Gespräch mit Uta Wehde

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Uta Wehde ist Gründungsmitglied der Nachbarschaftsinitiative Dragopolis.
Mit einem spielerischen Ansatz versucht Dragopolis seit 2015 die Menschen für das Gelände und die Möglichkeiten, die es bietet, zu begeistern. Oft steht dabei auch seine bewegte Geschichte im Fokus. Das zeigte sich etwa beim Symposium zur Geschichte des Dragonerareals im April 2018, an dessen Organisation die Initiative als Teil der Rathausblock-AG „Geschichte des Ortes“ mitwirkte. Mit zahlreichen Aktionen wie Schnitzeljagden, Spaziergängen oder dem Spiel „Dragopoly – Wir spielen mit“ hat die Initiative dazu beigetragen, das Bewusstsein für das Dragonerareal in der anliegenden Nachbarschaft und darüber hinaus zu erhöhen.

Der kämpferische Appell fällt sofort ins Auge: „Revolution!“ steht auf der kleinen Lampe, die Uta Wehdes Esstisch in der Wohnung unweit des Rathauses Kreuzberg beleuchtet. Sie steht ein wenig im Kontrast zur restlichen Dekoration: an den Wänden Drucke von Picasso, in der Ecke ein Klavier. Doch das „Revolution!“, es taucht das Wohnzimmer von Uta Wehde in ein warmes, gemütliches Licht.
Als Revolution könnte man auch das bezeichnen, was in Kreuzberg in Bezug auf das Dragonerareal zuletzt erreicht worden ist: Im November konnte der Vertrag zur Übertragung des Grundstücks von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben an die landeseigene BIM besiegelt werden. Der Verkauf an einen privaten Investor wurde damit endgültig abgewendet. Wenn Bundestag und Bundesrat ihre Zustimmung gegeben haben, ist das Dragonerareal ist wieder in der Hand des Landes Berlin.
Doch Uta Wehde treibt noch eine ganz andere Revolution um, als die, die derzeit im Rathaus Kreuzberg vonstatten geht. Es ist die „unvollendete“ Novemberrevolution von 1918, die ihr besonderes Interesse geweckt hat. Eine Revolution, deren Ende vor 100 Jahren 1919 auf dem Dragonerareal ihren Anfang nahm.

Uta Wehde

Frau Wehde, was ist ihr persönlicher Bezug zum Dragonerareal?

“Ich bin seit März 2015 in der Nachbarschaftsinitiative aktiv. Dragopolis hat sich nach einem Spaziergang mit Mitgliedern der Initiative „Stadt von Unten“ über das Dragonerareal gegründet. Unsere erste Aktion war das Spiel „Dragopoly“, eine Art Monopoly mit umgedrehter Spiellogik und auf das Dragonerareal zugeschnitten. Zu Beginn des Spiels sind alle Straßen im Besitz der Investoren, doch dann wendet sich das Blatt…
Uns ist es wichtig, das Gelände „zu bespielen“, und dafür einen Ansatz zu wählen, der den Ort positiv erlebbar macht und es ermöglicht, ihn kennenzulernen. Als wir 2015 als Dragopolis gestartet sind, wussten viele Leute nur sehr wenig über das Dragonerareal, auch nicht über die Politik, die dahintersteht. Viele waren niemals dort gewesen. Daher das Spiel „Dragopoly – Wir spielen mit“, die Schatzsuchen über das Gelände, die auch Kinder ansprachen und die Feste. Ein weiteres wichtiges Thema für uns ist die Geschichte des Ortes.”

Sie sind Mitveranstalterin der Dragonale. Wie ist es zu der Idee eines Nachbarschaftsfestivals gekommen?

Wir finden es wichtig, dass sich Menschen und Nachbarn in einem offenen Rahmen wie z.B. einem Fest treffen und austauschen können. Gleichzeitig wollten wir die Nachbar*innen auch darüber informieren, was mit dem Gelände geschehen soll. Es gab bei den Festen auch immer Infostände, die Initiativen waren vertreten… Die Feste sind eine gute Chance, die Menschen, die nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnen zu informieren, was dort eigentlich geschieht. Trotzdem ist ein Fest in der Hauptsache ein entspanntes Beisammensein.

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Sie setzen sich sehr stark für die Sichtbarmachung der vielfältigen Geschichte auf dem Dragonerareal ein. Woher kommt Ihr Interesse an Geschichte?

Ich habe keinen beruflichen oder akademischen Bezug zum Thema Geschichte. Ich bin schon länger aktiv in Bezug auf Stolpersteine, habe einige Stolpersteine gespendet und recherchiere dann auch immer zu den Biografien. Auch wurde ein Verwandter von mir, Fritz Wehde, Opfer der T4-Aktion und im Rahmen der NS-„Kindereuthanasie“ im Alter von 5 Jahren ermordet. Ich habe auch seine Biografie recherchiert und vor diesem Hintergrund einen persönlichen Bezug. Über Biografien finde ich einen Zugang zu den Ereignissen und kann besser verstehen, wie so etwas damals passiert ist. Vergangenes wird nahbarer durch die Geschichten konkreter Personen.

Was fasziniert Sie an der Geschichte des Dragonerareals?

Das Dragonerareal hat eine sehr bewegte Geschichte. Es war ursprünglich ein Upstall, eine gemeinschaftlich genutzte Weidefläche vor den Toren der Stadt. Im 20. Jahrhundert spielte der Ort eine ganz entscheidende Rolle für die Ereignisse im Rahmen des Januaraufstands 1919. Später fand in der NS-Zeit dort auch Zwangsarbeit statt. Heute streben wir wieder eine gemeinwohlorientierte Nutzung an und möchten die ganzen Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfen, die das mit sich bringt. Es treffen an diesem Ort also sehr viele Themen aufeinander.

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Was macht es so wichtig, an diese Themen zu erinnern?

Die Ereignisse vom 11. Januar 1919 – die Ermordung der sieben Vorwärts-Parlamentäre –sind bedeutsam für die deutsche Geschichte. Diese Morde waren der Ausgangspunkt für die von der Ebert-Regierung ausgeübte Gewalt zur endgültigen Niederschlagung der Revolution. Diese Gewalt stand Pate für die Weimarer Republik und hatte Auswirkungen – auch in Bezug auf die NS-Zeit. Das ist auch die These des Historikers Marc Jones, den wir beim Geschichtssymposium zu Gast hatten: „Am Anfang war Gewalt“ (Titel des Buches, Anm.). Gerade die staatlich legitimierte Gewalt und das folgenreiche und fatale Bündnis mit den rechten Freikorps prägte von Anfang an diese junge Demokratie. Das ist auch mit ein Grund, weshalb die Weimarer Republik nie zur Ruhe kam. Das Dragonerareal bietet als unmittelbarer Ort dieser Ereignisse die Chance, diese Geschichte im Kontext zu erzählen und sie so nahbarer, nachvollziehbarer zu machen. Dabei hilft auch der Zugang über die Ermordung der Vorwärts-Parlamentäre und ihren Biografien.

Darüber hinaus lassen sich ausgehend von der Novemberrevolution und dem Januaraufstand 1919 sehr viele Themen veranschaulichen, die mehr denn je aktuell sind: Gewalt, Hass, die Gefahr von Hetze, Gerüchten und Legendenbildung oder „Fake News“, von Nationalismus und Militarismus – aber auch Frieden, Antimilitarismus, Freiheit und Demokratie. Auslöser der Novemberrevolution waren die Kieler Matrosen, die nicht länger in den Krieg ziehen wollten, den Befehl verweigerten und für den Frieden und die Freiheit auf die Straße gegangen sind. Dass Freiheit und Demokratie nichts Selbstverständliches sind, erleben wir auch heute wieder.

Und doch gibt es für die Novemberrevolution keinen Geschichts- oder Gedenkort, wo diese Aspekte verhandelt werden. Auch in Rastatt, wo es die „Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen der deutschen Geschichte“ gibt, wird zwar an die Märzrevolution 1848 und die friedliche Revolution von 1989 erinnert, aber auch dort fehlt die Novemberrevolution 1918/1919 komplett. Da ist eine Leerstelle. Es gibt keinen Ort, an dem explizit an die Novemberrevolution in irgendeiner Weise erinnert wird! Dabei hatte sie große Auswirkungen. Das möchten wir ändern und fordern einen Lern- und Geschichtsort auf dem Areal.

Wie könnte dieser Lern- und Geschichtsort aussehen?

In jedem Fall brauchen wir Räume für eine Dauerausstellung. Wichtig sind aber auch Orte für politische Bildungsarbeit, Räume, die man gemeinsam nutzen kann, zum Beispiel um Workshops, Veranstaltungen durchzuführen. Auch Andere mit Bezug auf das Thema sollen die Räume nutzen können, beispielsweise Theater- oder Kunstprojekte, oder Künstler*innen für Aktionen. Wir haben noch kein voll ausgereiftes Konzept, aber was wir in jedem Fall möchten, sind Formate, die gezielt junge Menschen ansprechen.

S.T.E.R.N. GmbH

Wie sehen Sie den offiziellen Partizipationsprozess seit 2017?

Nach den aktuellen Entwicklungen ist meine Bewertung erstmal positiv. Von Seiten des Vernetzungstreffens der Initiativen war klar, dass wir kein klassisches Beteiligungsverfahren wollen, wie man das bei Sanierungsverfahren üblicherweise macht, sondern Kooperation auf Augenhöhe. Die Bildung des paritätisch besetzten Gründungsrats ist ein ganz entscheidender Schritt, um wirklich im Sinne eines Modellprojekts neue Wege gehen zu können. Auch dass jetzt die „ZusammenStelle“ langsam die Arbeit aufnimmt und wir in den Arbeitsgruppen diese Inventur durchführen, das halte ich für sehr wichtig. Natürlich muss man jetzt abwarten, wie die künftige Struktur sein wird und wie die Kooperationsvereinbarung im Detail aussieht. Und klar, auf Seiten des Vernetzungstreffens Rathausblock haben bzw. hatten wir stets bestimmte Befürchtungen. Zum Beispiel, dass unsere Ergebnisse am Ende doch für die Tonne sind oder dass am Ende doch von oben entschieden wird. Da gab es auch bereits Momente, die verliefen eher unglücklich. Dazu zählt z.B. eine Versammlung im November 2017, bei der Herr Scheel, Staatssekretär für Wohnen, verkündet hat, das Areal exklusiv an zwei Wohnungsbaugesellschaften zu übertragen. Da waren wir natürlich total sauer und frustriert. Aber: Wir haben dann eingefordert, dass es erstmal an die BIM geht und so ist es ja auch erstmal passiert. Von daher bin ich froh über den Punkt, an dem wir heute stehen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Dragonerareals?

Zum einen wünsche ich mir, dass das Dragonerareal im Hinblick auf den Planungsprozess auch wirklich ein Modellprojekt wird; ein Projekt, das neue Wege aufzeigt. Ich wünsche mir aber auch, dass mit allen Beteiligten – Gewerbetreibenden, Initiativen, Nachbar*innen, zukünftigen Nutzer*innen – eine gemeinsame Vision für das Gelände entwickelt wird. Auch in Bezug auf bestimmte Werte, die man vertritt. Zum Beispiel die einer inklusiven, offenen, vielfältigen Nachbarschaft. Wir brauchen eine Basis, ein gemeinsames Leitbild.

Gibt es diese gemeinsame Vision schon oder fehlt‘s daran noch?

An einer gemeinsamen Vision von Stadt und Zivilgesellschaft fehlt es noch. Es ist ein Wunsch von mir, diese Vision zu entwickeln. Das Leitbild ist noch nicht da. Es ist aber total wichtig, damit sich alle, die künftig dieses Gebiet nutzen, darauf berufen können. Nur so können zum Beispiel rassistische, rechtsextreme und antisemitische Kräfte und Positionen ganz explizit ausgeschlossen werden. Das Dragonerareal ist so ein Schatz und bietet so viele Möglichkeiten. Was uns noch fehlt, ist das Übergreifende, das Verbindende für unser Gebiet, aber ich bin optimistisch in Bezug auf den zukünftigen Prozess.

Frau Wehde, vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Laura Höss.