Rede der Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger in der BVV zu den extremistischen Vorfällen im Bezirk Mitte

Sehr geehrte Frau Vorsteherin,
werte Verordnete,

ich bedanke mich für Ihre Entschließung und alle Drucksachen rund um die Themen des politischen Extremismus, der Gewalt und es Antisemitismus. Gerne möchte ich als Bezirksbürgermeisterin hierzu auch ein paar grundsätzliche Worte sagen

7. Oktober als Einschnitt, gerade in unserem Bezirksamt Mitte von Berlin…

Wie wir in unserer Pressemitteilung als Bezirksamt bereits deutlich gemacht haben, verurteilen wir selbstverständlich den Brandanschlag auf und die Schmierereien an unserem Rathaus zutiefst, und wir sind gleichzeitig bewegt von Unverständnis und Bestürzung.

Dies gerade deshalb, weil es nicht unsere erste Gewalterfahrung am Rathaus Tiergarten, meinem Amtssitz als Bezirksbürgermeisterin ist seit dem 7. Oktober. So hatten Unbekannte im November die dort befindliche Vitrine angegriffen, in der eine Ausstellung des Vereins „Sie waren Nachbarn“ über jüdische Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus Moabit in der NS-Zeit zu sehen war. Durch das Feuer wurden die Exponate vollständig zerstört, die Vitrine wurde stark beschädigt.

Bereits zwei Mal hatten Unbekannte eine vor dem Rathaus Tiergarten gehisste Flagge Israels heruntergerissen. Auch anderswo im Bezirk Mitte gab es Angriffe auf jüdische Einrichtungen, unter anderem auf eine Synagoge in der Brunnenstraße sowie das Jüdische Krankenhaus in der Heinz-Galinski-Straße.

Und gerade in dieser Woche erst wurde auch das Deportations- und Holocaustmahnmal in der Levetzowstraße geschändet. Das hat mich besonders betroffen gemacht. Ich finde es ist krass fehlgeleitet, auf gegenwärtige Opfer aufmerksam machen zu wollen, indem man das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus stört und schädigt.

Meine Damen und Herren,
wenn ich hier noch einigermaßen beherrscht formuliere, so tue ich das frisch unter dem Eindruck der Veranstaltung, von der ich gerade komme, nämlich der Eröffnung des sogenannten „Platzes der Hamas-Geiseln“ auf dem Bebelplatz. Die Aktion soll an die 128 Menschen erinnern, die immer noch in den Händen der Hamas gefangen sind. Es war bewegend die Angehörigen zu erleben, die die Hoffnung nach all den Monaten noch nicht aufgegeben haben, ihre Lieben lebend wieder zu sehen.

Der Bebelplatz mit seinem bekannten Bodendenkmal zur Bücherverbrennung unter den Nationalsozialisten ist ein immens bedeutungsgeladener Ort für diese Aktualisierung, denn er macht nicht nur die Retraumatisierung deutlich, die die israelischen Bürger*innen durch den heimtückischen terroristischen Überfall der Hamas erfahren haben. Sondern er stellt für uns hier sehr klar den Zusammenhang her, dass auf hasserfüllte Worte und Gewalt gegen Sachen im zweiten Schritt allzu oft leider reale Gewalt gegen Menschen folgt.

All die Schmierereien etc: Mag ein Versuch sein, Aufmerksamkeit zu bekommen, aber gibt keine Entschuldigung für Gewalt als Instrument der politischen Durchsetzungswünsche.

Jedem der so etwas macht, sagen wir: Unser Weg in unserem Bezirk ist, dass wir gewaltfrei, friedlich, gleichberechtigt, wertschätzend und respektvoll miteinander umgehen, uns begegnen, gemeinsam zusammenleben. Von dieser freiheitlich demokratischen Kultur des Zusammenlebens in unserem vielfältigen Bezirk lassen wir uns nicht abbringen und wir lassen uns nicht einschüchtern. Es ist ein Weg, um den wir immer ringen, für den wir wirklich arbeiten müssen, es ist nicht einfach ein Geschenk, das wir sicher haben.

Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der terroristische Überfall der Hamas auf Israel und der anschließende Krieg in Gaza – wir in Mitte wissen, dass sich das alles nicht nur irgendwo in Welt abspielt, sondern ganz direkt auch mit den Menschen hier in unserem Bezirk zu tun hat. Wir fühlen mit unseren israelischen, unseren jüdischen Mitbürger*innen unmittelbar mit, die erschüttert sind, die durch den Überfall der Hamas retraumatisiert sind, weil Erinnerungen wach werden an Progrome, Verfolgungen über die Jahrhunderte und an die Shoah. Unsere Nachbarn haben Angst, ob ihre Kinder noch sicher zu ihrer jüdischen Schule kommen, ob sie noch Kippa tragen oder in der Öffentlichkeit Hebräisch reden können. Die Schmähungen und Schändungen, sie passieren hier in unserer Mitte, und dagegen arbeiten wir mit aller Kraft.
Wir fühlen mit all den Menschen, die familiäre, verwandtschaftliche und freundschaftliche Verbindung nach Gaza haben. Ich weiß, dass viele Menschen hier im Bezirk nicht nur täglich schreckliche Bilder sehen vom Leid des Kriegs, von der Gewalt, dem Tod, dem Hunger, der Vertreibung, sondern dass viele ihre Schwestern und Brüder, Cousinen oder Onkel verloren haben. Das ist furchtbar, und all diesen Menschen möchte ich mein Beileid aussprechen.

Meine Damen und Herren, liebe Bezirksverordnete,

wir haben es mit schwierigen Themen zu tun und die Argumentationslinien sind vielfach verworren. Ich möchte mich an ein paar klaren Aussagen versuchen, von denen ich hoffe, dass wir uns alle dahinter versammeln können. Dazu gehört:

  • Antisemitismus muss zu jeder Zeit klar benannt werden. Dazu gehört zum Beispiel herauszuarbeiten, dass natürlich nicht jede Kritik an der israelischen Regierungspolitik antisemitisch motiviert ist – und gleichzeitig zu verstehen, dass für die Bedeutung von Kommunikation der Kontext, in dem etwas geäußert wird, mit zu bedenken ist. Und dass es doch etwas ganz anderes ist, wenn man nach dem 7. Oktober auf die Benennung des Hamas-Überfalls als Terrorakt und Ursache dieses Krieges verweist mit dem Hinweis zu antworten, dass Israel ja aber auch viel falsch gemacht hätte. An diesem Ja, aber zu diesen schrecklichen Taten, so sagte mir sehr eindrücklich Frau Iman Reimann, habe sie nun wirklich verstanden, was Antisemitismus ist.
  • Die Betonung des Selbstverteidigungsrechts Israels unter Wahrung des Internationalen Völkerrechts richtet sich nicht gegen alle Menschen aus Palästina oder gar gegen alle Muslime.
  • Gleichzeitig sollten wir aus meiner Sicht ebenso klar benennen, dass diese ganzen Auseinandersetzungen den antimuslimischen Rassismus befeuern. Nicht umsonst haben in unserem Bezirk eben auch genug Erzählungen von Frauen, die wegen ihres Kopftuchs beleidigt werden, von Muslimen, die Angst haben, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und Moscheen, die beschmiert und geschändet wurden. Auch gegen diesen Rassismus sollten wir gemeinsam arbeiten, und wir sollten vor allem allen Äußerungen entgegen treten, als wäre der Antisemitismus, der sein hässliches Gesicht in allen Gesellschaftsschichten zeigt, nur eine Angelegenheit der neu Zugewanderten.

Wiederum gilt es aus meiner Sicht auseinander zu halten, dass *Solidarität mit Palästina etwas anderes ist als Solidarität mit der Hamas

  • Und in dem Kontext finde ich besonders wichtig zu sagen: Nicht jedes Palästinensertuch, jede Palästina-Flagge sollte gleich Grund zu Panik oder für Verbote sein. Ich glaube, mir müssen mehr Streit, mehr strittige Argumente und Dialoge aushalten lernen.

*Und Wir brauchen mehr Räume, um wirklich miteinander wieder ins Gespräch zu kommen. Wir brauchen Orte und Gespräche, wo Gefühle, wo Leid geäußert werden darf. Wo auch Frust und politische Forderungen geäußert werden können. Ich glaube, das ist notwendig, um den starken Emotionen Raum zu geben, vor allem aber, weil die Kraft der Begegnung das beste Mittel ist, das wir haben, um ein immer besseres Zusammenleben zu schaffen.

  • Unsere Demokratie… muss unterschiedliche Perspektiven aushalten. Es ist eher der Normalfall als die Ausnahme, dass Menschen in ihrer Weltanschauung, ihrer Religion oder ihrer Sicht auf politische Entscheidungen nicht einig sind. Dies gilt umso mehr, wenn, wie in diesem Konflikt, Auswirkungen an Leib und Leben zu spüren sind. Diese Verschiedenheit kann ihren Ausdruck in ganz unterschiedlicher Form finden, auch Protest gehört dazu. Natürlich muss all dies auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und innerhalb definierter Grenzen.
  • Deshalb rufe ich alle Mitbürgerinnen und Mitbürger dazu auf, weiter daran mitzuwirken, dass wir gewaltfrei miteinander umgehen und friedlich miteinander streiten, dass wir uns für das Wohl unserer Mitmenschen auch dann verantwortlich fühlen, wenn wir nicht mit ihnen übereinstimmen oder in ihnen politische Gegner sehen. Das Rathaus und unsere Erinnerungsorte sind Orte aller hier lebenden Bürgerinnen und Bürger. Sie zu beschädigen und anzugreifen ist ein Angriff auf uns alle.
  • Als Bürgermeisterin setze ich mich weiter dafür ein, Formate und Räume zu finden und zu fördern, in denen persönliche Trauer, Dissens, Betroffenheit, ja, auch Wut und Sprachlosigkeit Platz haben – und zwar unabhängig von einer politischen Einordnung.

Und abschließend noch einmal:
Unser Weg in unserem Bezirk ist, dass wir gewaltfrei, friedlich, gleichberechtigt, wertschätzend und respektvoll miteinander umgehen, uns begegnen, gemeinsam zusammenleben wollen. Als Bürgermeisterin möchte ich mich bei Ihnen als BVV noch einmal herzlich bedanken, weil ich weiß, dass wir unabhängig von unseren sonstigen Meinungsverschiedenheiten – gemeinsam dafür arbeiten. Denn wir alle wissen: Diese Art von Umgang ist die Basis einer lebendigen Demokratie, und unsere Demokratie ist etwas Wunderbares, es lohnt sich, für sie zu kämpfen.

Vielen Dank!