Experte für Bahnsteige und Linien

Rainer-Fabiano Fagundes

Rainer-Fabiano Fagundes
arbeitet als Mobilitätshelfer beim VBB Bus & Bahn Begleitservice. Dieser wird umgesetzt vom VBB Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg in Kooperation mit dem Träger D & B Dienstleistung & Bildung gGmbH.

Fast alle Bahnhöfe Berlins kennt Rainer-Fabiano Fagundes in- und auswendig – Blindenleitsystem, Rolltreppengeografie und Fahrstuhldetails inklusive. Im Rahmen einer SGE-Stelle sorgt er dafür, dass Menschen trotz Mobilitätseinschränkung mit Bus und Bahn unterwegs sein können.

Der Lebensweg von Rainer-Fabiano Fagundes ist eine klassische Migrationsgeschichte, die ihn um den halben Globus geführt hat. Fagundes, Jahrgang 1972, wuchs in der kleinen Stadt Espírito Santo im Westen Brasiliens auf, über siebenhundert Kilometer von Rio de Janeiro entfernt. Um der Armut und den schwierigen politischen Verhältnissen seines Heimatlandes zu entkommen, ging er als junger Mann nach Portugal. Das EU-Land mit gleicher Sprache war damals bereits ein beliebtes Ziel für brasilianische Auswanderinnen und Auswanderer.

»Ich war zwanzig Jahre alt, als ich nach Portugal ging, um Sicherheit und ein besseres Leben zu suchen«, sagt Fagundes. »Ich fing an, als Grill-Koch in Restaurants zu arbeiten, die auf brasilianische Küche spezialisiert waren. Als später meine Mutter, meine Schwestern, Cousins und Cousinen ebenfalls nach Portugal auswanderten, war ich glücklich. Das waren sehr schöne Jahre. Eine gute Zeit.«

2008 lebte Fagundes in Porto und pendelte zum Arbeiten ins spanische Vigo, das über eineinhalb Autostunden entfernt liegt. Er hatte inzwischen geheiratet und wollte mit seiner portugiesischen Frau eine Familie gründen. Doch dann brach die Finanz- und Wirtschaftskrise über die Welt herein mit gravierenden Folgen für Portugal und Spanien. Die Lebensbedingungen für die Bevölkerung verschlechterten sich zusehends, es wurde jeden Tag schwieriger. Also beschloss das Paar, das Glück anderswo zu suchen.

»In Brasilien gibt es viele Deutsche, von denen ich als Kind ein paar Worte aufgeschnappt hatte. Als ich dann ein Arbeitsangebot aus Berlin bekam, entschied ich mich, nach Deutschland zu gehen«, erzählt Fagundes. 2011 zog er mit seiner Frau nach Berlin-Charlottenburg, wo die beiden bis heute wohnen. Alles, was sie damals besaßen, passte in einen kleinen Pkw, inklusive ihrer beiden Hunde Molly und Kuky.

Rainer-Fabiano Fagundes

Seine Sprachkenntnisse, so stellte sich bald heraus, reichten jedoch bei Weitem nicht aus, um in dem neuen Land Fuß zu fassen. »Ich konnte tatsächlich gar nichts«, fasst Fagundes zusammen. Trotzdem fand er wie erhofft eine Anstellung – wie schon in Portugal und Spanien arbeitete er als Grillmeister in einem brasilianischen Restaurant. »Aber da bringt einem auch niemand Deutsch bei«, sagt er. »Ich habe also versucht, überall so viel wie möglich mitzubekommen, und habe die Sprache schließlich gelernt.« Inzwischen spricht er fließend Deutsch, nur seinen brasilianischen Akzent hört man noch. Seine Kinder wachsen sogar trilingual auf: Sie lernen Deutsch, Spanisch und Portugiesisch.

Fagundes’ erstes Kind wurde 2013 geboren – ein »Sommerjunge«. Zwei Jahre später, im Winter, bekam die Familie erneut Zuwachs, ein Mädchen. »Nach der Geburt unseres Sohnes wollte ich die Gastronomiebranche verlassen und eine familienfreundlichere Beschäftigung finden«, erzählt Fagundes. Er wechselte den Job und arbeitete bis 2019 in einem Umzugsunternehmen. Lernbereitschaft und eine schnelle Auffassungsgabe waren ihm auch hier von Vorteil. Schon nach kurzer Zeit kannte er einen Großteil der Berliner Straßen und die entsprechenden Postleitzahlen. »Wenn Sie mir eine Postleitzahl sagen, weiß ich genau, wo das ist – ob in Kreuzberg oder in Pankow oder sonst wo.«

Die schlecht bezahlte und körperlich anstrengende Arbeit bot Fagundes jedoch keine langfristige Perspektive, und so meldete er sich im November 2018 arbeitslos. »Fast zwei Jahre dauerte diese Phase.« Zu Hause auf der faulen Haut zu liegen, entsprach nicht seinem Naturell. Fagundes wollte unbedingt arbeiten und belegte am Flughafen Tegel einen Qualifizierungslehrgang zum Bodensteward, den das Jobcenter vermittelte. »Der Kurs begann im Herbst 2019, während Tegel noch in Betrieb war – und endete, als sich Deutschland mitten in der Coronakrise befand und der Flughafen wie geplant zugunsten des BER geschlossen wurde.« Nach Kursende lud man Fagundes zum Vorstellungsgespräch ein, das letztlich an seinen mangelnden Englischkenntnissen scheiterte.

Die nächste Gelegenheit packte er bereits kurze Zeit später prompt beim Schopfe. »Besagtes Gespräch fand am Flughafen Schönefeld statt. Auf dem Rückweg in der S-Bahn sah ich eine Person in roter Jacke, die einen Mann im Rollstuhl schob«, erzählt er. »Als die beiden näher kamen, las ich auf der Jacke: ›VBB Bus & Bahn-Begleitservice‹. Ich wurde sofort neugierig und wollte wissen, was das für ein Service ist.« Zu Hause angekommen, recherchierte er im Internet und rief kurzerhand im Servicebüro an. Zwei Tage später hatte er das nächste Vorstellungsgespräch – ohne zu ahnen, was auf ihn zukommen würde.

Was Fagundes zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste: Er hatte einen Mobilitätshelfer bei der Arbeit gesehen, der im Rahmen des Pilotprojektes »Solidarisches Grundeinkommen« (SGE) angestellt war. Diese Servicemitarbeiterinnen und -mitarbeiter begleiten mobilitätseingeschränkte Menschen und bringen diese sicher zu amtlichen sowie zu Arzt- oder Freizeitterminen. Die Wege werden unter Nutzung des Berliner ÖPNV zurückgelegt. Ziel und politischer Auftrag sind es, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, soziale Kontakte zu stärken und den betroffenen Menschen möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen.

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»Ich wusste nichts über das Solidarische Grundeinkommen und hatte keine Vorstellung davon, wie der Vertrag und das Gehalt aussehen«, sagt Fagundes. »Aber ich wollte unbedingt einen Job, um meine Familie auf würdige Art und Weise durchzubringen. Ich wollte wirklich arbeiten und mochte die Leute, die mich im Vorstellungsgespräch befragten, sofort.« In der Einsatzzentrale sah man es ähnlich: Fagundes bekam die Stelle als Mobilitätshelfer und sollte im September 2020 mit der dreimonatigen Qualifizierung beginnen.

Die verbleibende Zeit ließ Fagundes jedoch nicht ungenutzt verstreichen. Während seiner Beschäftigung bei dem Umzugsunternehmen hatte er die Stadt aus der Sicht eines Autofahrers zwar ausgesprochen gut kennengelernt, beim Wissen über das Streckennetz des Berliner ÖPNV haperte es allerdings noch. »Also kaufte ich bereits vor Ausbildungsbeginn eine Monatskarte, studierte das gesamte Liniennetz und fuhr kreuz und quer in der Stadt herum. Ich arbeitete mich richtig ein«, berichtet Fagundes. »Eine Monatskarte bekam ich mit dem Berlinpass noch für 27 Euro, und immer, wenn ich Zeit hatte, war ich unterwegs. Ich klapperte Linie für Linie und Bahnhof für Bahnhof ab, zuletzt die U5. So übte ich schon vor der Qualifizierung, mit der BVG möglichst schnell und barrierefrei ans Ziel zu kommen.«

Fagundes war somit perfekt vorbereitet für die Ausbildung beim VBB. »Wir erfuhren alles über die vielfältigen Mobilitätseinschränkungen und lernten die meisten Bahnhöfe, Haltestellen und Linien in Berlin kennen«, sagt Fagundes. »Ich studierte das Blindenleitsystem und fand heraus, wie ich selbstständig alternative Verbindungen suchen kann. Ich lernte, wie die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs aus der Sicht eines mobilitätseingeschränkten Menschen funktioniert, und trainierte die Kommunikation mit den Kundinnen und Kunden. Und ich inspizierte Fahrstühle und die Rolltreppengeografie, die leider nicht immer aufgeht.«

In Gruppen schwärmten die künftigen Mobilitätshelferinnen und Mobilitätshelfer an verschiedenen Bahnhöfen aus, machten ihre Umfeldanalysen und schrieben sich exakt auf, wo Eingänge, Fahrstühle oder Rolltreppen verortet sind. »Wir können mit einem Rollstuhlfahrer oder einer Blinden nicht erst hin und her laufen und den Ausgang suchen«, sagt Fagundes. »Wenn wir nicht Bescheid wissen oder unsicher sind, bemerken das die Leute. Wir müssen alles kennen.«

Rainer-Fabiano Fagundes

Nach zehn Jahren in der Hauptstadt und einem Jahr beim VBB Bus & Bahn-Begleitservice kennt sich Fagundes in Berlin wohl besser aus als viele Einheimische. »Ich kenne mindestens neunzig Prozent aller Bahnhöfe in- und auswendig«, sagt er. »Und davon gibt es immerhin rund 170 bei S- und U-Bahn, zudem über 800 Straßenbahnstationen und 6511 Bushaltestellen.«

Der VBB-Begleitservice ist kostenfrei: Personen, die den Service in Anspruch nehmen, benötigen lediglich einen gültigen Fahrausweis. Unter ihnen sind blinde und seheingeschränkte Menschen, aber auch mobilitätseingeschränkte Kinder und Studierende oder ältere Menschen, die nicht mehr gut zu Fuß sind oder Orientierungsprobleme an den großen Knotenpunkten des ÖPNV haben.

Jeder Auftrag wird detailliert vorbereitet: Wer von welchem Ausgangspunkt an welches Ziel möchte, ob die Fahrstühle funktionieren und ob die zu begleitende Person blind oder auf einen Rollator oder Rollstuhl angewiesen ist. Die Route und alle Fußwege werden minutiös geplant und über das interne Qualitätsmanagement permanent überprüft und aktualisiert.

Jeden Abend puzzelt die Einsatzleitung achtzig bis einhundert Aufträge für den nächsten Tag zusammen – pro Tag sind es für jeden Begleiter und jede Begleiterin ungefähr drei bis vier. Mehr ist nicht zu schaffen. Bei einer langen Route mit einem mobilitätseingeschränkten Menschen kann viel Zeit vergehen, um sicher zum Zielpunkt zu gelangen.

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Hat Fagundes Telefondienst in der Zentrale, kann er sein Deutsch weiter perfektionieren. Doch meist ist er auf Achse. »Eine 96-Jährige erzählte mir, wie sie sich während des Krieges hatte vor den Bomben verstecken müssen. Man erfährt von Familiendramen und von Kindern, die sich nie melden«, berichtet Fagundes weiter. »Da ist der Zusammenhalt in Brasilien um einiges stärker: Mama und Papa sind dort quasi Heilige. Die Familie bleibt bis zum Ende zusammen und unterstützt sich, egal, was kommt. Hier in Deutschland habe ich oft das Gefühl, dass ältere oder kranke Menschen alleingelassen werden. Viele Familien kümmern sich wenig oder gar nicht um die Alten. Diese Einsamkeit konnte ich bei vielen Menschen, die ich begleitet habe, deutlich spüren. Ein riesiger Unterschied, wenn ich an meine Heimat und unser Verständnis von Familie denke – manchmal macht mich das wirklich traurig und auch ein bisschen wütend.«

Rainer-Fabiano Fagundes

Teilweise schließe seine neue Arbeit diese bedauernswerte Lücke, erzählt Fagundes. Oft werde er gefragt, warum er so nett sei. »Ich kann nur sagen: Weil ich jeden begleite, als ob es mein eigener Verwandter wäre. Ich bekomme viele positive Rückmeldungen. Das ist einfach schön. Ich mache diese Arbeit sehr gern.«

Umso besser, dass seine SGE-Stelle eine langfristige Perspektive bietet und auskömmlich honoriert wird. »In der Gastronomie wurde ich schlechter bezahlt, deswegen bin ich sehr froh, diese Arbeit zu haben. Ich komme mit dem Gehalt gut zurecht.« Fagundes` Vertrag im Solidarischen Grundeinkommen läuft noch bis 2025. Er wünscht sich, danach in eine Festanstellung beim Begleitservice übernommen zu werden. »Ich bin sehr zuversichtlich, denn ich bin fleißig und gebe immer mein Bestes.«

Text: Katrin Rohnstock / Rohnstock Biografien