Veranstaltungen im Jahr 2003

10. Dezember 2003

Henrik Bispinck:

„Republikflucht“. Die Massenabwanderung aus der DDR bis zum Bau der Berliner Mauer: Motive – Auswirkungen – Reaktionen

Etwa 3 Millionen Menschen flohen zwischen Kriegsende und Mauerbau aus der SBZ bzw. der DDR. Diese Massenflucht erfasste sämtliche Bevölkerungsgruppen: Arbeiter wie Akademiker, Frauen wie Männer, alte wie junge Menschen. Die Motive der Flüchtenden waren ebenso vielfältig: Sie reichten von direkter Verfolgung politisch Andersdenkender über Bauern, die unter dem Kollektivierungsdruck ihre Höfe verließen, und Lehrern, die der Ideologisierung des Unterrichts entgehen wollten, bis hin zu Jugendlichen, die in der Bundesrepublik bessere Berufs- und Zukunftsperspektiven sahen. Schon früh erkannte die SED, welcher enorme politische und vor allem wirtschaftliche Schaden der DDR durch die Abwanderungsbewegung entstand. Nicht nur litt das internationale Ansehen des jungen Staates, auch wurde seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch den Verlust von Arbeitskräften schwer getroffen. Um die Massenflucht zu stoppen oder zumindest einzudämmen, reagierte die DDR-Regierung nach dem Prinzip von „Zuckerbrot und Peitsche“: einerseits mit Repression, andererseits aber auch mit Vergünstigungen, insbesondere für gefragte Berufsgruppen wie Ärzte oder Ingenieure. Letztlich erwiesen sich alle diese Maßnahmen jedoch als fruchtlos, bis Ulbricht dem Flüchtlingsstrom mit dem Mauerbau den vermeintlich endgültigen Riegel vorschob.
Der Vortrag analysiert die Motive und Ursachen für die Fluchtbewegung, die Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung sowie ihre Auswirkungen auf beide deutsche Staaten im Kontext der deutsch-deutschen Teilung.

12. November 2003

Gerd Utech:

Prägende Jahre in Potsdam und Sibirien 1945-1955. Ein Zeitzeugenbericht
(Buchpräsentation durch den Autor)

Gerd Utech: Jahrgang 1931, verbrachte seine Kinder- und Jugendzeit in Potsdam. Dort erlebte er die Zerstörung eines großen Teiles seiner Heimatstadt in der Nacht vom 14. zum 15. April 1945 durch britische Bomberverbände, den Zusammenbruch des “Dritten Reiches” im Mai 1945 und den Einmarsch der “Roten Armee”.
Der permanente Druck ab Frühjahr 1946, der kommunistisch orientierten FDJ beizutreten, und das Verhalten eines “Gegenwartskundelehrers”, eines ehemals dekorierten Führers in der Hitlerjugend, der inzwischen Mitglied der KPD geworden war, führte zu Spannungen im Schulbetrieb. Daraus ergab sich, dass dem Autor wegen “Politischer Unreife” die Chance verbaut war, das Abitur zu machen. Er verließ mit dem Zeugnis der “Mittleren Reife” 1949 die Oberschule und begann eine Maurerlehre.
Im Frühjahr 1951 kam er in Kontakt zu einer Widerstandsgruppe aus Werder/Havel, die bereits von Agenten des MfS unterwandert war. Dies führte zu seiner Verhaftung im Juni 1951, zur Verurteilung durch ein Sowjetisches Militärtribunal und einem fast fünf Jahre währenden Aufenthalt in sibirischen Straflagern.
Nach seiner Rückkehr im Herbst 1955 schloss er seine Maurerlehre ab und absolvierte ein Ingenieurstudium an der Akademie für Bautechnik in München. Utech war anschließend bis 1994 im Bausektor tätig. Seit 1976 ist er Mitglied der Bayerischen Architektenkammer.

8. Oktober 2003

Dr. Peter Moeller:

Schüler-Widerstand und -Repression in den frühen Jahren der DDR
am Beispiel der John-Brinckman-Schule in Güstrow

Ob in Werder/Havel bei Berlin oder in der kleinen sächsischen Stadt Werdau, ob im thüringischen Altenburg oder im mecklenburgischen Güstrow – Widerstand gegen die Politik der SED regte sich in den frühen Jahren der DDR an vielen Schulen.
Uwe Johnson – selbst Absolvent der John-Brinckman-Schule in Güstrow – beschreibt in seinem Roman “Ingrid Babendererde” die erdrückenden, repressiven Verhältnisse an der John-Brinckman-Schule Anfang der 50er Jahre; in seinen “Jahrestagen” ist u.a. jener Schülerprozess vom Herbst 1950 verarbeitet, zu dessen Opfern der Referent des Abends, der damals 19-jährige Peter Moeller, gehörte.
Als kurz nach dem Prozess in einer Schülerversammlung der John-Brinckman-Schule Lehrer und Schüler aufgefordert wurden, die Urteile öffentlich zu begrüßen, verweigerte die Mehrzahl die Zustimmung, wie vorliegende Spitzelberichte belegen. Einige Klassen protestierten geschlossen gegen die Urteile.
Was trieb junge Leute dazu, den riskanten und gefährlichen Weg des Widerstands zu gehen? War es ein von außen, von West-Berliner Widerstandsorganisationen “angezettelter” Widerstand? Hat Uwe Johnson in seinen literarischen Werken ein zutreffendes Bild des politischen Klimas jener Jahre gezeichnet?
Zu diesen und weiteren Fragen wird Dr. Moeller nach seinem Vortrag Rede und Antwort stehen.

(Das Buch (Nachdruck zur 2. Auflage) ist für einen Unkostenbeitrag von EUR 5,80 zu beziehen über Dr. Wolfgang Baudisch, Peter-Lurenz-Weg 3, 18055 Rostock, Tel.: (03 81) 68 01 48 oder per e-Mail: bestellung@vers-buecher.de)

10. September 2003

Inge Bennewitz:

“Das verurteilte Dorf” – Ein Propagandafilm der DEFA wird für die SED zum Eigentor

Streufdorf, Kreis Hildburghausen, im Mai 1952. Im Saal der Dorfkneipe steht seit Februar “Das verurteilte Dorf” (Regie: Martin Hellberg) auf dem Spielplan. Der Inhalt: Ein westdeutsches Dorf soll eingeebnet werden, weil die Amerikaner einen Militärflugplatz errichten wollen. Als nach wochenlangem Gerangel die Räumkommandos anrücken, werden die Sturmglocken geläutet, und die Bewohner der Nachbardörfer eilen herbei. In Anbetracht der enormen Menschenmassen müssen sich die Amerikaner gedemütigt zurückziehen. Das ND behauptete damals, der Film sei authentisch und spiele in Hammelburg (Bayern).

Am 26. Mai werden ca. 300.000 Menschen, die nahe der Zonengrenze leben, durch eine Ministerrats-Verordnung zu Sperrzonenbewohnern – auch die Streufdorfer. Zwei Tage zuvor war “Das verurteilte Dorf” plötzlich aus dem Spielplan gestrichen worden. Am 4. Juni wird klar, warum. Um vier Uhr morgens rückt – ähnlich wie im Film – ein Riesenräumkommando an, und 13 (politisch unliebsamen) Familien wird verkündet: “Sie werden ausgewiesen, Sie haben zwei Stunden Zeit zum Packen.” Ein Arbeiter ruft: “Lasst es uns doch so machen wie in dem Film ‘Das verurteilte Dorf’.” Die Kirchenglocken läuten Sturm. Wenig später verteidigt die ganze Gegend die 13 bedrohten Familien.

Kurz darauf erlässt der thüringische Landes-Chef der SED Weisung zu prüfen, ob es sich bei der Tatsache, dass der Film gerade zum Zeitpunkt der Aussiedlungen (Aktion “Ungeziefer”) im Grenzgebiet lief, um “bewusst gegenerische Arbeit” gehandelt habe. Der Weisung wurde nachgegangen. Es gibt lange Listen, aus denen hervorgeht, wann welche Kopie-Nr. in welchem Grenzort gelaufen und zurückgesandt worden ist. Ironie des Schicksals: Der thüringische SED-Chef für Agitation hatte am 14. Februar aus Berlin Weisung bekommen, den Film gerade in den Grenzorten massenwirksam zu propagieren. Westdeutsche sollten über die damals noch offene Grenze in die Kinos gelockt werden. An sie war die politische Botschaft gerichtet.

In Streufdorf und in Hammelburg ging die Sache ganz anders aus als im Film.

13. Juni 2003

Auf den Spuren der Berliner Bauarbeiter -
eine Bootsfahrt in die Vergangenheit

“Triumph” und “Seid bereit” hießen die beiden Schiffe der Berliner “Weißen Flotte”, mit denen am 13. Juni 1953, es war ein Sonnabend, Bauarbeiter der Berliner Bauunion ab der Anlegestelle Jannowitzbrücke Richtung Schmöckwitz fuhren.
Es war eine in die Geschichte eingehende Dampferfahrt, wurden doch während dieses Ausflugs und beim anschließenden feucht-fröhlichen Umtrunk in der Gaststätte “Rübezahl” die ersten Pläne geschmiedet, in der kommenden Woche jenen Streik zu beginnen, der schließlich zum Signal für den Volksaufstand vom 17. Juni wurde.

Ich lade Sie herzlich ein, am Freitag, den 13. Juni 12003, mit mir diese historische Fahrt zu wiederholen.
Während der Fahrt nach Schmöckwitz, Gaststätte “Rübezahl”, werden wir mit einem kleinen Programm an die Ereignisse vor 50 Jahren erinnern.

Mit freundlichem Gruß
Martin Gutzeit (Landesbeauftragter)

7. Mai 2003

Jens Schöne:

Nur Arbeiteraufstand?
Der 17. Juni 1953 auf dem Lande

Lange Zeit galten die Ereignisse im Juni des Jahres 1953 als “Arbeiteraufstand”. Die soziale Basis der Erhebung war jedoch wesentlich breiter. Unter den etwa 700 Orten, in denen es zwischen dem 16. und dem 21. Juni zu Streiks, Demonstrationen oder Angriffen auf Repräsentanten der SED-Herrschaft kam, waren über 300 Dörfer. Mehr noch: Die Unruhen hatten hier früher begonnen als in den Städten, dauerten weitaus länger an und erfassten alle Teile der ländlichen Gesellschaft. “Ruhe in den Städten, aber Gärung u. Feindhetze auf dem Lande”, notierte Victor Klemperer in seinem Tagebuch und gab damit eine treffende Zustandsbeschreibung der DDR in der zweiten Hälfte des Jahres 1953 ab.
Die einseitige Konzentration der Historiographie auf die Arbeiterklasse hat jedoch dazu geführt, dass diese Seite des Aufstandes nahezu unbekannt geblieben ist. Auch jetzt, 50 Jahre später, scheint sich daran nur wenig zu ändern. Woran liegt das? Welche neuen Erkenntnisse lassen sich durch die Berücksichtigung des ländlichen Lebensraumes gewinnen und inwiefern muss unser Bild von den Ereignissen damit revidiert werden? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des Vortrages. Die unmittelbare Vorgeschichte des Aufstandes wird dabei ebenso zu berücksichtigen sein wie seine Folgen; im Zentrum stehen jedoch die Ereignisse in den Dörfern selbst, so u.a. die wichtigsten Ursachen für die Auseinandersetzungen, die spezifischen Formen des bäuerlichen Widerstandes und die Reaktionen der lokalen Herrschaftsträger.

Jens Schöne, geb. 1970, Historiker, nach landwirtschaftlicher Ausbildung Studium der Neueren und Neusten Geschichte sowie Anglistik und Amerikanistik in Berlin, seit 2001 Promotionsstipendiat der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

9. April 2003

Dr. Torsten Diedrich:

Die kurze Geschichte des Dienstes für Deutschland
Reichsarbeitsdienst auf “sozialistisch”? – der “Dienst für Deutschland” der DDR (1952/53)

Im August 1952 trafen die ersten der für den “Dienst für Deutschland” (DD) geworbenen 6000 Jungen und Mädchen in den unwirtlichen Wäldern des Nordostens der DDR ein. Sie waren mit den Versprechen zu einem fröhlichen Jugendleben in den Lagern, interessanten persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und zu einem Arbeitsdienst für den Aufbau von “Großprojekten des sozialistischen Aufbaus” geworben worden. Sie fanden ein Nichts an Vorbereitung vor, mussten ihre Lager erst selbst errichten und durchlebten folgend zumeist ein halbes Jahr physisches und psychisches Martyrium.
Mit dem “Dienst für Deutschland” versuchte die SED-Führung 1952, nach dem Vorbild des nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienstes die Dreieinigkeit von preiswertem Arbeitsdienst, Wehrertüchtigung und ideologischer Beeinflussung der Jugend in der DDR durchzusetzen. Die Jungen und Mädchen sollten vorerst die dringend benötigten Kasernen für die im Sommer 1952 gebildete Kasernierte Volkspolizei errichten. Ein voraussetzungsloser Aufbau führte schnell zu einem Fiasko dieser Organisation, die bereits Anfang 1953 wieder aufgelöst werden musste.
Der Vortrag informiert über die Hintergründe der Bildung des DD, die kurze Geschichte des Arbeitsdienstes sowie über die Probleme des Alltags für die Jugendlichen in diesem Dienst, der ein kurzes, aber bezeichnendes Schlaglicht auf den Umgang der DDR-Führung mit den Menschen in den frühen fünfziger Jahren wirft.

Außerhalb der regelmäßigen Veranstaltungen

21. März 2003

Dr. Falco Werkentin:

“Schädlinge und Saboteure aus Kleinmachnow vor Gericht” – Die Hintergründe eines Schauprozesses im Februar 1953

In Kleinmachnow, einer kleinen Gemeinde am Rande Berlins, an Zehlendorf angrenzend, versammeln sich am Abend des 30. Oktober 1952 ca. 2000 Bewohner im örtlichen Lichtspieltheater und auf dessen Vorplatz. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Gemeindevertretung über kürzlich erfolgte Absperrmaßnahmen an der Grenze zum West-Berliner Ortsteil Düppel beraten wollte. Der dortige Bahnhof war seit je die kürzeste Verbindung nach Berlin für die vielen Kleinmachnower, die dort traditionell zur Arbeit gingen. Die plötzlichen Absperrungen zwangen den berufstätigen Machnowern zeitraubende Umwege auf.
Nach einer heftigen Diskussion wurde eine Resolution verabschiedet, die u.a. an den DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl geschickt wurde. In artigen Worten, wenngleich mit Schwejkschem Unterton, heißt es:
“Die seit September 1952 eingerichtete außerordentlich zeitliche Beschränkung des Verkehrs zwischen Kleinmachnow und Berlin ist geeignet, den Aufbau des Sozialismus in der DDR durch körperliche und außergewöhnliche Nervenanspannung der von diesen Maßnahmen Betroffenen zu gefährden. 65 % der Bewohner K. arbeiten im demokratischen Sektor Berlins und sind je nach ihrer Dienstzeit gezwungen, zum Hinweg oder zum Rückweg weite Umwege zu machen …
Im Namen der äußerst beunruhigten und um das Gedeihen des sozialistischen Aufbaus besorgten Bevölkerung fordern die am 30. Oktober 1952 im Kino in Kleinmachnow Versammelten einstimmig eine umgehende Beseitigung der Verkehrsbeschränkungen und dass der alte Zustand für alle Bürger Kleinmachnows wieder hergestellt wird. Ferner, dass nach demokratischem Recht derjenige genannt wird, der für diese Maßnahme zeichnet.”
Doch die SED-Genossen, seit der 2. Parteikonferenz im Sommer 1952 gerade dabei, mit revolutionärer Ungeduld die Bevölkerung vergeblich für den Aufbau des Sozialismus zu begeistern, kannten keinen Spaß. Wenige Tage später, am 3. November, fasste das von Walter Ulbricht geleitete Sekretariat des ZK einen Beschluss über “Provokationen in Kleinmachnow”. Das MfS, die Volkspolizei, Mitarbeiter der Zentralen Kommission für staatliche Kontrolle, ein ZK-Angestellter und Genossen der SED-Bezirks- und Kreisleitung machten sich an die Arbeit, das “reaktionäre Nest” Kleinmachnow auf Linie zu bringen. Obwohl seit 1947 in der Kleinmachnower “Hakeburg” die SED-Parteihochschule residierte, gab es bislang nur ca. 220 SED-Genossen in diesem reaktionären Ort. Das sollte sich ändern – das wurde geändert!
In der Nacht vom 4. zum 5. Dezember erfolgten Verhaftungen, am 9. Februar 1953 begann der Schauprozess im Potsdamer Kulturhaus der Eisenbahner gegen neun “Schädlinge und Saboteure aus Kleinmachnow, die in der Zeit von 1945 bis Dezember 1952 fortlaufend Sabotageakte, Wirtschaftsverbrechen und Spekulationsgeschäfte ausgeübt haben”. Zwei der “Schädlinge”, die nun zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden, waren zuvor als “rassisch Verfolgte” gerade noch der Mordpraxis der Nazis entgangen. Auch Gerhardt Juhr, im März 1952 – gerade 21-jährig geworden – von der SED zum Bürgermeister gemacht, erhielt vier Jahre Zuchthaus.
Immerhin wurden nun Wohnungen für die Genossen der Parteihochschule frei. Zum Beispiel bezog deren Direktorin, Hanna Wolf, alsbald in Kleinmachnow das Haus des “zionistischen Agenten” – wie er in der DDR-Presse bezeichnet wurde – und Präsidenten des Verbands der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Julius Meyer. Er flüchtete im Januar 1953 in den Westen und starb in Brasilien.
Seit 1990 fordert eine Bürgerinitiative “Kleinmachnow den Kleinmachnowern!” Doch wer ist “Kleinmachnower”? Die ab 1933 Vertriebenen? Die Neubürger ab 1945? Die seit 1950 Verurteilten und weggejagten Altbewohner? Die Neubürger ab 1950? Oder jene, die ab 1990 Häuser bezogen?

Der Referent, Falco Werkentin, ist stellvertretender Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Berlin.

12. März 2003

Klaus Kordon:

Lesung aus seinem Buch “Krokodil im Nacken”

12. Februar 2003

Dr. Annette Leo:

Antizionismus oder Antisemitismus? – Die letzte Phase politischer Säuberungen in der DDR vor Stalins Tod

Am Nachmittag des 5. Februar 1953 verkündete der Präsident der DDR-Volkskammer, Johannes Dieckmann, am Ende der Sitzung den sich zum Aufbruch rüstenden Abgeordneten, dass ihr Kollege Julius Meyer von der Fraktion VVN, VdgB und Genossenschaften “das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik auf nicht gesetzlichem Wege” verlassen habe. Sein Mandat sei damit erloschen.
Julius Meyer, Überlebender der Lager Auschwitz und Ravensbrück, leitete seit 1949 gemeinsam mit Heinz Galinski die Jüdische Gemeinde in der bereits geteilten Stadt Berlin. Er war Mitglied der SED und spielte eine wichtige Rolle im Vorstand der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN).
Nach seiner Flucht in den Westen erklärte Meyer vor der internationalen Presse in Berlin (West): “Es gibt keinen Antisemitismus im deutschen Volk. Es gibt nur einen Antisemitismus in der SED, der aus hochpolitischen Gründen von Moskau gesteuert wird.”
Mit Meyer zusammen waren weitere Repräsentanten der Jüdischen Gemeinden der DDR in die Bundesrepublik geflohen. Auch der ehemalige Staatssekretär und Leiter der Kanzlei von Wilhelm Pieck, Leo Zuckermann, der Ostberliner Kammergerichtspräsident Hans Freund, der Direktor der Ostberliner Wasserwerke Heinz Fried und andere Juden kamen mit ihrer Flucht einer drohenden Verhaftung als “zionistische Agenten” zuvor.
Nach dem Slansky-Prozess in Prag sowie der Aufdeckung einer angeblich zionistisch gelenkten Ärzte-Verschwörung in Moskau setzten in der DDR Repressalien gegen jüdische Bürger ein. Sie wurden als zionistische Agenten diffamiert, sollten in Verhören ihre angeblichen “geheimdienstlichen Kontakte” gestehen oder wurden aus öffentlichen Stellungen entfernt.
War diese antizionistisch genannte Repressionswelle, die nach Stalins Tod im März 1953 wieder verebbte, ein nur dürftig bemäntelter Antisemitismus, der nur wenige Jahre nach dem Ende des Holocaust an bestehende rassistische Vorurteile anknüpfte? Oder handelte es sich eher um eine aus Moskau stammende politische Verschwörungstheorie,

8. Januar 2003

Dr. Falco Werkentin:

“Schädlinge und Saboteure aus Kleinmachnow vor Gericht” – Die Hintergründe eines Schauprozesses im Februar 1953