Sandra Scheeres, Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, und das Wissenschaftsteam der Universität Hildesheim – Prof. Dr. Meike Baader, Prof. Dr. Wolfgang Schröer, Dr. Julia Schröder sowie Dr. Carolin Oppermann – haben heute den Zwischenbericht der Universität Hildesheim zum Wirken von Helmut Kentler in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe vorgestellt. Mit dem Forschungsprojekt fördert die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie die weitere wissenschaftliche Aufarbeitung der Organisationsstrukturen der West-Berliner Pflegekinderhilfe, die zur Unterbringung von Kindern bei pädophilen Pflegevätern führten.
Hintergrund der Aufarbeitung sind die von Helmut Kentler selbst beschriebenen Aktivitäten ab Ende der 1960er Jahre zur Einrichtung von Pflegestellen bei Personen, die wegen sexueller Kontakte mit Minderjährigen vorbestraft waren. Von amtlicher Seite blieben diese Vorgänge entweder unbemerkt, wurden ignoriert oder womöglich sogar beschönigt und gefördert. Im Zuge einer ersten Studie zu diesem Thema haben sich Betroffene bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie gemeldet, die in den 1990er Jahren in einer Pflegestelle untergebracht wurden. Kentler, der 2008 verstarb, war in den 1960er und 1970er Jahren Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin und anschließend Professor für Sozialpädagogik an der TU Hannover.
Senatorin Sandra Scheeres: „Der Bericht zeigt, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses ungeheuerlichen und erschütternden Geschehens umfassend und nach hohen fachlichen Standards vorangeht. Wir sehen auch, dass der Zeitraum, den es zu betrachten gilt, länger ist als zunächst angenommen. Der Bericht rückt die Rechte der Betroffenen in den Vordergrund und zeigt eine Diskrepanz von gesetzlichen Vorgaben und der Praxis in der damaligen Pflegekinderhilfe. Wir werden unangenehmen Fragen nicht ausweichen und mit den Hinweisen, die das Forschungsprojekt erarbeitet, auch unsere heutigen Arbeitsstrukturen in der Pflegekinderhilfe überprüfen. Das Wohl von Kindern und Jugendlichen in Pflegestellen muss jederzeit gewährleistet sein. Ich danke insbesondere den Betroffenen für ihre Bereitschaft, sich im Interview mit den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen den seelischen Belastungen erneut auszusetzen.“
Das Forschungsprojekt ist im März 2019 gestartet und läuft bis Ende April 2020. Grundlage dafür ist ein wissenschaftliches Aufarbeitungskonzept, das von dem Projektteam der Institute für Sozial- und Organisationspädagogik sowie Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim in 2018 erarbeitet wurde. Seit März 2019 hat das Projektteam Interviews mit Betroffenen und Zeitzeugen geführt. Datenschutzrechtliche Fragen konnten geklärt werden, so dass inzwischen mit der Erschließung von Akten begonnen werden konnte. Dokumente und Schriften aus rund vier Jahrzehnten Pflegekinderhilfe in Berlin werden gegenwärtig systematisiert und ausgewertet.
Zentrale Aussagen des Zwischenberichts sind:- Das Recht der Betroffenen auf Aufarbeitung ist grundlegend in den Vordergrund zu rücken. Im Interview wurde von den Betroffenen an vielen Stellen von intransparenten und nicht nachvollziehbaren Verfahren berichtet. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Pflegestellen existierende Vorgaben – u.a. die im neu gestalteten SGB VIII vorgesehenen Partizipationsrechte und Verfahren – seien nicht umgesetzt worden. Der Umstand, dass die interviewten Betroffenen erst in den 1990er Jahren durch die Pflegekinderhilfe betreut wurden, ist für die weitere Aufarbeitung von zentraler Bedeutung.
- Es sind entsprechend die rechtlichen und fachlichen Rahmungen dieser Zeit als Kontext der Rekonstruktion zugrunde zu legen. Es handelt sich nicht nur um eine Konstellation in den 1970er Jahren. Notwendig ist die Rekonstruktion von vier Jahrzehnten Pflegekinderhilfe.
- Es zeigte sich, dass es seit den 1960er Jahren zwar die Bestrebung gab, einheitliche Verfahren zu entwickeln und Standards zu setzen, die auch den Pflegekinderschutz betreffen. Zugleich lässt sich jedoch anhand der Zeitzeugeninterviews, der Betroffeneninterviews und der Archivrecherchen erkennen, dass es sich bei der West-Berliner Pflegekinderhilfe um ein uneinheitliches System handelte.
- Die bisherigen Untersuchungen machen deutlich, dass das Verhältnis des Senats zu den Bezirken – und umgekehrt – in Bezug auf die Pflegekinderhilfe viele Fragen aufwirft. Es bleibt bisher offen, in welchen Kontexten der Senat bis in die Zulassung von Pflegestellen hinein in den Bezirken initiativ war. Es gilt zu prüfen, welche Zuständigkeit und Rolle der Senat in der Pflegekinderhilfe gespielt hat. Zudem gilt es, Aufschlüsse über den Umgang des Senats mit dem Gutachten, in dem Kentler das sog. „Experiment“ geschildert hat, zu gewinnen. Hier gilt es insbesondere zu untersuchen, wie sich das Verhältnis von Senat und Bezirksämtern, vor allem in Hinblick auf Verantwortlichkeiten, entwickelt hat.
- Es gilt weiterhin zu klären, inwiefern Kentler als Abteilungsleiter des Pädagogischen Zentrums und als Professor in Hannover auf einzelne Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe Einfluss nehmen konnte.
- Schließlich gilt es anhand weiterer Jugendhilfe-Fallakten aus den Bezirken vergleichend zu prüfen, ob es sich bei den Verfahren, die die Betroffenen erlebt haben, um „Ausnahmen“ handelt oder ob es Hinweise für Vergleichbares auch in anderen Vorgängen gibt.
Der Zwischenbericht ist online einsehbar: www.uni-hildesheim.de/jugendhilfe-Berlin/
Für die weitere wissenschaftliche Aufarbeitung sind Aussagen und die Unterstützung von Betroffenen von großer Bedeutung. Personen können sich in einem ersten Schritt schriftlich an das Forschungsteam der Universität Hildesheim wenden. Kontakt: aufarbeitung@uni-hildesheim.de
Schriftliche Kontaktaufnahmen können sowohl in anonymisierter Form als auch direkt oder über eine Person des Vertrauens erfolgen und werden in jedem Fall beantwortet. Alle Angaben werden vertraulich behandelt. Auf Wunsch kann in einem zweiten Schritt ein persönliches Gespräch mit dem Forschungsteam vereinbart werden.