Veranstaltungen 2006

Geschichte und Lebensgeschichte im Jahrhundert der Ideologien

Die biographische Verarbeitung politischer Umwälzungen im 20. Jahrhundert

Das 20. Jahrhundert mit seinen epochalen Umbrüchen, zwei Weltkriegen und den großen Weltanschauungskämpfen führte zu unzähligen biographischen Verwerfungen und Rissen – und dies häufig mehrfach in einem Leben. Gut bürgerlich aufgewachsene Söhne und Töchter wurden zu Soldaten und Aktivistinnen der kommunistischen Weltrevolution – oder zu fanatischen Nazis. Es konnte aus Einsicht und Überzeugung – aber auch aus Opportunismus – zu neuen politischen Orientierungen kommen. Ex-Kommunisten wurden zu engagierten Vertretern einer “offenen Gesellschaft”; überzeugte Nazis entwickelten sich zu überzeugten Parteigängern der SED-Diktatur – der einst am Massenmord beteiligte Nazi-Funktionär bewies nach 1945 jahrzehntelang streitbaren Einsatz für bedrohte Völker und Minderheiten; der einstige SS-Mann heiratete eine jüdische Frau.
Meist versuchten die Menschen nach Systemumbrüchen, sich mit den neuen Bedingungen zu arrangieren. Biographien werden umgeschrieben, Perioden der Lebensgeschichte verschwiegen und verleugnet.
Die Veranstaltungsreihe “Die biographische Verarbeitung politischer Umwälzungen” will anhand exemplarischer Lebensläufe ein Panorama deutscher Möglichkeiten und Lebenswege im 20. Jahrhundert entfalten – von der Zeit der Weimarer Republik bis zum wiedervereinten Deutschland.
Dahinter stehen Fragen:
Wie glaubwürdig sind politische Neuorientierungen? Wie weit darf und muss eine demokratische Gesellschaft – ohne die eigene Glaubwürdigkeit/Substanz zu gefährden – bei der Integration von Menschen gehen, die einst Parteigänger und/oder gar Schergen eines totalitären Regimes waren? Welches Maß an Integration ehemaliger Täter ist den Opfern zumutbar?

11. Januar 2006

Spielfilm “Wir Wunderkinder”

Deutschland 1958
Regie: Kurt Hoffmann; Buch: Günter Neumann / Heinz Pauck; Mit: Hansjörg Felmy, Robert Graf, Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller

In dieser vielfach ausgezeichneten filmischen Satire werden zwei typische deutsche Lebenswege gegeneinander gestellt – im Kaiserreich beginnend und in der jungen Bundesrepublik endend.

15. Februar 2006

Erich Loest (Schriftsteller):

Lesung und Gespräch

In seinem autobiographischen Buch “Durch die Erde ein Riß” zeichnet Loest seinen Weg nach: vom gläubigen Hitlerjungen, der nach 1945 das Nazi-Regime mit der Waffe verteidigen wollte, zum begeisterten Sozialisten und SED-Mitglied – bis zur Verurteilung im Jahre 1957 und dem Bruch mit dem SED-Regime.

8. März 2006

Ilko-Sascha Kowalczuk (Abt. Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen):

Bürgerliche Politiker im Dienst der SED: Der Fall Karl Hamann

Karl Hamann: in der NS-Zeit selbstständiger Landwirt, 1945 Mitbegründer der LDPD in der SBZ, 1948/49 Mitglied der Deutschen Wirtschaftskommission und seit Proklamation der DDR bis zur Verhaftung im Dezember 1952 Volkskammermitglied und Minister für Handel und Versorgung.

Am 19. August 1991 kassierte das Berliner Landgericht das 1954 gegen Karl Hamann verhängte Urteil. Es charakterisierte dieses als “Willkürentscheidung zur Ausschaltung politischer Gegner des SED-Regimes bzw. solcher Personen, die dafür gehalten oder dazu gemacht wurden”. Diese Formulierung wirft die Frage auf, ob der LDP-Vorsitzende und Minister für Handel und Versorgung in die Fänge der Staatssicherheit geriet, weil er aktiv gegen die SED-Politik opponierte oder ob er stellvertretend verhaftet und verurteilt wurde, um die Blockparteien endgültig auf den SED-Kurs einzuschwören.
Der Referent wird sich mit dieser Frage anhand des politischen Wirkens Karl Hamanns auseinandersetzen und zugleich beleuchten, wie das MfS den Liberaldemokraten verfolgte, verhaftete und schließlich verurteilen ließ. Dabei wird auch Hamanns Verhalten in der Untersuchungshaft, im Gerichtsverfahren sowie nach seiner vorzeitigen Haftentlassung untersucht. Die Biographie Karl Hamanns steht dabei exemplarisch für Lebenswege von Personen/Menschen, die nach den Verbrechen der NS-Diktatur nach gesellschaftlichen Alternativen suchten.

12. April 2006

Schreiben als Befreiung?

Ein Gespräch mit ehemaligen politischen Häftlingen über den Versuch, sich schreibend mit der Last der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Mit:
  • Eva-Maria Stege
  • Hans-Eberhard Zahn
  • Wolfgang Kockrow

Moderation:
Dr. Andreas Eberhardt (“Gegen das Vergessen” e.V.)

Eva-Maria Stege wurde 1945 in den letzten Kriegstagen als junges Mädchen zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschleppt. Sie kehrte 1950 nach Deutschland zurück. In ihrem Buch “Bald nach Hause – Skoro domoi” (2. Aufl. Berlin 1993, Aufbau-Taschenbuch) hat sie ihren Lebens- und Leidensweg geschildert.

Der Diplom-Psychologe Hans-Eberhard Zahn, Jg. 1928, wurde 1953 als Student der Freien Universität vom MfS verhaftet und zu sieben Jahren Haft verurteilt. Im November 1960 wurde er nach West-Berlin entlassen. In seiner Publikation “Haftbedingungen und Geständnisproduktion in den Untersuchungshaftanstalten des MfS” (Bd. 5 der Schriftenreihe des Berliner LStU) analysiert er mit professioneller Distanz, veranschaulicht anhand eigener Erfahrungen, die Methoden, mit deren Hilfe das MfS Häftlingen Geständnisse abzupressen versuchte.

Wolfgang Kockrow, Jg. 1932, ist in Berlin in einer sozialdemokratischen Familie aufgewachsen. Er engagierte sich in den 50er Jahren bei den “FALKEN” und der Gewerkschaft ÖtV. Im November 1959 wird er vom MfS festgenommen und zu 3 1/2 Jahren Haft verurteilt. Kurz vor der Haftentlassung wird er wegen “staatsgefährdender Hetze” erneut zu 2 Jahren Haft verurteilt, so dass er erst im Juli 1954 wieder in Freiheit kam. In seiner Publikation “Nicht schuldig!” hat er den Versuch, wie er es selbst formulierte, unternommen, sich von 5 1/2 Jahren Zuchthaus in der DDR freizuschreiben (Schriftenreihe des Berliner LStU, Bd. 11).

10. Mai 2006

Susanne Meinl (Fritz-Bauer-Institut Frankfurt/Main):

Ein politischer Abenteurer? Der Lebensweg des Friedrich Wilhelm Heinz

F.W. Heinz: Teilnehmer am Hitler-Putschversuch 1923, später konservativer Gegner Hitlers, nach 1945 kurzzeitig SPD-Mitglied, dann Konrad Adenauers erster Geheimdienstchef.

Wer heute die Skandalchronik der frühen Bundesrepublik aufschlägt, wird unter der Rubrik “Kalter Krieg” für das Jahr 1954 vermutlich mit einer Geschichte konfrontiert: dem bis heute nicht ganz geklärten “Überlaufen” des Leiters des Bundesverfassungsschutzes, Otto John, in die DDR. Doch das Jahr 1954 hatte noch ganz andere Begebenheiten aus dem Agentenleben zwischen Ost und West zu bieten: Kaum ein halbes Jahr nach dem Übertritt von Otto John und dem vermeintlichen Frontwechsel des Ost-Agenten und CDU-Bundestagsabgeordneten Karlfranz Schmidt-Wittmack schien auch der ehemalige Abwehrchef Konrad Adenauers, Friedrich Wilhelm Heinz, die Seiten gewechselt zu haben. Doch bereits kurz darauf tauchte er wieder in West-Berlin auf und verblüffte die Öffentlichkeit mit einer Geschichte, die so ganz dem zwielichtigen Szenario des Kalten Krieges zu entsprechen schien. Spätestens jetzt erfuhr die Öffentlichkeit nicht nur von der Existenz eines neuen Nachrichtendienstes der Adenauer-Administration – die Vorläuferorganisation des BND, das nachrichtendienstliche Konkurrenzunternehmen, die “Organisation Gehlen”, stand ja noch im Dienste der USA -, sondern auch, welche Persönlichkeit an seiner Spitze stand: Ein Freikorpskämpfer und Nationalsozialist der ersten Stunde, später Gegner Hitlers und nach dem 20. Juli 1944 dem Tod nur knapp entronnen.
Die Referentin beschreibt den Lebensweg vom preußischen Leutnant des Ersten Weltkriegs zum Verschwörer gegen Hitler und schließlich ersten Geheimdienst-Chef Konrad Adenauers anhand freigegebener Akten der DDR-Staatssicherheit und US-amerikanischer Nachrichtendienste.

14. Juni 2006

Die folgende Veranstaltung fällt aus und wird auf den 8. November 2006 verschoben:

Alexander v. Plato (Institut für Geschichte und Biographie, FernUniversität in Hagen):

Persönliche Umorientierungen in Zeiten politischer Umbrüche
Ein Panorama deutscher Möglichkeiten

Im Zentrum der Forschungen des Instituts für Geschichte und Biographie, dessen geschäftsführender Direktor der Referent ist, stehen die Erfahrungen von Menschen, von Zeitzeugen aus unterschiedlichen historischen, sozialen und politischen Zusammenhängen. Untersucht werden Veränderungen in biographischen Konstruktionen, Entwicklungen von Konsens- und Dissenselementen in einer Gesellschaft, und die Verarbeitungen politischer Brüche. Es geht mithin um die Frage, wie Menschen (ihre) Geschichte erlebt und wie ihre Erfahrungen in die Geschichte hineingewirkt haben. Die gegenwärtigen Forschungen sind stark von deutsch-deutschen Fragestellungen bestimmt: Welche unterschiedlichen oder auch ähnlichen Erfahrungen haben Menschen gemacht, die in verschiedenen politischen Systemen gelebt haben, aber durch eine gemeinsame Geschichte und Zukunft verbunden sind?
In seinem Vortrag zieht der Referent eine erste Zwischenbilanz der Veranstaltungsreihe “Die biographische Verarbeitung politischer Umwälzungen im 20. Jahrhundert”, die nach der Sommerpause bis Dezember 2006 fortgesetzt werden wird.

13. September 2006

Hans Joachim Schädlich (Schriftsteller, Berlin):

Vertuschte Vergangenheit
Lesung und Gespräch

Die gegenwärtige Debatte über Günter Grass verweist auf die Aktualität der Vortragsreihe “Geschichte und Lebensgeschichte im Jahrhundert der Ideologien” – ein Thema, dem sich Hans Joachim Schädlich bereits 2003 in seinem Roman “Anders” angenommen hat. Unter anderem zeichnet er den Lebensweg des SS-Hauptsturmführers und Leiters des “Germanischen Wissenschaftseinsatzes” der SS-Abteilung Ahnenerbe, Hans Schneider, nach. In der Bundesrepublik machte Schneider unter dem Namen Hans Schwerte Karriere als angesehener, liberaler Germanist und Rektor der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH).
Der Fall Schneider/Schwerte ist nur ein Exempel.
Auch die Wiedervereinigung führte zu vielfältigen biographischen Verwerfungen und Rissen – zwang zu neuen lebensgeschichtlichen Arrangements. In der Diskussion zwischen dem früheren Ost-Berliner Autor Hans Joachim Schädlich und dem früheren West-Berliner Autor Hans Christph Buch wird auch dies zur Sprache kommen.

11. Oktober 2006

Klaus Bästlein (Jurist und Rechtshistoriker, Berlin):

Ein obrigkeitsstaatlicher Jurist
Hermann Weinkauff: Vom Reichsanwalt unter Hitler zum ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofes

Hermann Weinkauf, 1894 in der Rheinpfalz geboren, nahm am Ersten Weltkrieg als Reserveleutnant teil und machte anschließend rasch Karriere in der bayerischen Justiz. 1926 wurde er Mitarbeiter der Reichsanwaltschaft in Leipzig. Sein Vorgesetzter, Reichsanwalt Werner, war verdecktes Mitglied der NSDAP und bekämpfte die demokratische Republik von Weimar. 1937 wurde Weinkauf von Hitler zum Reichsgerichtsrat ernannt, obwohl er nicht der NSDAP angehörte.
So galt Weinkauf nach 1945 als “unbelastet” und machte rasch wieder Karriere. 1950 setzte Adenauer seine Ernennung zum ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofes durch. Dort agierten bald viele NS-Juristen. Das Bundesverfassungsgericht wurde hingegen von Gegnern der NS-Diktatur und Emigranten geprägt. Weinkauf wollte auch dieses Gericht seinem Einfluss unterstellen. Die Auseinandersetzungen kulminierten in der Frage um die Fortgeltung der NS-Beamtenrechte über 1945 hinaus. Während Weinkauf deren Fortbestand vertrat, lehnte das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsauffassung strikt ab. Dies führte zur schärfsten Kontroverse in der Geschichte der obersten bundesdeutschen Gerichte.
Weinkauf hatte nach 1945 eine katholische Naturrechtslehre entwickelt, die über dem Grundgesetz stehen sollte. Auch dies verwarf das Bundesverfassungsgericht und setzte die Geltung der Grundrechte durch. Als Weinkauf 1960 ausschied, beauftragte ihn das Münchner Institut für Zeitgeschichte mit einem großen Forschungsprojekt über die Justiz im Nationalsozialismus. Weinkauf suchte die NS-Juristen zu exkulpieren. Das Vorhaben entwickelte sich so peinlich, dass es nach wenigen Jahren aufgegeben werden musste.

8. November 2006

Alexander v. Plato (Institut für Geschichte und Biographie, FernUniversität in Hagen):

Persönliche Umorientierungen in Zeiten politischer Umbrüche
Ein Panorama deutscher Möglichkeiten

13. Dezember 2006

Spielfilm “Wir Kellerkinder”

Deutschland 1960
Regie: Jochen Wiedermann; Buch: Wolfgang Neuss; Mit: Wolfgang Neuss, Jo Herbst, Wolfgang Gruner, Achim Strietzel, Karin Baal

In diesem Meisterstück politischer Satire wird die Geschichte von Macke Prinz erzählt. Während des Krieges versteckt er in seinem Keller den Kommunisten Knösel vor den Nazis, nach dem Kriege seinen Vater vor der Entnazifizierung. Knösel geht in die sowjetische Zone, um den Sozialismus aufzubauen – und kehrt schließlich als politischer Flüchtling nach Berlin (West) zurück, vertrieben von einem zum SED-Funktionär mutierten Ex-Nazi.

Außerhalb unserer Veranstaltungsreihe:

18. Januar 2006

Film-Uraufführung:

Mehr Licht. Das Lebenswerk des Franz Itting

Buch und Regie: Roman Grafe

und anschließendes Gespräch mit Joachim Gauck

Roman Grafe hat schon in seinem viel beachteten Buch “Die Grenze durch Deutschland” (Siedler Verlag, 2002) deutsche Geschichte am Beispiel des thüringischen Grenzorts Probstzella dargestellt.

Im Juli 1950 zog der 74-jährige Franz Itting aus Probstzella in das benachbarte Ludwigsstadt in Bayern und ließ sein Lebenswerk zurück: ein Elektrizitätswerk, das mehr als 100 Gemeinden mit Strom versorgte. Seinen Arbeitern hatte er Wohnungen bauen lassen und ein “Haus des Volkes”. Nazis hatten den “Roten Itting” in ein Konzentrationslager gesteckt, Kommunisten sperrten ihn 1948 erneut ein und enteigneten ihn schließlich.

Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Bevollmächtigen des Freistaats Thüringen beim Bund