Mit 50 Jahren gehört man zum alten Eisen, diese These trifft auf Sie nicht ganz zu.
Treffsicher war sie auf alle Fälle im spießigen Schwabenland und hat mit Ehemann Wolf-gang zur Gentrifizierung in Spandau beigetragen. Getragen hat sie auch über zwei Jahr-zehnte die Idee, das Bildung garnichts bringt, wenn man nicht lesen kann. Lesen konnte Sie mitunter auch Ihren Gehaltsscheck, der deutlich niedriger ausfiel, als der der männlichen Kollegen! ….und was sagt die Heger dazu: „Ich hab mir nie was gefallen lassen und den nächsten Monat hatte ich genauso viel auf dem Lohnstreifen!“
Lesen bildet, also kein Wunder das das ehrenamtliche Engagement die Überschrift „Team Lesespaß hat“!
Vorgeschlagen für die goldene Spandauer Ehrennadel 2023 – Sylvelin Heger.
Sylvelin Heger ist eine Dame, der man nichts abschlägt. Ein gewisses Temperament schimmert immer wieder durch, zur Unterstützung macht sie ausschweifende Handbewegungen, um Dinge zu unterlegen, auch mal ausschweifend zu berichten oder blumig aus-zuschmücken. Ich merke, dass Sie mir ab und an auf die Lippen schaut, um Wörter besser zu verstehen, fast ablesen zu können. Gelernte Lebenserfahrung, wie sie mir zu verstehen gibt, da sie seit dem siebten Lebensjahr nur noch begrenzt und lediglich mit Hilfsmitteln hören kann. Aber dies ist nur eine von vielen Geschichten aus ihrem Leben, die Sie unter-legt mit dem Satz: „ Wenn ich morgens die Augen aufbekomme und den Kopf hoch dann läuft es!“
Durchsetzungsstark, mit einem sozialen Kompass ausgestattet und verdammt klar.
Sylvelin Heger ist waschechte Spandauerin und wird am 02.11.1946 unseren Bezirk bereichern.
Die Mutter ist Bezugsperson, die sich als Sekretärin durchlschägt. Da die werte Frau Mama mit sechs jüngeren Geschwistern groß wird, ist auch die Erziehung der kleinen Sylvelin streng und von Temperament geprägt – ein Wesenszug denn man heute durchaus bei Ihr wiedererkennt.
Die Kindheit ist behütet, auch wenn sich bei Ihr eingebrannt hat, dass Sie ihren Großvater nie lachend erlebt hat und sie zukünftig auch noch zwei jüngere Brüder bekommt.
Die Schulzeit an der Lilly-Braun hält nur „Lieblingsfächer“ bereit, die Erinnerung an den modischen Lehrerschick der 50er mit Seidenbluse, Plaise-Rock und Stützstrümpfen und an Chor, Handarbeit, Handball und Theatergruppe – sie wir die Schulzeit mit dem Abi abschließen.
Doch der Freudentaumel sich in einem neuen Lebensabschnitt zu schmeißen ist getrübt.
Die Mutter ist kränklich, fordernd und sieht in Sylvelin Krankenschwester und Hauswirtschafterin in einer Person. Ein Umstand der an Ihr nagt und sie dazu bewegt der häuslichen Umklammerung zu entfliehen.
Ziel ist hierbei ein Landstrich, wo man alles kann außer hochdeutsch, wo man verstörende Aussprüche wie „schaffe schaffe häusle baue“ vernimmt und Schupfnudeln und Maultaschen verspeist.
Sylvelin wird ein sozialpraktisches Jahr absolvieren, sich um lernbehinderte Kinder kümmern und bei Ihrer Ankunft von „Kulturschock“ sprechen, als Sie dieses in Ravensburg in Baden-Württemberg antritt.
Ein Jahr später wird Sie mit angereichertem Erfahrungsschatz aus dem südlichen Ausland, vielen Eindrücken und mit einem schwäbischen Anhängsel zurück in die Spandauer Gefilde kommen.
Wolfgang der „freundliche Klugscheißer“, wie sie ihn mit einem verschmitzten Lächeln beschreibt ist adretter Chemiestudent, bringt die spontane Sylvelin auch heute noch zum Lachen und reist in Spandau ein, als die Mitzwanzigerin eine Kaufmannslehre bei Hertie in der Altstadt beginnt.
Damals sind wohnliche Umstände noch mit Schlagworten, wie „Wirtin“, „Toilette halbe Treppe tiefer“ und dem „Verkupplungsparagrafen“ verbunden, der Förderung und Tolerierung außerehelichen Geschlechtsverkehrs (sogenannte Unzucht) unter Strafe stellte.
Somit nutzt Wolfgang die gesamte Klaviatur der Romantik 1973 und die Gunst der Stunde, da die Wirtin des Hauses über männlichen Zuzug dezent begeistert ist und fragt voller emotionaler Inbrunst: „Ich wollte dich fragen, ob wir heiraten wollen!“ – eine Verbindung die dieses Jahr 50-jähriges Bestehen feierte.
1976 scheint eigentlich alles perfekt mit der Geburt des gemeinsamen Sohnes, doch das Schicksal hält für die Beiden einen anderen Weg bereit. Einen emotionalen, einen zerreißenden, einen prägenden, einen tragischen, einen unvorstellbar leidvollen Weg.
1997 wird nach einem Martyrium sein Lebenslicht erlischen und er wird seine Eltern zu-rücklassen.
Alleingelassen vom Staat, mit einer schmerzenden Gefühlswelt und mit der Einsicht, dass ihr die „Bude auffen Kopf“ fällt, versucht die fast 50 jährige Sylvelin ihre Lebensgeister nochmal zu motivieren, zu wecken und anzustacheln.
Nachdem man Sie beim Jobcenter belächelt und ihr den hochmotivierten Satz: „Mit 50 kriegen sie doch keine Arbeit mehr!“ mit auf den Weg gibt, stößt sie zufällig auf eine An-zeige im wichtigsten gedruckten bezirklichen Printorgan, dem „Spandauer Volksblatt“.
Und hiermit beginnt dann eine durchaus amüsante, empathische und lustvolle über zwei Jahrzehnte währende Reise, mit und um dem Verein „Team Lesespaß“ , der sich um kindliche Fragen kümmert wie: „Weißt du was über Pinguine?“
Das Angebot richtet sich an Kinder zwischen der ersten und sechsten Klasse und soll spielerisch und empathisch den Weg zum Lesen ebnen, so der wilde Plan der acht Menschen, die Anfang der 2000er, die Idee jeden Dienstag zwischen 16-17 Uhr in der Bezirkszentralbibliothek in Spandau zum Leben erwecken.
Wunsch und Ziel ist es sich nicht an Schulen zu orientieren, sondern mit Bastelformaten, in Spielformen und durch Vorlesen Kinder dazu zu bringen, mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen hantieren zu können. Also kommt es wie es kommen muss, 2002 wird Sylvelin Koordinatorin der Gruppe und ist auch mal mit 20 Kindern allein auf weiter Flur, denn das Konzept kommt an. So sieht das auch Frau Rein aus der Zentralbibliothek, die zwar mit lobenden Worten, aber nicht mit finanzieller Mitteln glänzen kann, aber Frau Hegers kommunikative Art zu nutzen weiß.
„Frau Rein hat mich zum Betteln geschickt“, erinnert sich Sylvelin und hat Erfolg. Es finden sich Möglichkeiten in und um das Bezirksamt – bis heute.
Wer dem Irrtum aufsitzt eine Stunde die Woche ist ja sehr überschaubar, der verkennt das Projekt, die Lebensfreude und das Herzblut.
Die Vorbereitung von kreativen „Lesestoff Spielen“, das Matchen unterschiedlicher Charaktere mit dem richtigen Lesepaten, der Austausch mit Eltern, die Festigung von Normen und Regeln, wie „Wir kauen keinen Kaugummi in der Bücherei“ oder die Grundtendenz, wie man mit einem „Buch Bingo spielt“, Aufsässigkeit oder auch Renitenz der kleinen Racker inklusive, ist Arbeit.
Die gemeine Stunde ist lediglich die Bühne und die Organisation, der Aufwand, die Vorbereitung, das was dazu gehört und immense Zeit kostet.
Sylvelin Heger und ihr Team prägen Lebenswege, begleiten diese weit über das „Team Lesespaß“ hinaus und wecken Emotionen die berühren.
„Du bist genauso lieb wie meine Oma, aber schicker“, tut ein kleiner Mann mal kund und zum nächsten Treffen wird die Oma einfach miteingeladen, um das zu überprüfen.
Ihre Augen leuchten als Sie das erzählt, sagt aber auch Sätze wie: „Kinder sind blockiert, weil die Eltern es so wollen“ oder auch „Wenn man die Kinder locken kann, ist alles in Ordnung!“
Am 1. Mai 2023 hat Sie ihr Engagement beendet, „weil du ab 75 Baustellen kriegst“, reflektiert Sie Ihr Alter.
Sie hat Ihren Beitrag geleistet, als Vorleserin, Sozialarbeiterin, psychologische Stütze, Erziehungsratgeber, kreative Koordinatorin und Plaudertasche.
Das Team hielt Ihren Ausstieg für einen Scherz, die ersten Monate danach, hat sie vom „Team Lesespaß“ geträumt.
Nun frönt sie mit Ihrem Mann dem Reisen, in verschiedene Bundesländer, nach Korfu, nach Lemona am Gardasee oder dem Zweitdomizil in Baden Württembergischen Wilhelmsdorf, ihr Mann quittierte den Ausstieg nämlich eher mit dem Satz: „Hurra, jetzt geht’s los“!
Für jemanden, der im Kleinen viel bewirkt hat, sich seinem Tun hingegeben hat und immer mit dem „Team Lesespaß“ verbunden sein wird.
„Alles was gut ist verschwindet“, sagt Sie am Ende unseres Gespräches.
Du bist immer noch da und darauf kann Spandau stolz sein!
Die goldene Spandauer Ehrennadel 2023 für Sylvelin Heger.