Was uns Europa als maritimer Kontinent sagt
Bild: Amsterdam Museum
von Ursula A. Kolbe
Ist uns eigentlich bewusst, wie sehr unser Alltag vom Meer geprägt wird? Denken wir nur an den morgendlichen Kaffee, für manche ja schon ein Ritual. Er kam auf dem Seeweg aus fernen Landen zu uns. Auch das geflügelte Wort „den Löffel abgeben“ beispielsweise stammt aus der frühen Seefahrt; geprägt in Zeiten, als jeder Matrose seinen eigenen Löffel hatte und diesen auch gut behütete. Wenn er aber aus dem Leben schied, den buchstäblich abgeben musste.
Auch heute ist uns Europäern kaum bewusst, dass geografisch gesehen Europa ein maritimer Kontinent ist. Umgeben von zwei Ozeanen und vier Meeren sowie einer Gesamtküstenlänge von knapp 70.000 km hat kein anderer Erdteil mehr Berührungspunkte mit dem Meer als Europa. Dennoch findet das kaum Bedeutung, wird allenfalls als Urlaubsziel oder Grenzregion wahrgenommen.
Die Bedeutung der Meere jedoch ist heute von größerer Aktualität denn je: Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Terror und Armut machen sich über das Mittelmeer auf den Weg nach Europa. Zugleich verändert die Ausbeutung der Meeresressourcen die Lebenswelten der Europäer schon heute weitreichend. Wie grundlegend das Meer die Entwicklung und Identität des Kontinents geprägt hat und welche Rolle es bis in die Gegenwart hinein spielt, beleuchtet die Ausstellung „Europa und das Meer“ in Berlin Unter den Linden jetzt bis zum 6. Januar 2019 im Deutschen Historischen Museum.
Damit betrachtet erstmals eine Sonderausstellung den europäischen Kontinent vom Meer aus. Museumspräsident Prof. Dr. Raphael Gross hatte eingangs in seinen Worten vor Pressevertretern auf die Wappensäule von Cape Cross verwiesen, die ein portugiesischer Seefahrer 1486 an der Küste des heutigen Namibia errichtete und so den Herrschaftsanspruch des portugiesischen Königs Joao II. über ein aus europäischer Perspektive erstmals erreichtes Gebiet in Afrika markierte.
Es gehört damit zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Expansion des 15. Und 16. Jahrhunderts. Das Ausgreifen Europas in die Welt, das die Säule dokumentiert, so Prof Gross weiter, wäre ohne das Meer nicht möglich gewesen. So blickt das Museum in einer transnationalen Perspektive auf 2.500 Jahre maritimer Kulturgeschichte und spannt entlang der Koordinaten bedeutender europäischer Hafenstädte einen Bogen von der mythologischen Namensgeberin „Europa“ bis in die unmittelbare Gegenwart.
Gezeigt werden die vielfältigen Transformationen, die Europa seit der Antike über das Meer erfahren hat und macht die globalen Verflechtungen und Wechselwirkungen sichtbar, die mit der Erkundung und Erschließung der umliegenden Ozeane und Meere einhergingen. Dabei wird deutlich, dass ihre Beherrschung über Jahrhunderte hinweg ein wesentlicher Bestandteil europäischer Machtpolitik war.
Von der venezianischen „Seeherrschaft“ über die iberische Expansion, den Aufstieg der „Schiffbaunation“ Niederlande, den transatlantischen Sklavenhandel und die britische Dominanz in der Weltwirtschaft bis in die Gegenwart: Auf 1.500 Quadratmetern entfaltet sich ein länder- und epochenübergreifendes Panorama Europas, dessen Kultur, Weltbild und Selbstverständnis sich maßgeblich im Austausch mit der Welt geformt hat.
Aufbruch in „Neue Welten“
400 kulturhistorische und zeitgenössische Exponate hochkarätiger Leihgeber und der museumseigenen Sammlung führen erstmals hier in dieser thematischen Breite wirtschafts-, politik-, sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven zusammen. Deutlich wird die ambivalente Rolle des Meeres: Als verbindendes Element ermöglichte es den europäischen Mächten weitreichende transnationale Interaktionen und machte den zweitkleinsten Kontinent zum „Global Player“.
Ein dichtes Netz maritimer Handels- und Verkehrswege schuf die Voraussetzung für den globalen Transport von Waren und Rohstoffen, Informationen und Ideen, Menschen und Moralvorstelllungen. Doch auch für die Bewohner der anderen Kontinente war das europäische Ausgreifen folgenreich: Die Ankunft der Europäer bedeutete für sie vor allem Ausbeutung, Gewalt, Rassismus und Unterdrückung.
Originalobjekte wie Pierre Bontiers und Jean le Verriers Chronik über „Die Eroberung und die Eroberer der Kanarischen Inseln“ oder der Grundriss des französischen Sklavenschiffes „Marie-Sèraphieque“ zeigen im umfangreichen Teil des Ausstellungsrundgangs, dass machtpolitische Interessen, das Streben nach wirtschaftlicher Dominanz und koloniales Denken dabei fast immer Hand in Hand gingen.
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent
Jahrhundertelang galten die Meere als die natürlichen Grenzen der Kontinente, erst mit dem technischen Fortschritt wandelten sie sich zum vielgenutzten Transitraum. Allein zwischen 1840 und 1880 wanderten 15 Millionen Menschen aus ganz Europa auf der Suche nach neuen Lebensperspektiven Richtung Übersee aus. Heute bestehen die EU-Grenzen zu zwei Dritteln aus Küstenlinien, die im sich abschottenden Europa zunehmend wieder zu Schranken werden.
Historisch betrachtet sind Migrationsbewegungen eine Dauererscheinung. Die Fluchtursachen heute wie damals: Krieg, Armut, Perspektivlosigkeit, politische oder religiöse Verfolgung. Schlagartig illustriert die Ausstellung die Entwicklung Europas vom Auswanderungskontinent im 19. Jahrhundert zum Einwanderungskontinent im 20. Und 21. Jahrhundert. Im Zentrum steht dabei die gefahrvolle Schiffspassage als eigentlicher Akt der maritimen Migration. Wobei die heutigen Bedingungen gefährlicher sind als im 19. Jahrhundert: Bis 2017 ertranken über 25.000 Menschen im Mittelmeer.
Die Erforschung der Weltmeere: Nutzung und Ausbeutung
Das Ökosystem Meer und seine Rolle für die Umwelt und das Klima sind heute bedeutender denn je. Bereits seit Jahrtausenden betreiben die Europäer Fischfang, wie u. a. Marcus Èliser Blochs Zeichnungen und Nasspräparate beispielhaft veranschaulichen. Heutzutage gewinnen nicht nur Erdöl und Erdgas, sondern auch erst vor wenigen Jahrzehnten entdeckte Rohstoffe wie Kobaltkrusten, Manganknollen und Methanhydrate massiv an Bedeutung.
Überfischung, Havarien und Vermüllung bedrohen nicht nur die Zukunft der Weltmeere, sondern das globale Klima und das ökologische Gleichgewicht insgesamt. Forscher gehen davon aus, dass bereits im Jahr 2050 mehr Plastik als Fische in den Ozeanen schwimmen wird.
Angesichts schwindender Ressourcen erkundet die Tiefseeforschung das Meer auf der Suche nach Lösungen für die Zukunft. Aktuelle Exponate wie die „Friendly Floatees“ genannten Plastiktiere zeigen eindrucksvoll, wie aus Meeresmüll unerwartet wichtige Forschungsergebnisse über die Meeresströmungen gewonnen werden können.
Das Meer als Sehnsuchts- und Erholungsurlaub
Im 18. Jahrhundert entdeckten die Europäer die ästhetischen und therapeutischen Qualitäten des Meeres: Der Ozean wurde von einer bedrohlichen Naturgewalt zum Inbegriff von Erhabenheit und Schönheit, zum Ort der Heilung und Entspannung. In den neuen Seebadeanstalten, beginnend in Brighton und anderen britischen Badeorten, traf sich der europäische Adel zur Kur und Kontaktpflege.
Bald wurden überall an den Nord- und Ostseeküsten und später im südlichen Europa Seebäder gegründet. Auch das Bürgertum pflegte nun zunehmend die jährliche „Sommerfrische“ am Meer. Im Zuge dieses Mentalitätswandels entdeckten Künstler – unter ihnen Carl Gustav Carus und Max Liebermann – die Meeres- und Küstenlandschaften als eigenständige Sujets. Im späten 20. Jahrhundert mündete dann logischerweise die touristische Erschließung der Küstenregionen in das Zeitalter des globalen Massentourismus.
Wissenswert auch: Die Ausstellung ist inklusiv und barrierefrei, bietet neben deutsch und englisch die Hauptinformationen auch in Braille, leichter Sprache sowie als Gebärdensprache an. 13 inklusive Kommunikations-Stationen laden zu einem partizipativen Einstieg in jeden Themenbereich ein.
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