Interview mit Simon Hensch

Mann legt einer Frau ein Korsett an

Im Rahmen unserer Interviewreihe zum Förderprogramm DigiRess gibt uns Simon Hensch, Entwicklungsingenieur bei CCtec Deutsches Korsettzentrum GmbH & Co. KG, Einblicke in die Etablierung einer digitalen Prozesskette bei der Herstellung von Skoliosekorsetten unter Einsatz von rezyklierten Polymeren.

Portraitfoto von Simon Hensch

Welche Polymere werden in der Orthopädietechnik verwendet und was macht deren Recycling so schwierig?

Für das manuelle Thermoformen werden in der Orthopädietechnik in erster Linie HDPE (High-density polyethylene) und PP (Polypropylen) eingesetzt. CCtec stellt Skoliosekorsette ausschließlich aus HDPE her, daher konzentrieren wir uns auf diesen Werkstoff. Beide Polymere sind grundsätzlich sehr gut recycelbar, die Herausforderung liegt in der Logistik. Die typischerweise größten Probleme liegen in der Sicherstellung der Sortenreinheit und Sauberkeit – wenn die Abfälle erst vermischt und verunreinigt sind, wird es extrem aufwändig, dies wieder rückgängig zu machen. Auch Lagerung und Transport stellen eine Herausforderung dar, schließlich fallen bei CCtec für einen Handwerksbetrieb verhältnismäßig große Mengen HDPE-Abfall an, da ist es schon deutlich einfacher, diesen einfach zu entsorgen.
Recycling hat immer mit den genannten Herausforderungen zu kämpfen und diese sorgen dafür, das Polymere immer noch zu einem großen Teil nur energetisch recycelt werden. In unserem Projekt setzten wir jedoch direkt an der Quelle an, um dem zu begegnen: wir haben Arbeitsabläufe und Handhabung der Abfälle so angepasst, dass die Sauberkeit und Sortenreinheit der Abfälle gar nicht erst gefährdet wird – das anschließende Recycling, d.h. bei uns die Herstellung von Filament für die additive Fertigung per Fused Layer Modeling aus den Produktionsabfällen, wird dann relativ einfach

Mit Ihrem Projekt ReBrace möchten Sie Werkstoffkreisläufe lokal schließen. Sind die Lösungen aus Ihrem Projekt skalierbar und auf andere Anwendungen (oder gar Branchen) übertragbar?

In der optimalen Skalierung des Prozesses liegt genau der Knackpunkt und die größte Herausforderung. Die oben genannten logistischen Probleme werden gravierender, je größer die Werkstoffkreisläufe gefasst werden. Dem gegenüber steht am unteren Ende der Skala der Anlagen- und Personalaufwand. Mit unserem Ansatz, uns auf einen Betrieb und ein Polymer zu fokussieren, beseitigen wir zwar einen Großteil der typischen Probleme, aber die Lösung muss natürlich auch wirtschaftlich umsetzbar sein. Mit den vergleichsweisen kleinen Anlagen zur Zerkleinerung der Abfälle zu Mahlgut und dem anschließenden Einschmelzen und Extrudieren von Filament, welche vom Durchsatz her zwischen reinen Labor- und vollwertigen Industrieanlagen angesiedelt werden können, sind prinzipiell passende Lösungen verfügbar. Ob und wie diese mit vertretbarem Personalaufwand betrieben werden können und wie der gesamte Prozess darum gestaltet werden muss, um auch wirtschaftlich nachhaltig zu sein, ist Gegenstand unserer Forschung. Ein zentrales Ergebnis aus dieser Forschung wird sein, in welchen Größenordnungen unser Ansatz skaliert werden kann bzw. muss. Die Übertragbarkeit auf andere Anwendungen und Branchen, bei denen Polymere verarbeitet werden, ist auf jeden Fall gegeben. Tatsächlich hat unsere Recherche und Vernetzung mit Firmen aus der Polymerverarbeitung ergeben, dass die von uns angestrebte Art des in-House Recyclings häufig als die vielversprechendste Möglichkeit der stofflichen Verwertung angesehen wird und in Firmen, wo das entsprechende Knowhow und die Anlagen ohnehin vorhanden sind, häufig erfolgreich praktiziert wird. In der Orthopädietechnik und vergleichbar handwerklich geprägten Branchen stellt dies jedoch ein absolutes Novum dar.

In Ihrem Projekt haben Sie eine digitale Prozesskette etabliert. Wie genau sieht diese aus und welche Möglichkeiten in Bezug auf Ressourcenschonung und Kreislaufwirtschaft erhalten Sie dadurch?

Die Entwicklung unseres lokal geschlossenen Werkstoffkreislaufs wird erst mithilfe der Digitalisierung des gesamten Produktlebenszyklus überhaupt möglich. Die Produkte werden anhand ihres digitalen Abbildes bis zu ihrer Wiederverwertung verfolgt, so dass Produkt- und Werkstoffeigenschaften im Prozess der Wiederverwertung und beim Einsatz der so hergestellten Formstoffe (Filament) berücksichtigt werden können. Auf diese Weise wird im Projekt eine Datengrundlage geschaffen, welche neben der Wiederverwertung auch die zielgerichtete Optimierung von Produkt- und Versorgungsprozess ermöglicht. Anders kann die Einhaltung der hohen Anforderungen, welche an Medizinprodukte gestellt werden, nicht sicher gewährleistet werden.
Bei der Digitalisierung der OT-Branche sind allerdings teilweise erhebliche Widerstände zu überwinden. In großen Bereichen der Branche, insbesondere bei kleineren Betrieben, dominieren analoge und manuelle Prozesse der Datenerfassung, der Modellierung und der Fertigung (z.B. handschriftliche Erfassung von Patientendaten, Arbeiten mit Gipsabdrücken, manuelles Tiefziehen durch Erwärmung und Formung der Kunststoffplatte). Existierende digitale Lösungen sind häufig nicht untereinander kompatibel oder zwingen die Betriebe in ein Abhängigkeitsverhältnis, wenn z.B. die Lösungen der Branchengrößen eingesetzt werden müssen oder die additive Fertigung auf spezialisierte Dienstleister ausgelagert werden muss. Die digitale Prozesskette wird im Rahmen des Projekts über die Fertigung hinaus auf den gesamten Lebenszyklus des Produktes bis zum Recycling erweitert, was in dieser Form bisher durch keine Branchensoftware abgebildet wird. Ebenso wird das Prinzip des Life Cycle Assessment bisher nicht umgesetzt, wozu im Projekt daher erstmalig eine digitale Infrastruktur aufgebaut wird. Die geschlossenen Werkstoffkreisläufe werden durch digitale Repräsentationen der Produkte und der eingesetzten Polymere dargestellt. Eine Herausforderung dabei ist, die Software reibungslos in die bestehenden Arbeitsabläufe der OT zu integrieren und den zusätzlichen Aufwand, z.B. für die Identifikation und Quantifizierung der Emittenten gering zu halten. Ein Ansatz ist hierbei auch die Einbindung von öffentlichen Datenbanken, um eine automatisierte Bilanzierung zu ermöglichen. Weitere Kernprinzipien bestehen im kompromisslos modularen Aufbau der Software sowie der Implementierung möglichst vieler Schnittstellen zu den bereits am Markt erhältlichen Hard- und Softwarelösungen, um die vom Projektpartner MindWerk entwickelte Software für jeden Betrieb der OT attraktiv zu gestalten.

Ihr DigiRess-Projekt läuft Ende 2024 aus. Wie werden die Ergebnisse darüber hinaus genutzt und gibt es Ansätze für Folgeprojekte?

Bei CCtec werden die Projektergebnisse bereits jetzt schrittweise in die Produktion integriert. Die Verwertung der Projektergebnisse sieht darüber hinaus explizit vor, dass die Firma MindWerk die entwickelten Hard- und Softwarelösungen an weitere Betriebe der OT vertreibt und sie mit diesen nutzerzentriert weiterentwickelt. Dabei ist die Software in ihrer modularen Form neben der Korsettfertigung auch auf andere Produkte der OT (z.B. Handschienen) anwendbar. Darüber hinaus ermöglichen Erfahrung und Softwaremodule im Bereich des Life Cycle Assessment das Consulting und das Durchführen von Forschungsprojekten von und mit Anwendern aus anderen Branchen. In Bereichen, in denen die additive Fertigung per FDM (Fused Deposition Modeling) bereits Einzug erhalten hat, ist der Einsatz der entwickelten Lösungen für die Rezyklierung problemlos möglich.