Verfolgte der SED-Diktatur von Altersarmut bedroht

Pressemitteilung vom 29.08.2022

Wissenschaftliche Studie belegt Zusammenhang von politischer Verfolgung und finanzieller Situation

Berlinerinnen und Berliner, die in der SED-Diktatur politisch verfolgt wurden, sind besonders stark von Altersarmut bedroht. Das lässt sich aus der ersten Teilstudie zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin zwischen 1990 und 2020 ableiten, die das BIS Berliner Institut für Sozialforschung GmbH erstellt hat. Die unabhängige, wissenschaftliche Untersuchung wurde vom Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (BAB) in Auftrag gegeben.

Verfolgte der SED-Diktatur haben im Mittel ein deutlich geringeres Einkommen als der Durchschnitt der Bevölkerung Berlins. Das Durchschnittseinkommen der Befragten mit Rehabilitierungsantrag betrug 1.418 Euro (ohne die Leistungen aus den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen). Das Durchschnittseinkommen der Gesamtbevölkerung Berlins für das Jahr 2019 betrug 1.621 Euro1. In einer Online-Befragung im Rahmen der Studie gaben knapp zwei Drittel (64 Prozent) der Befragten an, dass Ausgleichs-, Entschädigungs- und Unterstützungsleistungen für sie eine notwendige finanzielle Hilfe darstellen.

Für Tom Sello, Berliner Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (BAB), liefert die Studie wertvolle Erkenntnisse für politische Weichenstellungen der kommenden Jahre in Land und Bund: „Wir brauchen Verbesserungen bei den Hilferegelungen für Verfolgte der SED-Diktatur. Im Sinne der zumeist älteren Betroffenen sind schnelle Lösungen gefragt. Um besondere soziale Härten durch die steigende Inflation und den Anstieg der Lebenshaltungskosten abzuwenden, ist es notwendig, die sogenannte Opferrente deutlich zu erhöhen und fortlaufend zu dynamisieren. Da dringender Handlungsbedarf besteht, sind die Erkenntnisse bereits in Vorschläge zur Novellierung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze eingeflossen, die gemeinsam durch alle Landesbeauftragten an die jeweiligen Landesregierungen und den Bund herangetragen wurden.“

Dr. Eva Schulze, wissenschaftliche Leiterin des BIS Berliner Institut für Sozialforschung GmbH und Projektleiterin der Studie, sieht die staatliche Unterstützung und Beratung von Verfolgten der SED-Diktatur im Land Berlin als langfristige Aufgaben an: „Unrecht verjährt nicht, das zeigt die Studie sehr deutlich. Die Langzeitfolgen der politischen Verfolgung sind bei den Betroffenenunübersehbar. Sie zeigen sich noch heute in gesundheitlicher, oft auch psychischer Belastung und in einer prekären finanziellen Situation. Deshalb wird der Bedarf nach Beratung und Rehabilitierung auch in Zukunft vorhanden sein.“

Die Studie nimmt auch die Beratungslandschaft im Land Berlin für Verfolgte der SED-Diktatur in den Blick. Untersucht wurde, welche staatlichen und zivilgesellschaftlichen Beratungsangebote dieser Personenkreis seit 1990 in Anspruch nehmen konnte. Analysiert hat das Forschungsteam auch die Prozesse der Antragstellung zur Rehabilitierung nach den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen und der Bewilligung von Leistungen. Dabei stellt das BIS fest, dass die Verfahrensdauer bei Rehabilitierungen mit sechs bis 18 Monaten zu lang ist. Antragsformulare wie auch Rehabilitierungsbescheide sollten verständlicher formuliert werden.

Zudem sind die Antragsverfahren für die ehemals politisch Verfolgten oft belastend. Mario Röllig, politischer Häftling in der DDR: „Im Zuge des Rehabilitierungsprozesses setzen sich die Verfolgten der SED-Diktatur intensiv mit ihrem erlebten Unrecht auseinander. Das kann zu einer Retraumatisierung führen. Dass man in einem DDR-Jugendwerkhof tagelang in einen lichtlosen Kerker gesperrt werden konnte oder im Stasi-Gefängnis gefoltert wurde, ist teilweise schwer nachzuweisen, hat aber Auswirkungen auf die körperliche und psychische Verfassung heute. Ich würde mir deshalb wünschen, dass zum Beispiel gesundheitliche Folgeschäden aufgrund von politischer Verfolgung in der SED-Diktatur unkompliziert anerkannt würden.“

Die für Berlin erstmalig durchgeführte Studie hat den Anspruch, den Rehabilitierungsprozess im Land Berlin möglichst vollständig abzubilden und zu bewerten. Sie erweitert und ergänzt damit den bisherigen Forschungsstand, indem sie unterschiedliche Verfolgtengruppen in den Blick nimmt, Einblicke in die Prozessabläufe gibt und das Zusammenspiel der unterschiedlichen Prozesse darstellt.

Den Anstoß zu der Studie hatte das Abgeordnetenhaus von Berlin gegeben. 2017 hatte es den Senat aufgefordert, Aufarbeitung und Folgen der SED-Diktatur zu evaluieren. Der Senat beauftragte im Oktober 2018 den Berliner Aufarbeitungsbeauftragten mit der Erstellung des Sachstandsberichts zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur im Land Berlin und daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen. Mit der vorliegenden Untersuchung liegt nun die erste Teilstudie vor.

Für die Untersuchung hat das BIS insgesamt 20 leitfadengestützte Interviews mit Fachleuten durchgeführt, außerdem qualitative Interviews mit 21 Verfolgten der SED-Diktatur und deren Kindern. 487 Personen nahmen an einer Online-Befragung teil. Der Berliner Aufarbeitungsbeauftragte Tom Sello: „Bei der Erstellung der Studie haben zahlreiche Beschäftigte des LAGeSo, an Berliner Gerichten und in Berliner Beratungsstellen entscheidend mitgewirkt. Ich bedanke mich herzlich für deren großes Engagement, das die Studie erst ermöglicht hat. Mein besonderer Dank gilt den ehemals in der SBZ/DDR politisch Verfolgten oder staatlicher Willkür ausgesetzten Personen, die über ihre Situation und ihre Erfahrungen bereitwillig Auskunft gegeben haben. Ohne ihre Bereitschaft, über sehr persönliche Erlebnisse zu sprechen, würde der Studie die bedeutendste Perspektive fehlen.“