Lesen und Schreiben lernen als Erwachsene

Ute ist 60 Jahre alt. Bis vor neun Jahren konnte sie nicht richtig lesen und schreiben. Bei einem Gespräch im Jobcenter fasste die damals 51-Jährige Mut und erzählte der Betreuerin von ihren Lese- und Schreibschwierigkeiten. Ute erhielt eine Empfehlung zu einem Grundbildungskurs – für sie war das der Start in ein neues Leben.

Seit 2015 ist Ute Lernbotschafterin beim ALFA-Mobil. Sie begleitet die Mitarbeiter*innen des Projekts bei Aktionen und Schulungen in ganz Deutschland und erzählt von ihrem Weg, macht Betroffenen Mut und gibt Mitwissenden Hinweise, wie sie helfen können. Heute erzählt sie hier ihre Geschichte.

Porträt Lernbotschafterin Ute

Mein Leben war nicht einfach. Wir waren neun Kinder, schwierige Familienverhältnisse. Als Kind wusste ich nicht, wie ich mit den Erfahrungen umgehen konnte. Damals hätte ich dringend Hilfe gebraucht. Mit 15 Jahren bin ich ausgezogen, mit 19 Mama geworden. Damals hat es mir viele Probleme gemacht, nicht lesen und schreiben zu können, nicht zu verstehen, was auf der Verpackung der Babynahrung für meine Tochter stand. Offenbart habe ich mich nur, wenn sie krank war oder irgendwas in der Schule hatte. Dort musste ich es dann erzählen. Unterstützen konnte ich sie in der Schule nicht, aber ich bin zu jedem Elternabend gegangen, auch wenn ich im Grunde genommen nichts verstanden habe.

Wie war es denn auf der Arbeit für dich?

Ich habe 17 Jahre in einer Küche gearbeitet. Mündlich klappte alles gut. Ich habe auch an der Kasse einer Kantine gearbeitet, rechnen konnte ich ja. Auf meiner letzten Arbeitsstelle hat man mich vier Jahre wegen der Probleme beim Lesen und Schreiben gemobbt. Eines Tages stand ich dort vor der Tür und konnte einfach nicht mehr reingehen. Ich habe mich in die U-Bahn gesetzt, bin nach Hause gefahren und danach zu meiner Ärztin. Die hat mich sehr unterstützt und mir geholfen, einen Therapieplatz zu finden. Der Psychologe dort war toll. In einer Sitzung hat er ein Männchen mit vielen Steinen über dem Kopfgemalt – genauso habe ich mich gefühlt. Und wir haben jeden Stein abgearbeitet.

12.1%

der Deutsch sprechenden erwachsenen Bevölkerung zwischen 18-64 Jahren
können nur sehr schlecht lesen und schreiben.
(Leo-Studie 2018)

Und dann, wie ging es danach weiter?

Als ich nach der Zeit in der Tagesklinik zum Jobcenter ging, habe ich der Betreuerin gesagt, was mit mir los ist. Sie hat mir die Adresse vom Verein Lesen und Schreiben e.V. gegeben. Das war mein erster Schritt. Ich wollte nicht mehr hintenanstehen. Da stand ich lange genug. Der Gang zum Verein war schwer, aber als die Lehrerin sagte: „Du bist doch die Ute. Komm rein. Willst du einen Kaffee?“, wusste ich, dass ich nicht mehr allein mit meinem Problem bin.
Auch, wenn der Kurs anstrengend war, ich habe weitergemacht. Die zweijährige Maßnahme wollte ich auf jeden Fall zu Ende bringen. Das war mein Traum.
Als meine Lehrerin uns die vhs gezeigt hat, habe ich mir gesagt: „Da gehst du allein hin und lernst weiter Lesen und Schreiben!“ Der Weg dahin war tränenreich, aber es hat sich gelohnt. Das war das Beste, was mir im Leben passieren konnte.

Bleistift und Radiergummi auf Notizblock

Erzähl uns bitte von deinem Kurs an der VHS. Wie hast du den erlebt?

Ich habe mich nicht mehr so allein gefühlt. Endlich konnte ich so sein, wie ich wollte. Klar, bin ich oft nach Hause gegangen und habe etwas nicht verstanden. Dann habe ich mich an den Rechner gesetzt und gegoogelt. Das hat viel Kraft gekostet. Ich habe zwei Jahre bei Lesen und Schreiben e.V. und vier Jahre im vhs-Kurs gelernt. Das ist lange, aber ich brauchte die Zeit.

Spannend, dass du sagst, du googelst das selbst.

Ein Computer ist ja ein Werkzeug, für das man lesen und schreiben können muss. Das haben wir im Computerunterricht der vhs gelernt. Je selbstständiger ich dadurch wurde, desto mehr wollte ich auch etwas zurückgeben. Deswegen hat es mir so gut beim ALFA-Mobil gefallen. Ich möchte, dass nie wieder ein Kind so durchrasselt wie ich. Mein großer Wunsch ist es, Menschen dazu zu bewegen, in die Kurse zu gehen. Man kann auch im Alter lernen und jeder sollte den Mut dazu aufbringen.

Es öffnen sich immer mehr Türen in meinem Leben.
Ute

Meine Welt ist bunter und leichter geworden. Ich kann mich jetzt einfach in den Zug setzen und jede Adresse finden. Es öffnen sich immer mehr Türen in meinem Leben. Und ich kann offen mit meinen Problemen umgehen. Besonders beim ALFA-Mobil. Viele Leute sagen am Stand: „Bei uns können alle lesen.“ Dann antworte ich: „Naja, nicht alle können lesen.“ und erzähle ihnen meine Geschichte.

Hast du einen Lerntipp für andere?

Besser klappt es, wenn der Kopf frei ist. Wenn ihr den Kopf voll habt – legt die Aufgaben zur Seite und macht das ein paar Stunden später. Macht euch nicht verrückt. Entweder geht es schneller oder langsamer.