Wenn Einer eine Reise tut …

Bühnenbild Zwei Schienenstränge bis zum Horizont

_von Waltraud Käß_

Eigentlich wollte ich an diesem Samstag mit dem Regio von Berlin-Lichtenberg nach Frankfurt/Oder fahren. Das Wetter war wie gemacht für einen Ausflug. Nach dem langen Winter würde die Sonne Körper und Geist erfrischen. Und ich freute mich auf Entdeckungen in der Stadt, der so genannten Kleist-Stadt, die ich bisher nicht kennengelernt hatte.

In dieser Stadt wurde im Jahre 1777 der Dichter Heinrich von Kleist geboren. Frankfurt an der Oder ist gleichzeitig Grenzstadt zum Nachbarland Polen. Noch im Jahre 1945 wurde sie zur Festung erklärt und demzufolge kriegsmäßig attackiert. Die Innenstadt war zu 93 % zerstört. Nun aber wollte ich den Lenne`- Park besuchen, die Friedensglocke besichtigen, die immer am 1. September geläutet wird. Ich wollte an der Europa-Universität Viadrina vorbei schlendern, einen Blick in die Marien-Kirche werfen. Und wenn die Zeit noch reichte, vielleicht einen Spaziergang über die Oderbrücke ins Nachbarland unternehmen.

Mit diesen Überlegungen ausgerüstet und voller Vorfreude machte ich mich auf den Weg, die Zeiten waren alle berechnet, ich würde genügend davon haben, um rechtzeitig den Zug zu erreichen. Der stand schon zum Einsteigen am Bahnsteig bereit. Was mich allerdings beunruhigte, waren die vielen anderen Menschen, mehrere junge Familien mit Kindern, die auf das gleiche Ziel wie ich hinsteuerten. Au Backe, entfuhr es mir, als ich den Zug, der eigentlich nur aus dem Triebwagen bestand, betreten wollte. Alle Plätze waren bereits durch ältere Menschen besetzt, deren Fahrräder ihnen wahrscheinlich am Ufer der Oder oder irgendwo unterwegs zur Weiterbeförderung dienen sollten. Dazwischen standen die jungen Familien mit Kindern auf dem Arm, an der Hand oder im Kinderwagen. Mit anderen Worten, der Zug war proppevoll, wie der Berliner zu sagen pflegt. Und noch immer kamen neue Passagiere hinzu, die diejenigen, die gerade noch vorn an der Tür standen, ins Wageninnere drängten, die Kinder mittendrin. Es wurde Zeit, dass es endlich los ging. Ich tippte, dass vor allem die jungen Familien in Eberswalde aussteigen würden, denn der Eberswalder Zoo ist bekannt. Bestätigung dafür fand ich in ihren Gesprächen.

Ein leises Grollen kam aus dem Wageninneren. Ein junger Mann, der mir sehr leid tat, musste sich durch die Massen drängen, denn er hatte eine Aufgabe. Er führte eine Befragung durch, in wessen Auftrag auch immer. Fragte nach Abfahrtsorten, benutzten Verkehrsmitteln, Reisezielen usw., aber nicht danach, ob die Fahrgäste heute mit diesem Service zufrieden wären. Die Antworten fielen entsprechend unfreundlich aus.

Der Bahnhof Hohenschönhausen näherte sich. Leider stieg keiner aus, aber es wollten mehrere Menschen mit Kindern, Fahrrädern und Kinderwagen einsteigen, was sie irgendwie auch schafften. Aber die Stimmung kippte. Keiner fand es mehr lustig, wenn ihn jemand in die Rippen stieß oder auf den Fuß trat, verbale Entgleisungen waren zu hören. Neben mir befand sich eine Gruppe Kinder, Mädchen und Jungen im Alter zwischen fünf bis sieben Jahre. Sie schauten ängstlich, ich dachte man müsste sie beschäftigen und die Erwachsenen vielleicht ein wenig ablenken.

„Kennst du das Lied: Jetzt fahr’n wir über’n See, über’n See, jetzt fahr’n wir über’n See?“ Ein besseres fiel mir gerade nicht ein. Sie nickte. „Würdest du das mit mir singen, und ihr anderen auch“, fragte ich den Rest der Truppe. Sie schauten mich zwar verwundert an, aber sie nickten. Also los, sagte ich. Zaghaft klangen die ersten Laute, aber wir wurden besser. Im Wageninneren wurde plötzlich nicht mehr geschimpft, und ich bat die Kinder, den Refrain immer und immer wieder zu wiederholen und dabei zu klatschen, was ihnen offensichtlich Spaß machte und einige der Mitreisenden animierte, ebenfalls zu klatschen. Ein Sprichwort sagt“ Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln“. Aber manchmal ist es auch ein gerade gegründeter Kinderchor.

Insgeheim hatte ich mir überlegt, nicht bis Frankfurt in diesem Zug stehen zu bleiben, sondern in Bernau auszusteigen. Das war eine gute Entscheidung, denn in Bernau stiegen mehr Leute ein als aus. Ich sagte den Kindern Tschüs und hoffe, dass sie noch weiter gesungen haben.

Bernau – es liegt so nahe bei Berlin, und dennoch hatte ich es noch nicht kennengelernt. Also machte ich mich auf den Weg, der gut ausgeschildert war. Und anstatt nun über die Oderpromenade in Frankfurt zu flanieren, umkreiste ich die Stadt vom Skulpturen-Park kommend. an der alten, aus Felssteinen gemauerten Stadtmauer entlang. An vielen Stellen befinden sich Durchgänge, die in einen gepflegten Park führen, in dem sich gut erholen lässt. Am Steintor und der Stadthalle angekommen konnte ich erleben, wie gerade viele junge, geschmückte Menschen mit ihren Angehörigen ins Freie strömten. Der Jahrgang 2013 hatte gerade seine Jugendweihe erhalten, und die Gesichter der jungen Menschen strahlten voller Stolz und Freude.

Ich passierte das Mühlentor, kam am Wohnhaus des Scharfrichters von Bernau, dem so genannten Henkerhaus, vorbei, besuchte den Pulverturm, den Wochenmarkt. Und auch Bernau hat eine Sankt-Marien-Kirche.

Die Zeit war inzwischen fortgeschritten, großer Hunger stellte sich ein. Ich machte mich auf die Suche nach einer gastronomischen Einrichtung und fand sie – stilecht- im Gasthof „Zum Zicken-Schulze“. Der Name ist einem Bernauer Original gewidmet, welches auch musikalisch vermarktet wurde. Zum Nachtisch gab es „Arme Ritter“, ein Arme-Leute-Gericht aus uralten Zeiten, nun aber mit Sahne und Zabaione verfeinert, und köstlich schmeckend.

Ich habe es nicht bereut, in Bernau ausgestiegen zu sein. Durch spontane Entscheidungen kommt der Mensch auch zu interessanten Erlebnissen. Und Frankfurt an der Oder steht weiter auf meinem Tourenplan. Zurück fuhr ich in einem fast leeren Zug.