 – 2030“, der für die gesamte Region und für alle Verkehrsarten Netz- und Planungsvorgaben macht. Entstanden ist dieser Plan in umfangreichen Planungs- und Beteiligungsverfahren. Die Mitarbeiter*innen bei BRAL sind mit dem Ergebnis durchaus zufrieden, sieht der Plan doch einen umfassenden Ausbau des Rad- Fuß- und ÖPNV-Netzes vor. Weiterhin sollen in insgesamt 50 Planungsebieten umfangreiche Verkehrsberuhigungsmaßnahmen unternommen werden. Inhaltlich findet der Plan also Zustimmung, aber – und auch hier gibt es große Parallelen zu Berlin – Die Umsetzung sollte aus Sicht von BRAL schneller und flächendeckender erfolgen.

Dass dies durchaus passiert konnte ich mir dann bei den Kolleg*innen in der Planungsabteilung in der Region Brüssel anschauen. Der regionale Radverkehrskoordinator zeigte mir einige der insgesamt 45 Kilometer Pop-Up-Radwege, die Brüssel in der ersten Welle der Pandemie errichtete. Dabei konnten die Region auf die fertigen Netzplanungen des Fahrradroutennetzes zurückgreifen. Das hat vor allem bei der rechtssicheren Begründung geholfen. Weiterhin sperrte die Region in Zusammenarbeit mit den Gemeinden 10 Straßen für den Autoverkehr, um sie für Fuß- und Radverkehr zu öffnen. Dies fand insbesondere in der Nähe von Grünanlagen statt. Im „Bois de la Chambre“ einem Stadtwald, wurde drei hindurchführende Straßen gesperrt und dienen jetzt als hochfrequentierte Mobilitätsachsen auf denen Familien und Sporttreibende unterwegs sind. Einige dieser Straßen sind nach Rechtsklagen inzwischen wieder für den Autoverkehr geöffnet, viele jedoch als Erholungsstraßen geblieben. Auch die Pop-Up-Radwege sind inzwischen durch massiver Beton-Schrammborde zu dauerhaften Radverkehrsanlagen umgebaut. Hier waren die Kolleg*innen interessiert an unseren Ansätzen der Protektion, denn Diskussionen über das Stadtbild und die Ästhetik von Radverkehrsanlagen gibt es auch in Brüssel.

Es war faszinierend, wie auch in Brüssel die Krise als Möglichkeitsfenster genutzt wurde, um zunächst Provisorien zu errichten, die in der Folgen dann zu dauerhaften Einrichtungen weiterentwickelt wurden. Überzeugt hat mich der umfassende Plan „GoodMove“, der für den gesamten Verkehrs-Umweltverbund einschließlich der Maßnahmen der Verkehrsberuhigung den Rahmen vorgibt, innerhalb dessen dann die beschriebene taktische Vorgehensweise (Ausprobieren, Beobachten, Verstetigen) greifen kann.

Allerdings gibt es dabei auch Rückschläge. In Anderlecht, einer der 19 Gemeinden scheiterte während meines Aufenthaltes eines der Verkehrsberuhigungsprojekte an zu starken Protesten. In Anderlecht waren zwei der insgesamt 50 Planungsgebiete für Verkehrsberuhigung relativ schnell umgesetzt worden. Gemäß den Prinzipien des GoodMove-Planes errichtete die Gemeinde dort ein System aus gegenläufigen Einbahnstraßen und Pollerreihen (Modalfilter), damit der Kfz-Durchgangsverkehr nicht mehr mit teils deutlich überhöhter Geschwindigkeit durch die Nebenstraßen stattfindet.

Teile der Bevölkerung vor Ort fühlten sich nicht informiert bzw. lehnten das Projekt grundsätzlich ab. Zum Abbruch des Projektes führten dann eine Vielzahl von vorsätzlichen Beschädigungen an Straßenschildern und Modalfiltern. Anderlecht ist ein armer Stadtteil und Ziel war es, gerade der Bevölkerung, die besonders auf den öffentlichen Raum angewiesen ist, einen besseren, gut gestalteten und sicheren öffentlichen Raum anzubieten. Im Gespräch mit den Kolleg*innen der Region gewann ich den Eindruck, dass die sozialen Nöte der Bevölkerung überprägend sind und Verkehrsprojekte als Maßnahmen wahrgenommen werden, die an dieser Realität nichts ändern und „von Außen“ kommen. In Schaarbeek und im „Pentagon“ laufen die GoodMove-Verkehrsberuhigungsprojekte hingegen weitaus reibungsloser.

Ich werde im November tiefer in die Analyse einsteigen, um für das Verfahren der „Flächendeckenden Verkehrsberuhigung“ in Friedrichshain-Kreuzberg übertragbare Erkenntnisse zu sammeln.

Das Hauptprojekt der Region Brüssel in Fragen der Verkehrsberuhigung ist aber die Einführung von Tempo 30 Km/h für die gesamte Stadtregion. Das Projekt ist im November 2021 angelaufen und gilt mit Ausnahme für die Stadtautobahnen und einige Bundesstraßen im Brüsseler Stadtgebiet wirklich flächendeckend. Aus Deutscher Sicht ist das natürlich besonders interessant, weil nach der Straßenverkehrsordnung die Regelgeschwindigkeit von 50 Km/h innerorts nur in sehr konkret zu begründenden Ausnahmefällen (z.B. KiTa oder Schulstandorte) für Hauptstraße auf Tempo 30 Km/h reduziert werden kann. Inzwischen haben 130 Kommunen in Deutschland ihren Willen bekundet, Tempo 30 einzuführen, scheitern aber an der bundesdeutschen Vorgabe.

In Brüssel ist das Projekt nach einem knappen Jahr ein voller Erfolg. Zwar werden noch weitaus zu wenig stationäre oder mobile Geschwindigkeitskontrollen durchgeführt (wie in Berlin) und die stationären Anlagen haben noch sehr große Toleranzbereiche bzw. lösen teilweise erst bei über 45 Km/h aus, um die zentrale Brüsseler Bußgeldstelle nicht zu überlasten (ein Argument, das in Berlin auch genannt wird). Aber die Effekte sind dennoch beeindruckend: Die Durchschnittsgeschwindigkeit hat sich tatsächlich deutlich reduziert und die Anzahl von Unfällen im Stadtgebiet ist nachweislich gesunken. Der Verkehrsfluss ist besser, weil weniger Brems- und Beschleunigungsvorgänge ausgelöst werden und die Stickoxid-Emissionen, wie auch die Schallbelastung durch den fließenden Autoverkehr hat abgenommen. Diese Effekte stellen sich auch in anderen Städten, in denen die Richtgeschwindigkeit auf Tempo 30 reduziert wurde, ein.

Leider waren die exakten Analysen in Brüssel noch nicht publiziert, aber ich werde den Aufenthalt im November nutzen, um dann eine gute Daten- und Argumentationsgrundlage für die Reduktion der Richtgeschwindigkeit auch in Berlin mitbringen zu können.

An den letzten zwei Tagen schaute ich mit zwei Ingenieuren der Stadt Brüssel die Projekte zur Anpassung des Straßenlandes an den Klimawandel an. Auch hier war ich von dem Mut und der Fortschrittlichkeit der Kolleg*innen beeindruckt. Der Boulevard Anspach, im Zentrum von Brüssel ist hier vielleicht das herausragendste Projekt: Direkt an der alten Börse gelegen war diese Straße bis vor drei Jahren eine vierstreifige Hauptverkehrsstraße. Nach Protesten wegen der hohen Verkehrsbelastung unternahm die Stadt Brüssel einige einschneidende Veränderungen: Die Straße und die meisten Nebenstraßen ist heute eine Zone für Fuß- und Radverkehr, der Seitenraum der Straße, dort wo vorher der Parkstreifen und eine Fahrbahn war, ist durch großflächige Beete entsiegelt. Der Charakter der Straße vorher / nachher ist komplett gewandelt, die kahle Straße von einst ist jetzt von einer zweireihigen Baumallee gesäumt. Die Bäume und Büsche aus klimaresilienten Baumarten (Amberbaum, Zerreiche) sind noch in der Anwachsphase, werden aber, wenn sie ausgewachsen sind, der quirligen Geschäftsstraße Schatten und Verdunstungskühle geben.

Der Lieferverkehr kann nur Vormittags bzw. mit Ausnahmegenehmigung in die Straße einfahren. Gesichert wird der Bereich durch versenkbare Poller, die mit Zahlencode zu öffnen sind. Die Gewerbetreibenden sind zu Beginn sehr skeptisch bis deutlich ablehnend gewesen, inzwischen ist auch hier in der Boulevard Anspach deutlich geworden, dass solche Projekte der Verkehrsberuhigung nach einer kurzen Übergangsphase den Gewerbetreibenen nutzen und in einer Straße, die zum entspannten Spazieren einlädt auch neue Geschäftsmöglichkeiten offeriert.

Mit den Projekten der Entsiegelung am Görlitzer Ufer, in der Bergmannstraße, am Halleschen Ufer und anderer Projekte der Klimaanpassung gehen wir im Bezirk ähnliche Wege. Die Ausführungsgeschwindigkeit in Brüssel hat mich beeindruckt, was zum Teil an den gut standardisierten Beteiligungsverfahren liegt und zum anderen Teil sicherlich auch darin begründet ist, dass – ausgelöst durch einen hohen politischen Handlungsdruck – das Planungsteam interdisziplinär zusammengesetzt war: Dort wurden die Kompetenzen von Landschaftsplaner*innen, Verkehrsplaner*innen und Verwaltungsleuten für das Straßenverkehrsrecht gebündelt. Dies sind Projektstrukturen, die wir in Berlin über alle Ebenen noch anstreben müssen, um wirklich schneller zu werden.

Ich habe auf meinem ersten Aufenthalt in Brüssel das Engagement der Kolleg*innen und die Geschwindigkeit mancher Prozesse dort schätzen gelernt. Interessant ist aber natürlich auch, aus den Fehlern zu lernen. Während meines zweiten Aufenthaltes werde ich die ersten Eindrücke vertiefen und insbesondere in den Bereichen Tempo 30, Schulstraßen und Klimaanpassungen im Straßenland die genauen quantitativen Ergebnisse und die Projektstrukturen dahinter genauer anschauen.