Ein Fabrikinspektor sollte „mit den Arbeitgebern auf derselben Höhe der allgemeinen Bildung stehen“ und über die „einschlagenden Verhältnisse der Industrie“ Bescheid wissen. Unter dieser Prämisse trat Major a. D. Adalbert von Stülpnagel am 1. Januar 1874 seinen Dienst als erster staatlicher Fabrikinspektor in Berlin an. Der Tag kann als Geburtsstunde des neuzeitlichen staatlichen Arbeitsschutzes in Berlin gelten.
Dafür war es höchste Zeit. Denn spätestens nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde die Hauptstadt Berlin von einem regelrechten Industrialisierungsboom erfasst. Auf der Suche nach Arbeit zog es immer mehr Menschen in die Stadt und die dortigen Fabriken. Die Arbeitsbedingungen waren allerdings unbeschreiblich schlecht: Zwölf Stunden oder länger wurde in stickigen, staubigen, lauten und überfüllten Fabrikhallen geschuftet. Arbeitsunfälle waren an der Tagesordnung. Um die Familie zu ernähren, arbeiteten auch Frauen und Kinder in den Betrieben, häufig unter unhaltbaren Zuständen. Der Dienstantritt Stülpnagels war eine Reaktion des Staates auf diese Missstände.
Zwar hatte es auch vor 1874 Bemühungen gegeben, die Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit zu schützen. Für das Königreich Preußen, zu dem Berlin gehörte, wurden ab 1839 entsprechende Schutzgesetze erlassen und immer wieder verschärft. Als Stülpnagel seinen Dienst antrat, galt in Berlin die Reichsgewerbeordnung, die bereits 1869 als Preußische Gewerbeordnung eingeführt worden war. Es handelte sich dabei um eine aus heutiger Sicht sehr begrenzte Arbeitsschutzgesetzgebung mit zwei zentralen Merkmalen.
Erstens galten gesetzliche Schutzvorschriften bezüglich der Arbeitszeiten. Allerdings nur für Kinder und Jugendliche, nicht für erwachsene Beschäftigte. Auch für Frauen und sogar für Wöchnerinnen gab es keine gesetzlichen Regelungen. Tägliche Arbeitszeiten von zwölf bis vierzehn Stunden an sechs Tagen in der Woche, Sonntagsarbeit und Nachtarbeit waren uneingeschränkt möglich.
Zweitens enthielt die Gewerbeordnung mit § 107 eine Generalklausel zum Gefahrenschutz. Demnach waren Unternehmer verpflichtet zu „tunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit“. Unterm Strich war die Bestimmung aber wenig wirksam. Sie wurde nicht weiter konkretisiert, galt nur für das Gewerbe und nicht für andere Wirtschaftsbereiche wie die Heimarbeit oder die Landwirtschaft und wurde von den örtlichen Polizeibehörden mehr schlecht als recht kontrolliert.
Einführung des staatlichen Arbeitsschutzes
Vor dem Hintergrund der herrschenden Missstände wurde ab den 1870er Jahren eine Modernisierung und Professionalisierung des staatlichen Arbeitsschutzes in Preußen vorangetrieben. Diese Neuausrichtung ist eng mit dem Namen Theodor Lohmann verbunden. Dieser war seit Oktober 1871 im preußischen Handelsministerium für gewerbliche Arbeiterangelegenheiten zuständig. Unter Lohmann wurden insbesondere die preußischen Fabrikinspektionen quantitativ und qualitativ ausgebaut.
Quantitativ, weil ab 1872 Stellen reaktiviert bzw. neue Stellen geschaffen wurden. Vereinzelt hatte es in einigen preußischen Bezirken bereits seit 1854 die Stellung eines Fabrikinspektors gegeben, nicht aber in Berlin. Hier war die Polizeibehörde für die Kontrolle der Arbeitsschutzbestimmungen zuständig. Doch eine außerordentliche Revision – auch der Berliner Fabriken – im Jahr 1873 ergab, dass die geltenden Schutzvorschriften nur dort eingehalten wurden, wo es bereits Fabrikinspektoren gab. Eine Besserung in dieser Hinsicht wurde deshalb von einer „Vermehrung der Fabrikinspektoren“ erwartet.
Qualitativ, weil der Aufgabenbereich für die Fabrikinspektoren neu festgelegt wurde: Kontrolle der Vorschriften für Kinder und Jugendliche, Überwachung des betrieblichen Gefahrenschutzes, Kontrolle der Fabrikkonzessionen. Damit kamen Tätigkeitsbereiche hinzu, für die die Qualifikationen der Kontrollbeamten alten Schlags nicht mehr ausreichten. Denn es gab nun mehr zu prüfen als nur die Arbeitszeiten und Altersangaben von Kindern und Jugendlichen. Die Gefahrenabwehr gewann deutlich an Bedeutung.
Um Arbeitsunfälle verhindern zu können, fehlte den Polizeibeamten jedoch die notwendige Fachkunde in der mechanischen und chemischen Technologie. Die Gewerbeaufsicht sollte deshalb nur noch von technisch vorgebildeten Beamten ausgeübt werden. Dieser erweiterte Wirkungskreis wurde erstmals in der Instruktion des 1874 für Berlin eingestellten Fabrikinspektors Adalbert von Stülpnagel festgeschrieben.
Ideal eines Fabrikinspektors
Lohmanns Ideal des Fabrikinspektors war der akademisch gebildete Naturwissenschaftler oder Ingenieur, der erst nach Jahren praktischer Industrietätigkeit in den Staatsdienst eintrat. Frauen wurden zu diesem Zeitpunkt von den durchweg männlichen Entscheidern für diese Aufgabe nicht vorgesehen. Fabrikbesitzer sowie Betriebsingenieure sollten den Fabrikinspektor akzeptieren. Das war nur möglich, wenn ihnen dieser vom fachlichen Kenntnisstand ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen war und über ein entsprechendes Auftreten verfügte. Der für Berlin neu eingestellte Fabrikinspektor von Stülpnagel erfüllte diese Voraussetzungen. Er war der erste Fabrikinspektor in Preußen, der nicht aus dem Kreis von niederen Beamten rekrutiert worden war. Er hatte mehrere Jahre als Ingenieur im Dienst der Thüringischen Eisenbahngesellschaft gestanden und wurde während dieser Zeit mehrfach als Offizier zur preußischen Armee einberufen. Im Jahre 1854 wechselte er auf die Stelle eines Kalkulaturvorstehers im Polizeipräsidium.
Einige Weichen, die ab 1874 für den staatlichen Arbeitsschutz gestellt wurden, weisen heute noch in dieselbe Richtung. So werden bevorzugt Interessierte mit einem naturwissenschaftlichen oder ingenieurwissenschaftlichen Studium für die Laufbahn im staatlichen Arbeitsschutz gewonnen, auch wenn sich das Spektrum inzwischen erweitert hat. Ebenfalls bis heute treten diese umfangreich geschulten Fachkräfte in zivil und nicht in Uniform auf. Seit 1874 müssen die Arbeitsschutzbehörden jährlich Berichte über ihre Arbeit veröffentlichen. Seinem ersten Jahresbericht 1874 zufolge war von Stülpnagel ausgesprochen fleißig und hatte, ganz auf sich gestellt, innerhalb eines Jahres 27 Prozent der Fabriken in seinem Aufsichtsbereich kontrolliert. Bei der Vielzahl von Betrieben in Berlin wäre das heute ein unerreichbarer Wert.
Quellen
Born, Karl Erich; Henning, Hansjoachim und Tennstedt, Florian (Hrsg.) (1996): Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Abt. 1, Band 3, https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/fileadmin/user_upload/PDFs_der_Baende/QuellensammlungAbt1Band3.pdf (heruntergeladen am 15.08.2023).
Denkschrift für den preußischen Handelsminister Heinrich Graf von ltzenplitz von Theodor Lohmann vom 2. Januar 1873 in: Born et al. 1996, S. 151 ff.
Schreiben des preußischen Handelsministers Dr. Heinrich Achenbach an den preußischen Minister des Innern Friedrich Graf zu Eulenburg vom 5 Juli 1873 in Born et al 1996, S. 178f. und lmmediatbericht des stellvertretenden preußischen Handelsministers Albert Maybach an den preußischen König Wilhelm I vom 24. Mai 1879 in Born et al. 1996, S. 670.
Verfügung des Berliner Polizeipräsidenten Guido von Madai an den Fabrikinspektor Adalbert von Stülpnagel in Born et al. (1996), S. 195 f.
Berliner Zentrum Industriekultur (bzi), https://industriekultur.berlin/entdecken/berliner-industriegeschichte/#milestone=1878 (gesehen am 15.08.2023).
Knoblich, Susanne (2021): Gewerbeinspektion / Gewerbeaufsichtsamt Berlin, Bestandsbeschreibung des Landesarchivs Berlin, https://www.archivportal-d.de/item/VKC42J5VCIXIUWUDEA6HGBDB3TR4RFTL (gesehen am 15.08.2023).