Lernen durch Begegnungen

Gastbeitrag von Silvena Garelova

Die Unterstützung von Professionalisierung im Bereich der Erwachsenen- und Weiterbildung bildet den Fokus ihrer Arbeit. Sie hat Erwachsenenbildung und Psychologie studiert und ist seit 2007 als Weiterbildnerin sowie seit 2015 als systemische Beraterin tätig. Unter anderem bietet sie Fortbildungen für Kursleitende zum Thema Erwachsenenlernen an.

Porträt Silvena Garelova

Um lebenslang lernfähig zu bleiben, brauchen wir die Begegnung miteinander. Wir leben in einer Zeit, in der wir als Gesellschaften schneller als je zuvor umlernen müssen, um den globalen Herausforderungen unserer Zeit adäquat begegnen zu können: den Krisen der Migrationswellen aus den letzten Jahren, der COVID-Pandemie und der Post-COVID-Welt, dem Ukraine-Krieg, dem Klimawandel. Und doch sind unsere gesellschaftspolitischen Meinungen heute so stark polarisiert, dass eine Begegnung, geschweige denn Verständigung, oft nicht gelingt.

Unser Zeitgeist erfordert von uns aufs Neue, dass wir an unserer kollektiven Lernfähigkeit arbeiten.

Längst ist durch empirische Studien belegt, dass wir bis ins hohe Alter lernfähig bleiben. Doch als Erwachsene merken wir früher oder später, dass wir nicht mehr so offen für neue Ideen sind wie früher. Was ist der Grund dafür und wie können wir dies überwinden, um lebenslang unsere Horizonte zu erweitern und unsere Persönlichkeit zu entfalten – und dadurch auch auf einer kollektiven Ebene einsichtsvoller zu werden?

Unsere Fähigkeit, Neues dazu zu lernen, bleibt bis ins hohe Alter erhalten. Was sich jedoch verändert, ist unsere Fähigkeit, Ideen zuzulassen, die im Widerspruch zu dem stehen, was wir bisher geglaubt haben.
Die sogenannten Deutungsschemata fungieren wie eine Art Sieb, durch das wir alles filtern, was wir an Input aus der Umwelt bekommen. Fügt sich der Inhalt reibungslos zu dem, was wir bis dahin als wahr geglaubt haben, nehmen wir ihn an. Steht er in Widerspruch zu unseren bisherigen Überzeugungen, lehnen wir ihn (unbewusst) ab. Dadurch gewinnen wir Stabilität, verlieren aber die Chance, veraltete Ideen abzulegen und uns zu erneuern, zu wachsen und im wahrsten Sinne des Wortes vom Leben zu lernen.

„Als Erwachsene (brauchen wir) Ereignisse von außen, um unsere Überzeugungen zu hinterfragen.“

Persönlichkeitsentwicklung ist immer daran gekoppelt, dass wir uns eingestehen: Es gab gute Gründe, warum ich bisher so gedacht habe. Aber mein heutiges Leben verlangt eine andere Einstellung und diese darf ich annehmen. Das ist das sogenannte Umlernen oder Deutungslernen – der Lernmodus des Erwachsenenlernens.

Als Erwachsene sind wir in gewisser Weise selbstreferentiell – wir brauchen Ereignisse von außen, um unsere Überzeugungen zu hinterfragen und neu auszurichten. Durch Lebenskrisen passiert das auf natürliche Weise. Doch es gibt noch eine andere große Kraft, die in der Lage ist, uns für transformatives Lernen zu begeistern – unsere eigene Beziehungsfähigkeit.

Lerngruppe im Kursraum

Wenn wir in einem vhs-Kurs in einer Gruppe mit anderen Menschen gemeinsam lernen, entstehen dabei Beziehungen. Wir kommen aus unterschiedlichen Milieus, haben unterschiedliche Biografien und gesellschaftspolitische Meinungen, aber indem wir eine Beziehung zueinander aufbauen, wächst unser Interesse aneinander. Und plötzlich fragen wir uns: Warum denkt der*die andere anders als ich? Was hat er*sie erlebt, um zu diesen Schlussfolgerungen zu kommen?
Wenn unser Herz in den Lernprozess involviert wird, ist auf einmal die für das Lernen wichtigste Emotion geweckt – unsere Neugierde. Und so können wir in der Begegnung mit den anderen (die wir sonst von uns aus kaum kennenlernen würden) unsere Horizonte erweitern und uns neu erfinden.

Diese Begegnungen sind nicht nur für die eigene Persönlichkeitsentwicklung essenziell, sondern auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer Demokratie von Bedeutung: Wir können Verständnis für die jeweils „anderen“ nur dann aufbringen, wenn wir eine Chance haben, einander zu begegnen.