Gedenken an die Opfer des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der Bundesregierung, liebe Mitglieder des Senats, liebe Bezirksverordnete, liebe Vorsteherin Jelisaweta Kamm,

im Namen des Bezirksamtes Mitte von Berlin begrüße ich Sie sehr herzlich am „Denkmal für die Opfer des 17. Juni 1953“ auf dem Urnenfriedhof Seestraße. Ich danke Ihnen, dass Sie mit Ihrer Teilnahme an diesem 71. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin und weiten Teilen der ehemaligen DDR das Gedenken an die Opfer weiter lebendig halten.

An diesem Ort, an dem wir uns heute versammelt haben, wurden am 23. Juni 1953 acht Opfer des Aufstandes gegen das SED-Regime zu Grabe getragen. Junge Männer, manche fast noch Kinder. Sie starben zumeist in Westberliner Krankenhäusern an ihren Verletzungen. Zugefügt von Truppen der Sowjetarmee und Polizeikräften der DDR – des Arbeiter- und Bauernstaates der auf Arbeiter und Bauern schoss.

Nur vier Jahre nach der Gründung der DDR erhoben sich am 17. Juni 1953 die Menschen landesweit. Sie forderten Freiheit, sie forderten Einheit, sie forderten zu Essen. Die Bauarbeiter der Stalinallee riefen zum Generalstreik auf. Am Straußberger Platz versammelten sich die Frauen des Bekleidungswerkes „Fortschritt“. 2000 Arbeiterinnen und Arbeiter, Männer und Frauen aus dem Stahl- und Walzwerks Hennigsdorf nördlich von Berlin marschierten von dort zu Fuß zum Brandenburger Tor – 25 km durch den französischen Sektor, durch den Wedding. Hier im altbekannten Arbeiterbezirk erfuhren sie Solidarität. Die Leute jubelten am Straßenrand, viele Menschen schlossen sich spontan an und marschierten mit.

An der Grenze zwischen sowjetischem und französischem Sektor kam es zu schweren Zwischenfällen. In der Chausseestraße hatten Demonstranten eine Polizeiwache gestürmt. Die Vopos haben von der Schusswaffe Gebrauch gemacht, um die Massen zurückzudrängen. Der sechzehnjährige Werner Sendsitzky aus dem Westsektor und der vierzehnjährige Rudi Schwander aus dem Ostsektor sind dabei getötet worden.

Werner Sendsitzky war Helfer in einer Motorradwerkstatt. Gemeinsam mit Freunden beobachtete er die Ereignisse aus sicherer Entfernung von einem Häuserdach aus – als er durchs Herz schossen leblos zusammensackte. Ein Zufallstreffer. Ein Vopo hatte einen Warnschuss in die Luft abgegeben. Werner Sendsitzky starb an seinem 16. Geburtstag.

Über Rudi Schwander wissen wir, dass er Schüler der 7b der 25. Volksschule, der heutigen Thomas-Mann-Grundschule in Prenzlauer Berg, war. Ihm wurde in den Hinterkopf geschossen. Schwer verletzt bringt man ihn ins Lazarus-Krankenhaus in der Bernauer Straße, wo man nichts mehr für ihn tun kann.
Werner Sendsitzky und Rudi Schwander werden nach der Trauerfeier des West-Berliner Senats am 23. Juni 1953 auf dem Friedhof Seestraße beigesetzt.
Sechs weitere Opfer liegen hier begraben:
Horst Bernhagen, Er starb im Alter von 21 Jahren im Elisabethkrankenhaus an den Folgen eines Kopfschusses.
Edgar Krawetzke, 20, aus Charlottenburg. Er starb an den Folgen eines Lungen- und Nierensteckschusses.
Oskar Pohl, 25, Student an der Freien Universität, erschossen an der Ecke Stresemannstraße / Prinz-Albrecht-Straße.
Gerhard Santura, 19, Lehrling als Elektroinstallateur in der Berufsschule Eiswerder in Spandau. Er beobachtete die Unruhen am Potsdamer Platz und wurde dabei erschossen.
Gerhard Schulze, 41, Vater zweier Kinder, Auch er wurde am Potsdamer Platz erschossen.
Willi Göttling, 35, Vater zweier kleiner Mädchen. Auch er Westberliner. Als solcher wurde er von der Sowjetarmee aufgegriffen und standrechtlich erschossen. Er habe im „Auftrage eines ausländischen Aufklärungsdienstes gehandelt und an den gegen die Machtorgane und die Bevölkerung gerichteten banditenhaften Ausschreitungen teilgenommen.“.
Die Propagandamaschinerie des MfS lief auf Hochtouren. Schließlich musste erklärt werden, warum die DDR gegen die eigenen Leute Panzer auffahren lässt.

Das SED-Regime verbreitete nach dem spontanen Aufstand der Bevölkerung, die sich ohne Führungs- und Symbolfiguren erhoben hatte, gezielt Verschwörungstheorien: Die Protestierenden seien Kriminelle, vom Westen gesteuerte Provokateure. Teilnehmende Frauen wurden als „Westberliner Nutten“ diffamiert, „die hetzerische Reden gegen Regierung und SED hielten“.
Die wahren Ereignisse wurden in der DDR totgeschwiegen. Erst nach 1989, mit dem Ende der SED-Diktatur, wurde ein offizielles Gedenken möglich. Die Aufarbeitung dauerte lange, bis aus dem anonymen Aufbegehren das Schicksal einzelner Menschen greifbar wurde.

Die Demonstrierenden vom Juni 1953 waren die ersten, die sich in Osteuropa gegen das kommunistische System erhoben hatten. Es folgten der Volksaufstand in Ungarn 1956, der Prager Frühling von 1968, die August-Streiks in Polen 1980 – schließlich 1989 die friedliche Revolution.
Hinter diesen abstrakten Zahlen und Daten stehen Einzelschicksale, individuelle Entscheidungen, persönliches Handeln.

Dieser Gedenktort erinnert uns daran, dass Freiheit, dass Grundrechte, dass Demokratie nicht selbstverständlich sind, nicht irgendwie da sind. Es bedarf des persönlichen Einsatzes. Es ist heute so wichtig wie damals, da wir zunehmend erleben, wie unsere gemeinsamen Werte in Frage gestellt werden. Diese Gedenkveranstaltung ist daher nicht nur ein Gedenken an die Opfer des 17. Juni 1953, sondern eine Mahnung an uns alle, wie wichtig es ist, sich auch heute für die Zivilgesellschaft einzusetzen.

Wieder werden einzelne Gruppen der Gesellschaft gegeneinander ausgespielt. Geschichte wird umgedeutet, Ereignisse werden instrumentalisiert, Fakten bewusst verdreht und Tatsachen verschweigen. Täglich werden wir mit einer Flut von Falschinformationen und Lügen konfrontiert, die sich in den Köpfen festsetzen, mit Diffamierungskampagnen und Verschwörungstheorien.
Das Mahnmal, vor dem wir stehen, erinnert uns daran, dass der Wille zur Freiheit stärker ist als jeder Unterdrückungsapparat. Den Machthabern der DDR ist es nicht gelungen, die historischen Tatsachen und ihre Schuld zu verschleiern oder zu relativieren. Die Menschen, derer wir gedenken, haben mittlerweile ein Gesicht bekommen. Wir kennen ihre Schicksale und dürfen sie nicht vergessen.