Per SGE in die Festanstellung

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Michael Schmidt
begann als Citylotse bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG). Nun wurde er in eine Festanstellung übernommen.

Auch intelligente und vielseitig begabte Menschen können abstürzen. Michael Schmidt weiß das aus eigener Erfahrung. Doch er hat zu seinem Ehrgeiz zurückgefunden und fasste über eine SGE-Stelle wieder Fuß im regulären Erwerbsleben.

Hochs und Tiefs fügen sich in Michael Schmidts (Name geändert) Biografie zu einer wechselvollen Geschichte zusammen. Nicht zwangsläufig führen Talent und gute Leistungen zu einer geradlinigen Entwicklung, und selbst die günstigste Startposition garantiert noch keinen Erfolgslauf – zu vieles im Leben verläuft einfach nicht nach Plan. Der in Reinickendorf geborene Berliner wies allerdings beides auf: eine vielversprechende Ausgangssituation ebenso wie einen klaren Lebensentwurf.

Nach einer Kindheit im liebevollen Elternhaus und dem Abitur an einer technisch orientierten Berufsschule wollte Schmidt in den gehobenen Dienst der Stadt eintreten, um dort als Finanzinspektor Steuerprüfungen vorzunehmen. Er mochte Mathematik und Zahlen, Technik und Computer faszinierten ihn. »Ich wollte unbedingt in diesen Beruf«, sagt er, »und hatte den mehrstündigen Eignungstest bereits abgelegt.«

So weit, so gut. Nur hörte Schmidt nichts mehr von der Stadtverwaltung und bekam auf Nachfragen keine Auskunft. Als jungem und ehrgeizigem Mann schien ihm die Zeit davonzulaufen, und er begann, Alternativen zu erwägen. »Ich dachte: Ich kann gut mit Menschen reden. Also ging ich zu einer Versicherungsfirma und verkaufte Versicherungen.« Mit diesem Job auf Provisionsbasis lief es nicht schlecht. Schmidt hatte bald ein gutes Auskommen und genoss die finanzielle Flexibilität. Als sich mit einem halben Jahr Verspätung endlich die Berliner Verwaltung meldete und ihn wegen seines guten Testergebnisses zum Gespräch einlud, war sein ursprünglicher Enthusiasmus abgekühlt – er schlug das Angebot aus.

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»Das war einer der größten Fehler meines Lebens«, sagt er heute. Der Zug in die Finanzinspektion fuhr ohne ihn ab. Zu spät merkte Schmidt, dass das Versicherungsgeschäft die schlechtere Wahl gewesen war. »Wenn man einer Person, die im 23. Stock eines Hochhauses wohnt, eine Versicherung dagegen verkauft, dass von außen jemand einen Tischtennisball durch die Scheibe wirft, dann fühlt man sich damit nicht mehr wohl«, beschreibt er sarkastisch den inneren Konflikt, der ihm zunehmend zu schaffen machte. »Die wenigen Versicherungen, die wirklich sinnvoll sind, haben die meisten Menschen längst. Als ich anfing, das den Leuten ehrlich zu sagen, kam das bei meinem Arbeitgeber nicht so gut an.«

Also verließ Michael Schmidt die Versicherungsbranche und ging wieder auf Arbeitssuche. Mit einer Zeitungsannonce begann ein neuer Abschnitt in seinem Leben: Er fing eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann in einem Fotogeschäft am Hermannplatz in Neukölln an. »Das war ein toller Job, richtig spannend«, schwärmt er, »ich hatte gute Kolleginnen und Kollegen, einen genialen Chef und habe unglaublich viel gelernt.« Hier konnte er seine Affinität zur Technik ausleben. Insbesondere historische Kameras wurden seine Leidenschaft. Schmidt wurde übernommen, arbeitete fünfeinhalb Jahre in dem Laden und entwickelte mit der Zeit Expertise für Kameras aller Art, von den historischen Exemplaren bis hin zu den erst neu auf den Markt gekommenen Geräten.

Doch das Geschäftsmodell des Ladens geriet zunehmend unter Druck. Karstadt mit einer großen Fotoabteilung befand sich gleich nebenan, und die einfachere und billigere Digitalfotografie machte sich breit. Entlassungen wurden unumgänglich. Es traf die Jüngsten und die zuletzt Eingestellten, und schweren Herzens trennte sich der Chef von Michael Schmidt.

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Um sich über Wasser zu halten, jobbte Schmidt an einer Tankstelle und half im Supermarkt aus. »Ich habe alles angenommen, was es gab.« So landete er zum ersten Mal in einem Callcenter. »Das war bei Quelle. Ich mochte das eigentlich«, erzählt er. »Weil es kein Verkauf war, sondern die Bestellannahme. Hier konnte ich Kundinnen und Kunden helfen, zu bekommen, was sie haben wollen, anstatt ihnen etwas zu verkaufen, was sie eventuell gar nicht benötigen.« Bei Quelle blieb er anderthalb Jahre.

Anfang 1997 schlug ihm das damalige Arbeitsamt eine Ausbildung zum Fachinformatiker in der Anwendungsentwicklung bei einem Bildungsträger in Neukölln vor. Für den technikaffinen Schmidt war das genau das Richtige. Frohgemut trat er den Ausbildungsplatz an. Doch das Schicksal machte ihm erneut einen Strich durch die Rechnung: Er wurde krank. Die Krankheit zog sich länger als vierzig Tage hin, womit ein vertraglich festgelegtes Limit überschritten war. Schmidt flog raus und durfte die Ausbildung nicht beenden.

Eine zweite Chance gab es nicht, die Arbeitsamtsregularien standen dagegen. »Dabei hätte ich eine wirklich spannende Perspektive gehabt«, sagt Schmidt. »Es ging ja genau um jenes Berufsfeld, von dem es immer hieß: Dafür holen wir Menschen aus Indien ins Land. Dass ich in dieses Feld nachher wegen meiner Krankheit nicht mehr hineinkam, hat mich zutiefst frustriert.«

Als auch noch die Beziehung zu seiner damaligen Lebensgefährtin zerbrach, verließ Schmidt die letzte Kraft. Er verfiel in Lethargie. Manchmal traf er sich noch mit Freundinnen und Freunden, aber um seine berufliche Entwicklung bemühte er sich nicht länger. »Das grenzte schon an Verweigerung, aber ich wollte einfach nicht mehr«, sagt er. »Es war eine gruselige Zeit. Von da an habe ich nur noch rumgehangen, oder ganz ehrlich: Ich war faul. Ob Finanzinspektion, Fotogeschäft oder Informatik-Ausbildung – ich hatte das Gefühl, dass mir alles, was ich angefangen hatte, immer weggenommen worden war.«

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Heute ist Schmidt die Einseitigkeit seiner damaligen Wahrnehmung bewusst. Aber wer in einem Loch steckt, hat keinen Überblick über die eigene Lage. Zwei Jahre lang war er arbeitslos und trieb ziellos umher. In einem Neuköllner Nachbarschafts-Café, in dem er – damals in erster Linie aus Eigeninteresse – das kostenlose Internet auf Vordermann brachte, lernte er eines Tages eine engagierte Mitarbeiterin des Projekts kennen. Ein Glücksfall, wie Schmidt im Rückblick sagen kann: Sie wurde seine Frau und die Mutter seiner 2005 und 2008 geborenen Kinder.

Dank der neuen Beziehung fand er die Motivation, sich wieder einen Job zu suchen. Das Jobcenter verwies ihn an eine Zeitarbeitsfirma, die ihn jedoch lediglich gewinnbringend weitervermitteln wollte, ohne sich näher für seinen Werdegang und seine Qualifikationen zu interessieren. Schmidt beendete daher die Zusammenarbeit mit der Zeitarbeitsfirma schon bald. Engagiert wurde er ausgerechnet von einer der Firmen, zu denen er als Zeitarbeiter geschickt worden wäre – auf einer besseren Stelle wegen seiner guten Englischkenntnisse.

So landete Michael Schmidt im Support eines Computerherstellers, also in der bereits vertrauten Umgebung eines Callcenters. Trotz Schichtdienst war er mit dem Job sehr zufrieden. »Das war eine tolle Arbeit. Ich bekam verantwortungsvolle Aufgaben zugewiesen wie Recherchen oder die Beantwortung von Fragen meiner Kolleginnen und Kollegen. Stück für Stück wurde ich zum Teamleiter ausgebildet. Dadurch verdiente ich innerhalb des Niedriglohnsektors noch verhältnismäßig gut. Meine Familie und ich mussten keine Existenzangst haben.«

Dabei blieb es allerdings nicht. Umstrukturierungen und Personalabbau im Betrieb standen an. Dass Schmidt gegen seinen Willen Entlassungen vornehmen musste, belastete ihn enorm. Neben dem psychischen Druck fielen ihm zahlreiche Aufgabenfelder zu, die er zusätzlich zu seinen eigenen Aufgaben bewältigen musste.

Der Druck, der auf ihm lastete, wuchs stetig, bis sich schließlich sein Körper verweigerte: Innerhalb von neun Monaten klappte er ein Dutzend Mal zusammen. Schmidt bekam Bluthochdruck, Diabetes, nahm rapide zu. »Ich habe gefressen wie ein Scheunendrescher. So habe ich mich kaputtgemacht.« Mehrmals musste ihn der Notarzt abholen. »Bis meine Ärztin sagte: ›Hören Sie auf mit dem Job. Das können Sie auf Dauer nicht aushalten.‹« Nach diesem Rückschlag brauchte Schmidt neben vielen Medikamenten vor allem Ruhe und Entspannung.

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Es war das Ende seiner Callcenter-Karriere – in gegenseitigem Einvernehmen hoben seine Firma und er den Arbeitsvertrag 2018 auf. Daraufhin war Michael Schmidt anderthalb Jahre krankgeschrieben und lebte von Arbeitslosengeld 2. »Wir haben uns durchgebissen. Aber es war schon ein seltsamer Moment, als ich im Jobcenter Köpenick zum ersten Mal in einem Sozialladen einkaufte, wo man Kleidung und Haushaltswaren sehr günstig bekommt. Ich wusste nicht, ob ich dankbar oder wütend sein soll.«

Als sein Zustand sich besserte, ging Schmidt, wie er sich ausdrückt, dem Jobcenter »in schöner Regelmäßigkeit auf den Geist« – bis man ihn dort fragte, ob er schon einmal etwas vom Solidarischen Grundeinkommen (SGE) gehört habe. Er solle sich das doch einmal anschauen. »Für die Informationsveranstaltung waren ungefähr fünfzig Stühle aufgestellt worden, aber es kamen nur zehn Leute«, erinnert sich Schmidt. »Als von Förderung, Fünfjahresverträgen und vom Engagement des Senats im Projekt die Rede war, habe ich damit gerechnet, dass jemand durch die Tür kommt, um den Witz aufzulösen und uns alle nach Hause zu schicken. Ich konnte nicht glauben, was dort erzählt wurde.«

Anfang 2020 trat Schmidt eine SGE-Stelle als Citylotse bei den Berliner Verkehrsbetrieben BVG an. »Ich bin fast ein Jahr lang durch die Gegend gelaufen als Ansprechpartner für Menschen, denen ich den Weg zum Bus zeigen oder anderweitig helfen kann. Das hat mich geistig nicht gerade überfordert, aber es war ein Job. Und ich habe auf diese Weise ganz Berlin kennengelernt – jede einzelne Bus- und U-Bahn-Linie.«

Dies war Michael Schmidts Einstieg bei der BVG. Das Problem der Unterforderung ist inzwischen gelöst: Die BVG ist eine Vorreiterin darin, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf SGE-Stellen den Wechsel in reguläre, ungeförderte Beschäftigungsverhältnisse zu ermöglichen. Schmidt konnte sich so auf intern ausgeschriebene Stellen bewerben. Seit März 2021 ist er fest als Sachbearbeiter im »EBE«-Büro für Fälle rund um Erhöhtes Beförderungsentgelt angestellt.

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Ein neuer Lebensabschnitt mit echten Perspektiven hat für ihn begonnen. Die BVG ist offen für Talente und persönliche Veränderungen. »Es wird tatsächlich individuell auf mich eingegangen. Das habe ich bei einem Betrieb von dieser Größe gar nicht erwartet«, gesteht Schmidt. »Aber hier kümmert man sich wirklich um die eigenen Leute und sieht zu, dass sie bestmöglich eingesetzt werden. Darum fühle ich mich bei der BVG so wohl.«

Michael Schmidt ist sehr froh, wieder einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen zu können. »Ich verbringe den Tag auf der Arbeit, und wenn ich am Abend nach Hause fahre, weiß ich, was ich getan habe – ich weiß dann, dass ich soundso viele Anfragen unserer Kundinnen und Kunden bearbeitet habe. Dieses Gefühl brauche ich. Seit ich wieder eine richtige Arbeit habe, gehe ich auch wieder mit erhobenem Kopf durch die Gegend.«

Text: Katrin Rohnstock / Rohnstock Biografien