Abschied in den Ruhestand - nach 32 Jahren

Dr. Begoña Petuya-Ituarte hat in ihrem Büro bereits große Kartons vorbereitet

Dr. Begoña Petuya-Ituarte hat in ihrem Büro bereits große Kartons vorbereitet

Dr. Begoña Petuya-Ituarte (66) hat große Umzugskartons geordert, in denen sie all die Dinge sicher verpacken will, die in den vergangenen 32 Jahren immer in greifbarer Nähe für sie waren – Aktenordner, nach Themen sortierte Arbeitsmappen und andere wichtige Unterlagen. Nur, dieses Mal ist es kein Umzug, sondern ein Abschied in den wohlverdienten Ruhestand.

Seit 1992 arbeitet sie für das Bezirksamt Kreuzberg, seit 2001 für den fusionierten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Zuletzt als Verantwortliche für die Psychiatriekoordination für den gesamten Bezirk, für die Planungs- und Koordinierungsstelle Gesundheit (QPK).

Fragt man sie nach ihren Sprechstunden, muss sie lachen, denn so darf man sich das nicht vorstellen: “Insgesamt gibt es in Berlin zwölf Psychiatriekoordinator*innen, in jedem Bezirk sollte eine Person dafür verantwortlich sein. Ich bin hier eine Einzelkämpferin, arbeite auf der Meta-Ebene und bin für die Menschen im Bezirk, im Bereich der seelischen Gesundheit zuständig. Sprechstunden gibt es in dem Sinne hier nicht.”

Dr. Begoña Petuya-Ituarte am Brücken-Bär im Eingangsbereich im ehemaligen Rathaus

Leicht erklärt, doch weitaus umfangreicher sind ihre Aufgaben, denn jetzt holt Dr. Begoña Petuya-Ituarte etwas weiter aus: „Ich bin für die Koordination und Vernetzung, der an der psychiatrischen Versorgung beteiligten Personen, Behörden, Institutionen und freien Trägern/ Vereine bei der Wahrnehmung des Sicherstellungsauftrages für eine gemeindenahe und bedarfsgerechte psychiatrische Versorgung im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg verantwortlich.“ Darüber hinaus steht die 66-Jährige für fachliche Beratung, Erarbeitung von Handlungsempfehlungen und Stellungnahmen für politische und fachliche Gremien zur Verfügung.

„Grundsätzlich haben wir die wechselnden Lagen im Bezirk im Auge. Wir müssen immer schauen, was wir haben, welchen Bedarf wir abdecken müssen, und mit wem wir zusammenarbeiten können. Das ist Gremienarbeit. Auf Grundlage der Daten im Bezirk, die wir unter anderen aus den Bedarfen der Angebote durch die freien Träger, wie zum Beispiel therapeutischen Wohngemeinschaften oder Beratungsstellen analysieren wir, welche Leistungen im Bezirk benötigt werden und welche möglich sind.“

Etwa 4.000 Menschen wurden jährlich beim sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes begutachtet, schätzt die Psychiatriekoordinatorin, nach Auskunft des Sozialpsychiatrischen Dienst des Bezirkes., Etwa 400 Menschen davon werden jährlich im Rahmen des Steuerungsgremiums mit einer Leistung zur Teilhabe versorgt. Allein im Bereich Psychiatrie unterstützt das Amt für Soziales etwa 2.500 Betroffene mit Eingliederungshilfen.

Dr. Petuya-Ituarte schildert weiter, “Das ist nur ein Ausschnitt. Unzählige Menschen mit einer psychischen Erkrankung, treten nicht in Erscheinung und werden auch nicht erfasst, weil sie ein ganz normales Leben führen. Sie arbeiten, haben Wohnungen und sind in allem unauffällig.”

Nicht erst mit der Pandemie habe sich die Gesellschaft dahingehend verändert, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen steige. „Wir werden immer mehr Menschen, der Platz wird weniger, neue Krisen entwickeln sich und die Ängste wachsen – all das beeinflusst die seelische Gesundheit mehr und mehr. Gerade die Menschen, die am Rande unserer Gesellschaft ohnehin nicht die besten Chancen haben, rutschen leicht in eine Abwärtsspirale.”

Hier, am ehemaligen Rathaus in der Yorckstraße begann ihre Karriere, hier geht sie 32 Jahre später in den Ruhestand

Daher wünscht sich Dr. Petuya-Ituarte für die Zukunft mehr Prävention:„Wir müssen einfach früher anfangen einzugreifen. Wir müssen mehr informieren, Vorurteile und Unwissenheit über Krisen und die Entwicklungen von psychischen Erkrankungen und auch der Umgang mit diesen. Mit mehr Information müssen wir auch Vorurteile gegenüber erkrankten Menschen abbauen. Es ist so wichtig, dass Stigmatisierung und Chronifizierung psychischer Krankheiten früh genug verhindert werden.“ Doch dafür brauche es auch gesicherte Finanzierungsgrundlagen.
So liegt ihr zum Beispiel die Kontakt- und Beratungs- und Behandlungsinitiative soulspace, für junge Menschen in Krisen, sehr am Herzen. Hier finden junge Menschen im Alter zwischen 15 und 35 Jahren Hilfen und Unterstützung.

Während sie eine Unterlage sucht, hebt sie einen der großen Kartons an, da fällt ihr plötzlich etwas Wichtiges ein: “Hier, im ehemaligen Rathaus Kreuzberg fing alles für mich an, und hier soll sich auch der Kreis nach 32 Jahren wieder schließen.” Nach dem Informationswissenschafts-Studium in ihrer Heimatstadt Bilbao (Spanien) zieht es sie auch aus familiären Gründen 1986 nach West-Berlin. Ein Abenteuer für die Mutter eines Sohnes: „Ich konnte kaum Deutsch, als ich kam. Mein spanisches Studium wurde hier nicht anerkannt. Also lernte ich fleißig die Sprache und fing ein zweites Studium in Berlin an: Sozialarbeit/-Pädagogik an der staatlichen Fachhochschule in Berlin-Schöneberg.” Danach trat sie ihr Berufspraktikum im Jugend- und Kulturzentrum „Schlesische 27” und in der Familienfürsorge des Bezirksamts Kreuzberg an.

“Als berufstätige Frau und alleinerziehende Mutter war der öffentliche Dienst im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg genau das Richtige für mich. Hier fand ich ideale Bedingungen, um Kind und Karriere unter einen Hut zu bekommen. Selbst die Promotion wurde mir ermöglicht. Dafür bin ich sehr dankbar.”

In den ersten Berufsjahren folgte ein befristeter Arbeitsvertrag dem nächsten. Im Jahr 1999, inzwischen unbefristet angestellt, erhielt Frau Petuya Ituarte ein Stipendium über das Frauenförderungs-Programm der Alice-Salomon-Hochschule. Sie nahm zwei Jahre unbezahlten Sonderurlaub, um sich der Promotionsarbeit mit dem Thema ‘Handlungsstrategien geschiedener Migrantinnen’ am Institut für Soziologie der Humboldt-Universität zu widmen.

2001 nahm sie ihre Tätigkeit im inzwischen fusionieren Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wieder auf. Die Promotion erfolgte 2006 an der Freien Universität Berlin. Seitdem ist Frau Petuya Ituarte Doktorin der Soziologie.

Diese Qualifikation ermöglichte ihr von 2002 bis 2004 einen Lehrauftrag an der Alice-Salomon-Hochschule. Dort lehrte Frau Dr. Petuya Ituarte ‘Interkulturelle Sozialarbeit’ und ‘Die Umsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes in der Praxis der freien und öffentlichen Träger’.
Die freiberufliche Tätigkeit als Lehrbeauftragte flankierte ihre Tätigkeit als Angestellte für das Jugendamt im Bereich Hilfen zur Erziehung. In der Koordinationsstelle war Frau Dr. Petuya Ituarte bis 2011 verantwortlich für die Qualitätsentwicklung und -sicherung in Kooperation mit Einrichtungen der Jugendhilfe und Eingliederungshilfe in Berlin und anderen Bundesländern. Anschließend war sie als Koordinatorin für die Umsetzung der Schulsozialarbeit im Bezirk verantwortlich.

Von Herbst 2013 bis Mitte 2015 hatte Frau Dr. Petuya Ituarte eine Gastprofessur an der Evangelischen Hochschule Berlin im Fachbereich Soziale Arbeit inne.

Wieder zurück im Bezirksamt übernahm sie dann die Verantwortung für die Psychiatriekoordination. Diese Tätigkeit endet am 31. Juli 2024 mit dem Eintritt in den Ruhestand.

Frau Dr. Petuya Ituarte resümiert: “Das sind Meilensteine meines bewegten und herausfordernden Berufslebens. Für mich standen in den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern immer die Menschen mit ihren Bedürfnissen im Vordergrund. Nun ist es an der Zeit, den Kopf frei zu bekommen. Ich freue mich auf das Neue und auch darauf, mit meiner 90jährigen Mutter zusammen noch viel Schönes zu erleben.

Der angestrebte Wissenstransfer an die Nachfolge ließ sich im Rahmen einer persönlichen Einarbeitung / Übergabe leider nicht realisieren und erfolgt nun indirekt über bereitgestellte schriftliche Informationen. Für das gut bestellte Feld der Psychiatriekoordination wechselt die Zuständigkeit zum 1. August 2024.