Housing First

Housing First

Ein neuer Hilfeansatz zur Beendigung von Obdachlosigkeit

Housing First ist ein relativ neuer, in den USA entwickelter sozialpolitischer Ansatz beim Umgang mit Obdachlosigkeit. Er bildet eine Alternative zum herkömmlichen System von Notunterkünften und vorübergehender Unterbringung. Der Ansatz ist klar formuliert: Eine obdachlose Person oder eine Familie braucht als erstes und wichtigstes eine Wohnung. Andere Probleme können auch noch nach dem Einzug in eine Wohnung angegangen werden; obdachlose Menschen müssen also nicht wie im bisher gängigen Stufenmodell erst einmal ihre „Wohnfähigkeit“ beweisen.

Seit einigen Jahren wird der Ansatz „Zuerst ein Zuhause“ auch in Deutschland, Großbritannien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Portugal und Österreich umgesetzt. In Berlin wurde Housing First von Januar 2018 bis September 2021 im Rahmen zweier von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales finanzierter Modellprojekte erprobt und evaluiert: „Housing First Berlin“ und „Housing First für Frauen Berlin“. Zielgruppe waren alleinstehende, langjährig obdachlose Frauen und Männer, die keinen Zugang zum herkömmlichen System der Regelversorgung finden konnten, erklärtermaßen den Wunsch nach einer eigenen Wohnung und Unterstützung hatten und bereit waren, an einem wöchentlichen Beratungsangebot teilzunehmen.

Für beide Modellprojekte liegen Evaluationsberichte vor. Nach Ablauf der Modellprojektphase ist Housing First im Land Berlin verstetigt und ausgebaut worden. Es wird aktuell über Zuwendungen an Projektträger finanziert. Ziel ist die Überführung von Housing First in das Regelsystem der Wohnungsnotfallhilfe.

Housing-First-Projekte

  • Housing First Berlin
    Träger: Neue Chance gGmbH / Verein Berliner Stadtmission*
    housingfirst.berlin
    (Projektstart am 01.10.2018)
  • Housing First für Frauen Berlin
    Träger: Sozialdienst katholischer Frauen e. V. Berlin
    housingfirst-frauen.berlin
    (Projektstart am 01.10.2018)
  • Housing First ZIK
    Träger: ZIK – Zuhause im Kiez gGmbH
    housingfirst-zik.de
    (Projektstart am 01.06.2023)

Fragen und Antworten

  • Wie funktioniert Housing First?

    Housing First verfolgt den Ansatz, Wohnungslosigkeit unmittelbar zu beenden, indem obdachlosen Menschen eine eigene Wohnung angeboten wird – mit Mietvertrag und ohne Vorbedingungen. Damit die ehemals obdachlosen Menschen ihre Wohnung auch langfristig halten können, können sie flexible wohnbegleitende Hilfen in Anspruch nehmen, deren Inhalt und Umfang sich an ihren individuellen Bedürfnissen orientiert.

  • Woher kommt Housing First?

    Housing First wurde Anfang der 1990er Jahre in den USA unter der Leitung von Dr. Sam Tsemberis entwickelt. Das Konzept richtete sich ursprünglich an obdachlose Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Zielgruppe von Housing First wurde mit der Zeit auf Menschen ausgeweitet, die langjährig obdachlos waren oder nach der Entlassung aus Krankenhäusern und Haftanstalten von Obdachlosigkeit bedroht waren. In Nordamerika und mehreren europäischen Staaten wird es seither erfolgreich praktiziert.

  • Was ist neu an Housing First?

    Housing First – zuerst eine Wohnung! – stellt den klassischen Ansatz der Wohnungsnotfallhilfe vom Kopf auf die Füße. Statt Wohnungslose ihre „Wohnfähigkeit“ in verschiedenen Übergangsformen des Wohnens wie Wohnheimen, Wohngemeinschaften oder Trainingswohnungen unter Beweis stellen zu lassen, bevor ihnen eine eigene Wohnung vermittelt wird, beendet Housing First Wohnungslosigkeit unmittelbar und bietet den Teilnehmenden flexible wohnbegleitende Hilfen an, die sie dabei unterstützen, ihre Wohnung dauerhaft zu halten. Regulärer Wohnraum steht an erste Stelle – ein entscheidender Unterschied zum derzeit meist praktizierten Stufensystem.

  • Seit wann gibt es Housing First in Berlin?

    In Berlin wurde Housing First im Rahmen zweier Modellprojekte („Housing First Berlin“ des Trägerverbunds aus Neue Chance e. V. und Berliner Stadtmission sowie „Housing First für Frauen“ des Trägers Sozialdienst Katholischer Frauen) von Oktober 2018 bis September 2021 erprobt. Die Modellprojekte wurden durch die Alice-Salomon-Hochschule wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Beide Housing First-Projekte wurden im Anschluss ausgebaut. Damit ist Berlin deutschlandweit Vorreiter bei der Etablierung von Housing First. Nach einem Projektaufruf sind im Frühjahr 2023 weitere Housing First-Projekte in Berlin an den Start gegangen.

  • Was sind die Prinzipien von Housing First?

    Housing First in Berlin orientiert sich eng am Housing First Guide Europe von Dr. Nicholas Pleace, herausgegeben vom europäischen Dachverband der Wohnungslosenhilfe FEANTSA, und bekennt sich zu den acht Grundprinzipien von Housing First:

    1. Wohnen ist ein Menschenrecht
    2. Wahlfreiheit und Entscheidungsmöglichkeit der Teilnehmenden
    3. Trennung von Wohnung und Betreuung
    4. Verbesserung der Gesundheit
    5. Schadensminimierung
    6. Aktive Beteiligung ohne Druck und Zwang
    7. Personenzentrierte Hilfeplanung
    8. Flexible Hilfen, so lange wie nötig
  • Wie erfolgreich ist Housing First?

    Seit der Entstehung von Housing First konnten zahlreiche Evaluationen die positive Wirkung des Ansatzes nachweisen. Forschung in den USA, Kanada und Europa zeigt, dass Housing First die Wohnungslosigkeit bei mindestens acht von zehn teilnehmenden Personen dauerhaft beendet.

    Auch die Evaluationen der Berliner Modellprojekte belegen die positive Wirkung. Als herausragendes Ergebnis ist die Wohnstabilität zu werten, die mit 100 Prozent („Housing First für Frauen“) bzw. 97,3 Prozent („Housing First Berlin“) nach drei Jahren auch im internationalen Maßstab außergewöhnlich ist. Die Evaluationen zeigen die besondere Bedeutung des Wohnens und dessen Auswirkungen auf die Zufriedenheit der Teilnehmenden insgesamt sowie für einzelne Lebensbereiche. Der akzeptierende, ermächtigende und personenzentrierte Hilfeansatz hat die Lebenssituation der Teilnehmenden deutlich verbessert. Die Zufriedenheit der Teilnehmenden mit der Arbeit von Housing First insgesamt sowie der flexiblen und auf ihre Bedürfnisse ausgerichteten Unterstützungsarbeit ist sehr hoch.

    Für die Weiterführung und Ausweitung des Ansatzes wichtig: Die Anzahl der vermittelten Wohnungen lag über den Erwartungen und hat gezeigt, dass Wohnraumakquise für diese Zielgruppe auch in einem angespannten Wohnungsmarkt funktionieren kann.

  • Wie erfolgt der Zugang zu Housing First in Berlin?
    Einzige Zugangsvoraussetzung ist die Bereitschaft der Teilnehmenden, sich auf das ergänzende Beratungsangebot einzulassen und im Falle von eigenem Einkommen die Miete ganz oder teilweise selbst zu bezahlen. Einschränkungen ergeben sich durch die begrenzten Kapazitäten bei den Trägern von Housing First. Derzeit übersteigt das Interesse deutlich die Plätze.
  • Gibt es eine Bewährungszeit vor Erhalt eines Mietvertrages?

    Nein, der eigene Mietvertrag steht am Anfang des (selbstbestimmten) Unterstützungsprozesses.

  • Ist Alkohol- oder sonstige Suchtmittelabhängigkeit ein Ausschlusskriterium für die Teilnahme an Housing First?

    Nein. Statt als Voraussetzung für die Aufnahme ins Projekt oder die Vermittlung einer Wohnung z. B. einen Entzug zu fordern, werden die Teilnehmenden dabei begleitet, den Konsum schädlicher Substanzen zu reduzieren und dadurch dessen schädliche Wirkung zu mildern. Je nach Eigeninteresse und Wunsch der Teilnehmenden kann auch ein kompletter Entzug angestrebt werden, dieser ist jedoch keine Bedingung oder vorgegebenes Ziel.

  • Verliert man den Anspruch auf die Wohnung, wenn das Beratungsangebot einmal nicht wahrgenommen wird?

    Nein, die grundsätzliche Bereitschaft das Beratungsangebot anzunehmen schließt auch das Recht ein, es entsprechend der eigenen individuellen Bedürfnisse in Anspruch zu nehmen.

  • Kann der Träger von Housing First den Teilnehmenden die Wohnung kündigen?

    Nein, bei Housing First gibt es eine klare Trennung von Unterstützung und Vermietung. Der Träger von Housing First ist in keinem Fall der Vermieter der Wohnung.

  • Welche Vorteile haben Vermietende von Housing First?

    Wenn Vermietende eine Wohnung im Rahmen von Housing First in Berlin anbieten, haben sie folgende Vorteile:

    • Fristgerechte und vollständige Mietzahlungen durch direkte Überweisung des Jobcenters oder Sozialamtes.
    • Alle Teilnehmenden verfügen über Mieterhaftpflichtversicherungen und Hausratversicherungen.
    • Vermietende haben für alle Belange eine direkte Ansprechperson bei den Projektträgern.
    • Im Falle von Mietkonflikten werden die Mitarbeitenden des Projektträgers unmittelbar aktiv, um die Probleme vor Ort zu lösen.
    • Die Unterstützung durch die Träger von Housing First ist unbefristet.
    • Höhere Mieten im Vergleich zu anderen durch das Jobcenter oder Sozialamt geförderten Mietverhältnissen: Bei der Neuanmietung von Wohnraum durch Wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen können die Richtwerte für Bruttokaltmieten im Rahmen der AV-Wohnen um bis zu zwanzig Prozent überschritten werden.
  • Ist Housing First eine Lösung für alle wohnungs- und obdachlosen Menschen?

    Housing First ist kein Allheilmittel zur Überwindung von Wohnungslosigkeit. Es ist ein spezifischer Ansatz für eine spezifische Zielgruppe und ergänzt die bestehenden Angebote der Wohnungslosenhilfe.

    Nicht zur Zielgruppe gehören z. B.:

    • Wohnungslose, die keine intensiven multi-professionellen wohnbegleitenden Hilfen brauchen,
    • nicht leistungsberechtigte EU-Bürgerinnen und –bürger (wesentliche Voraussetzung für den Bezug einer Wohnung ist eine Kostenübernahme der Miete durch das Jobcenter oder das Sozialamt),
    • Wohnungslose, die in ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung massiv eingeschränkt sind (z. B. Menschen mit akuten Psychosen oder permanentem, die Selbstbestimmung massiv einschränkendem Drogenmissbrauch).

    Auch einem kleinen Teil der Zielgruppe (10 bis 20 Prozent) gelingt es mit diesem Ansatz und den damit einher gehenden Hilfen nicht, eine Wohnung langfristig zu halten; hier müssen andere Versorgungsformen genutzt werden.

  • Wie wird Housing First finanziert?

    In Berlin wird Housing First derzeit über Zuwendungen an Projektträger finanziert. Im Doppelhaushalt 2022/2023 sind für bestehende und neue Projekte insgesamt 6,1 Millionen Euro vorgesehen (2022: 2,8 Millionen Euro; 2023: 3,3 Millionen Euro). Perspektivisches Ziel ist die Überführung von Housing First in das Regelsystem.

Zahlen und Daten

  • Housing First - Personenbezogene Dokumentation (Kurzfassung) - 2023

    PDF-Dokument (392.2 kB)

  • Housing First - Personenbezogene Dokumentation (Kurzfassung) - 2022

    PDF-Dokument (1002.7 kB)

  • Housing First - Personenbezogene Dokumentation (Kurzfassung) - 2021

    PDF-Dokument (1.1 MB)

  • Housing First - Personenbezogene Dokumentation (Kurzfassung) - 2020

    PDF-Dokument (960.9 kB)

Informationen und Dokumente

  • Projektaufruf Housing First 2023

    PDF-Dokument (210.3 kB)

  • Förderrichtlinie Housing First 2023

    PDF-Dokument (2.0 MB)

  • Housing First für alle!? Vom Modellprojekt zum Regelansatz

    Präsentation von Senatorin Katja Kipping im Rahmen der 6. Berliner Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe

    PDF-Dokument (178.3 kB)

  • Evaluation des Modellprojekts "Housing First für Frauen Berlin". Endbericht Dezember 2021

    (barrierefreie Version)

    PDF-Dokument (4.8 MB)

  • Evaluation des Modellprojekts "Housing First für Frauen Berlin". Endbericht Dezember 2021

    (Originalbericht, nicht barrierefrei)

    PDF-Dokument (1.2 MB)

  • Evaluation des Modellprojekts „Housing First Berlin“. Endbericht Dezember 2021

    (barrierefreie Version)

    PDF-Dokument (4.1 MB)

  • Evaluation des Modellprojekts „Housing First Berlin“. Endbericht Dezember 2021

    (Originalbericht, nicht barrierefrei)

    PDF-Dokument (1.2 MB)