21. März 2003
Dr. Falco Werkentin:
“Schädlinge und Saboteure aus Kleinmachnow vor Gericht” – Die Hintergründe eines Schauprozesses im Februar 1953
In Kleinmachnow, einer kleinen Gemeinde am Rande Berlins, an Zehlendorf angrenzend, versammeln sich am Abend des 30. Oktober 1952 ca. 2000 Bewohner im örtlichen Lichtspieltheater und auf dessen Vorplatz. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Gemeindevertretung über kürzlich erfolgte Absperrmaßnahmen an der Grenze zum West-Berliner Ortsteil Düppel beraten wollte. Der dortige Bahnhof war seit je die kürzeste Verbindung nach Berlin für die vielen Kleinmachnower, die dort traditionell zur Arbeit gingen. Die plötzlichen Absperrungen zwangen den berufstätigen Machnowern zeitraubende Umwege auf.
Nach einer heftigen Diskussion wurde eine Resolution verabschiedet, die u.a. an den DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl geschickt wurde. In artigen Worten, wenngleich mit Schwejkschem Unterton, heißt es:
“Die seit September 1952 eingerichtete außerordentlich zeitliche Beschränkung des Verkehrs zwischen Kleinmachnow und Berlin ist geeignet, den Aufbau des Sozialismus in der DDR durch körperliche und außergewöhnliche Nervenanspannung der von diesen Maßnahmen Betroffenen zu gefährden. 65 % der Bewohner K. arbeiten im demokratischen Sektor Berlins und sind je nach ihrer Dienstzeit gezwungen, zum Hinweg oder zum Rückweg weite Umwege zu machen …
Im Namen der äußerst beunruhigten und um das Gedeihen des sozialistischen Aufbaus besorgten Bevölkerung fordern die am 30. Oktober 1952 im Kino in Kleinmachnow Versammelten einstimmig eine umgehende Beseitigung der Verkehrsbeschränkungen und dass der alte Zustand für alle Bürger Kleinmachnows wieder hergestellt wird. Ferner, dass nach demokratischem Recht derjenige genannt wird, der für diese Maßnahme zeichnet.”
Doch die SED-Genossen, seit der 2. Parteikonferenz im Sommer 1952 gerade dabei, mit revolutionärer Ungeduld die Bevölkerung vergeblich für den Aufbau des Sozialismus zu begeistern, kannten keinen Spaß. Wenige Tage später, am 3. November, fasste das von Walter Ulbricht geleitete Sekretariat des ZK einen Beschluss über “Provokationen in Kleinmachnow”. Das MfS, die Volkspolizei, Mitarbeiter der Zentralen Kommission für staatliche Kontrolle, ein ZK-Angestellter und Genossen der SED-Bezirks- und Kreisleitung machten sich an die Arbeit, das “reaktionäre Nest” Kleinmachnow auf Linie zu bringen. Obwohl seit 1947 in der Kleinmachnower “Hakeburg” die SED-Parteihochschule residierte, gab es bislang nur ca. 220 SED-Genossen in diesem reaktionären Ort. Das sollte sich ändern – das wurde geändert!
In der Nacht vom 4. zum 5. Dezember erfolgten Verhaftungen, am 9. Februar 1953 begann der Schauprozess im Potsdamer Kulturhaus der Eisenbahner gegen neun “Schädlinge und Saboteure aus Kleinmachnow, die in der Zeit von 1945 bis Dezember 1952 fortlaufend Sabotageakte, Wirtschaftsverbrechen und Spekulationsgeschäfte ausgeübt haben”. Zwei der “Schädlinge”, die nun zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden, waren zuvor als “rassisch Verfolgte” gerade noch der Mordpraxis der Nazis entgangen. Auch Gerhardt Juhr, im März 1952 – gerade 21-jährig geworden – von der SED zum Bürgermeister gemacht, erhielt vier Jahre Zuchthaus.
Immerhin wurden nun Wohnungen für die Genossen der Parteihochschule frei. Zum Beispiel bezog deren Direktorin, Hanna Wolf, alsbald in Kleinmachnow das Haus des “zionistischen Agenten” – wie er in der DDR-Presse bezeichnet wurde – und Präsidenten des Verbands der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Julius Meyer. Er flüchtete im Januar 1953 in den Westen und starb in Brasilien.
Seit 1990 fordert eine Bürgerinitiative “Kleinmachnow den Kleinmachnowern!” Doch wer ist “Kleinmachnower”? Die ab 1933 Vertriebenen? Die Neubürger ab 1945? Die seit 1950 Verurteilten und weggejagten Altbewohner? Die Neubürger ab 1950? Oder jene, die ab 1990 Häuser bezogen?
Der Referent, Falco Werkentin, ist stellvertretender Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Berlin.