Die sprachliche Situation in Kitas und Grundschulen vieler sozialer Brennpunktgebiete, der Fachkräftemangel und der hohe Anteil von Kindern mit hohem bis sehr hohem Sprachförderbedarf und der hohe Anteil von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern stellt das Bildungssystem aktuell vor große Herausforderungen. Die Corona-Pandemie hat die Situation weiter verschärft: monatelang waren die Bildungseinrichtungen geschlossen, Kinder wurden aus angeleiteten Bildungsprozessen herausgerissen und der Selbstbildung überlassen. Der Fachkräftemangel hat sich weiter verschärft.
Das sogenannte „Sprachbad“, das für eine gute Sprachentwicklung und allgemeine Bildung nötig wäre, gibt es nicht mehr, wenn weit mehr als die Hälfte der Kinder gar keine oder nur sehr geringe Sprachkenntnisse im Deutschen haben. Wenn es schon für deutschsprachige Eltern eine große Herausforderung ist, das Lernen der Kinder zu Hause zu begleiten, stellt es für Familien nicht deutscher Herkunftssprache eine nicht mehr leistbare Aufgabe dar. Deswegen ist effektives Arbeiten in der frühkindlichen Bildung und Sprachförderung dringender als je zuvor. Allen Kindern soll die Gelegenheit gegeben werden, sich an Gemeinschaftsaktivitäten und Bildungsangeboten zu beteiligen und dabei ihre Sprachfähigkeiten im Deutschen so auszubauen, damit eine erfolgreiche Schulbildung möglich wird.
Im vorliegenden Artikel soll das Prinzip der aufbauenden Sprache erläutert werden, das in dieser Situation greift. Es ist eine pädagogische Grundhaltung, bei der das Kind in allen Bereichen entlang seiner natürlichen Entwicklung begleitet und gefördert wird.
SFZ Schwerpunkt Das Prinzip der aufbauenden Sprache. Das Lernen im Dialog.
Bild: SFZ/Volkmann
Inhaltsverzeichnis
- 1. Aufbauende Sprache als Grundidee jeder Bildungsarbeit
- 1.1 Bildung und Erziehung
- 1.2 Potential der nächsthöheren Entwicklungszone
- 1.2 Selbstwirksamkeit spüren
- 2. Aufbau der Bildung: die Stufen der wichtigsten Bereiche
- 2.1 Stufen der Abstraktion: EIS-Prinzip
- 2.2 Stufen der Interaktion: die Drei-Stufen-Lektion von Maria Montessori
- 2.3 Stufen der sprachlichen Entwicklung
- 3. Aufbau eines Bildungsangebots, einer Fördereinheit
- 4. Dialogisches Vorgehen: Impuls- und Fragetechnik
- 5. Literatur
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2.1 Stufen der Abstraktion: EIS-Prinzip
Die aufbauende Sprache begleitet das Kind bei jedem neuen Thema oder Sachinhalt durch verschiedene Phasen der Abstraktion, beginnend mit dem ganz Konkreten. Wenn zum Beispiel Raum-Lage-Beziehungen wie auf, unter, neben behandelt werden, dann lässt man die Kinder erst einmal am eigenen Körper spüren, wie es sich anfühlt, auf einem Tisch, unter einem Tisch, neben einem Tisch, auf einer Matte, unter einer Matte, neben einer Matte zu sein. Erst wenn das Kind die Lagewörter auf, unter, neben usw. beim konkreten Handeln versteht, geht man zur bildlichen Darstellung über. Und erst wenn die bildliche Darstellung und die Verbindung zum konkreten Handeln klar ist, wird die symbolische Darstellung eingeführt. Wenn bei einem Thema dem Kind alle drei Ebenen geläufig sind, erst dann kann spielerisch von Ebene zu Ebene übersetzt werden, dann kann ein Transfer aller Darstellungsformen untereinander
erfolgen. Die Stufen der Abstraktion folgen im Wesentlichen dem EIS-Prinzip von Jerome Bruner, der für den Mathematikunterricht enaktive, ikonische und symbolische Repräsentationen vorschlägt, beispielsweise die enaktive Darstellung von Zahlen mit Fingern oder Stäbchen, die ikonische Darstellung durch Punkte auf Papier oder einem Würfel und die symbolische Darstellung durch Ziffern 2.
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Typische „Lehrerfragen“, wie „Wie nennt man dieses Tier?“, bei denen die pädagogische Fachkraft die Antwort selbst (besser) kennt, sind zu vermeiden. Impulse in Form von echten, persönlichen Fragen, wie „Welches Tier magst du am liebsten? Welches Tier möchtest du haben (malen/darstellen)?“ dagegen motivieren das einzelne Kind, denn auf diese Fragen weiß nur das Kind selbst die Antwort. So können die Kinder durch ihre Antwort etwas bewirken. Sie drücken ihre Wünsche und Bedürfnisse aus, werden verstanden und bekommen eine Reaktion auf ihre sprachlichen Äußerungen, spüren die Selbstwirksamkeit von Sprache. Wichtig dabei ist, dass die Kinder stufenweise zu immer längeren Antworten ermuntert werden. Die Kinder sollen nicht zum Sprechen gezwungen werden. Auch eine stumme Geste oder ein Blick sind ein Zeichen dafür, dass ein Kind die Frage verstanden hat. Auf die Reaktionen des Kindes antwortet die pädagogische Fachkraft immer in Form des korrektiven Feedbacks.
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Beispiel:
Pädagogische Fachkraft: „Welches Tier magst du am liebsten?“Kind 1: „Ich mage die Hase lieb“
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Pädagogische Fachkraft: „Ach so, Du magst den Hasen am liebsten. Ich mag den Hasen auch am liebsten. Soll ich dir den Hasen geben?“
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Je nachdem, wie die Kinder auf die Impulse reagieren, kann man den Schwierigkeitsgrad nach oben oder unten anpassen, oder auch wieder zurück auf eine der ersten beiden Stufen der Drei-Stufen-Lektion zurückkehren.
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Zum Beispiel
Pädagogische Fachkraft: „Welches Tier magst du am liebsten?“Kind 2 zeigt auf den Hasen
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Pädagogische Fachkraft: „Ach so, Du magst den Hasen am liebsten. Ich mag den Igel am liebsten. Kannst du mir den Hasen und den Igel bringen, dann erzähl ich dir etwas.“
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Die Handlungen und sprachlichen Reaktionen des Kindes werden von der pädagogischen Fachkraft immer gewürdigt und wenn nötig im korrektiven Feedback beantwortet. Kann ein Kind auf der von der pädagogischen Fachkraft gewählten Stufe noch nicht reagieren, dann wird es auf der vorherigen Stufe zum Spielen und Erleben eingeladen.
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Zum Beispiel:
Pädagogische Fachkraft: “Bringst du mir bitte den roten Ball.“ (Stufe 2)Kind 3 bringt einen blauen Ball.
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Pädagogische Fachkraft: „Danke für den Ball. Das ist der blaue Ball. Schau mal, der ist so blau wie mein T-Shirt.“ (Stufe 1)
„Bringst du mir jetzt noch den roten Ball?“ (Stufe 2)
„Der rote Ball liegt dort. Schau mal, der Ball ist rot, wie deine Hose und wie Hassans Socken.“ (Stufe 1)
„Was ist noch alles rot?“ (Stufe 2) -
Weiteres Beispiel:
Pädagogische Fachkraft: Welches ist deine Lieblingsfarbe? (Stufe 3, geschlossene Frage)Kind 4: Keine Antwort.
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Pädagogische Fachkraft: „Du hast eine blaue Hose und ein gelbes T-Shirt an. Ist deine Lieblingsfarbe blau oder gelb?“ (Stufe 3, Entweder-Oder-Frage)
- Zunächst muss man die Niveaustufe jedes Kindes genau erfassen.
- dann muss man einerseits jedem Kind geeignete Impulse bieten, damit es Antworten bis zu seiner Satzbaustufe geben kann
- und andererseits auf der nächsthöheren Stufe gezielt Modelle bieten sowie Impulse und Fragen stellten, damit das Kind auch die nächste Stufe erreichen kann.
Für alle anderen Bildungsangebote und Betreuungssituationen bedeutet dies, dass man neue Informationen, Materialien und Aktivitäten so mit dem Kind bespricht, dass es auf seiner Satzbaustufe antworten kann.
In der Sprachförderpraxis hat sich herausgestellt, dass es sehr auf die Situation, das Thema und die Verfassung des Kindes ankommt, auf welchem Niveau es sprechen kann. Es gilt also in jeder Situation das Niveau neu zu bestimmen, um dem Kind immer die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen. Das gelingt nur durch Interaktion und Dialog.
Es gibt noch weitere Stufen der sprachlichen und allgemeinen Entwicklung, die in der jeweiligen Situation eine Rolle spielen, dazu an anderer Stelle mehr 5.
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In der Praxis hat es sich bewährt, den Kindern den immer gleichbleibenden Ablauf anhand von Bildkarten zu verdeutlichen. Anstelle der Bildkarte für Phase 3 legt man sich am besten gleich den Notizblock bereit.
Phase 1: Interaktives Darstellen
Die pädagogische Fachkraft bietet den Kindern ein neues Thema mit konkreten Materialien und grobmotorischen Aktivitäten an, zum Beispiel:- Einführung eines neuen Themas mit konkreten Gegenständen und Bewegungsspielen im Stuhlkreis oder Raum (leerer Stuhl, Platztausch, Laufmemory)
- Einführung eines neuen Wortfeldes mit konkreten Gegenständen und Kimspielen (Ich sehe was / ich habe was, was du nicht hast, Kofferpacken, Suppekochen)
- interaktive Bilderbuchbetrachtung mit Handpuppen und Requisiten in Form des Mitmachtheaters
Die Kinder werden in grobmotorische Tätigkeiten eingebunden, dürfen Sprache, Wortschatz, Geschichten anhand konkreter Dinge und Aktivitäten erleben, während die pädagogische Fachkraft spricht und handelt.
Phase 2: Kreative Vertiefungsaktivitäten
Die pädagogische Fachkraft bietet den Kindern zu dem eben eingeführten Thema feinmotorische Aktivitäten an. Die konkreten Gegenstände / Requisiten aus Phase 1 stehen dabei weiter zur Verfügung.- malen
- schneiden, ausschneiden, aufkleben
- mit Knete modellieren
- Minibuch gestalten
- Sprechzeichnen
- Spiele gestalten und spielen: Kimspiele am Tisch
Die pädagogische Fachkraft ist in dieser Phase sprachliches und kreatives Modell. D.h. sie versprachlicht ihre eigenen Pläne, Ausführungen und Ergebnisse und erkundigt sich nach den Plänen, Ideen und Lösungsstrategien der Kinder.
“Wir malen jetzt ein Bild zur Geschichte. Ich möchte am liebsten alle Figuren malen. Welche male ich zuerst? Ich fange mit dem Hasen an. Ali gibst du mir bitte den Hasen? Ich brauche einen braunen Stift. Lea, gibst du mir bitte den braunen Stift? Erst male ich den Kopf und dann die langen Ohren. Can, was willst du malen? Was brauchst du dafür? …”
In dieser Phase kommt es darauf an, dass die Kinder kreativ tätig sind und dabei den neuen Sprachschatz (Wortschatz und Strukturen) vertiefen. Nebenbei üben sie ihre Feinmotorik und ihre darstellenden und gestalterischen Fähigkeiten.
Während der Kreativphase kann auch mit den Kreationen gespielt werden. So kann ich zum Beispiel Teile eines gemalten Bildes mit bunten Karten belegen und fragen, was sich darunter versteckt. Oder ein gemaltes Bild abdecken und langsam aufdecken und die anderen raten lassen, was man gemalt hat.
Phase 3: wertschätzendes Feedback
In dieser abschließenden Phase präsentiert die pädagogische Fachkraft ihre eigene kreative Arbeit, ist dabei sprachliches Vorbild, gibt aber auch Hinweise, wie sie gestalterisch tätig war.
Dann dürfen die Kinder ihre kreativen Arbeiten präsentieren. Die pädagogische Fachkraft gibt zuerst mündlich interessiertes, positives konstruktives Feedback und macht sich dann Notizen.
Bild: SFZ
Das schriftliche korrektive Feedback enthält eine wichtige Förderkomponente, denn es wird die Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski) ausgenutzt. Die Äußerungen des Kindes werden knapp über dem tatsächlichen Sprachniveau des Kindes notiert. Es wird die (bald) erreichte Satzbaustufe notiert, ggf. mit Unterstreichungen, die die Ergänzungen der pädagogischen Fachkraft verdeutlichen. Die Kinder erhalten so Feedback in der Entwicklungszone, in der sie am besten profitieren können. Das schriftliche korrektive Feedback ist gleichzeitig Dokumentation und Fördermaterial für das Kind.
Pädagogische Fachkraft: Was soll ich für dich, Can, aufschreiben?
Kind: Ich bin gemalen ein Igel.
Pädagogische Fachkraft: Schön! Ich habe auch einen Igel gemalt und Ali hat auch einen Igel gemalt. Also wie schreibe ich das für dich, Can, auf: „Ich habe …
Die pädagogische Fachkraft schreibt den korrekten Satz lautierend auf: „Ich habe / einen Igel / gemalt“ liest ihn dabei mehrfach vor, stellt Rückfragen und würdigt inhaltlich und sprachlich das Geschaffene.
Auch aus dieser Phase kann man ein Spiel machen.
Die pädagogische Fachkraft liest am Ende ihre Notizen mit falscher Namenszuordnung vor und die Kinder korrigieren. Pädagogische Fachkraft: „Lea hat gesagt: ‚Ich habe einen Igel gemalt‘, stimmt das?“
So schafft man Situationen, in denen die Kinder echte Kommunikationsbedürfnisse haben und das gerade erstellte Fördermaterial einsetzen.
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Das Prinzip der aufbauenden Sprache
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Netzwerk Sprachbildung
Ein Projekt des SFZ in Kooperation mit GSS Schulpartner
September 2015 – Dezember 2017
SprachFörderZentrum Berlin-Mitte
Badstraße 10
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