Für Sie gelesen: "Gestatten, dass ich sitzen bleibe?" von Udo Reiter

buehne Ein Parkplatz für Behinderte mit Kennzeichnung auf einer Pflastersteinstraße

_von Waltraud Käß_

Mit geschenkten Büchern ist das so eine Sache. Man beschaut sie von vorn und von hinten, liest den Klappentext, ist sich nicht sicher, ob das Buch dem eigenen Anspruch genügt, ob der Geber den Geschmack getroffen hat ….

Und dann lässt einen der Inhalt nicht mehr los. So erging es auch mir.
Da schreibt einer als Pensionär über sein Leben, welches er im Alter von 23 Jahren doch schon fast verloren hätte.

Schreibt offen und selbstironisch über die Unannehmlichkeiten, welche ihm das Leben nach einem schweren Unfall sehr anstrengend machen:

„ Ich wurde auf ein Spezialbett mit verschiebbaren Matratzenblöcken gelegt. Die erste Nacht werde ich nie vergessen, hatte Schmerzen, an Schlaf war nicht zu denken…““ Von seinem Arzt erfährt Udo Reiter, dass er querschnittsgelähmt ist und sein ganzes Leben im Rollstuhl verbringen wird.

Doch mitunter blieb mir als Leserin das Lachen im Hals stecken, auch wenn die Anekdoten noch so witzig geschrieben sind: „ Als Erstes merkt man, dass die Welt außerhalb eines Querschnittszentrums nicht für Rollstühle gemacht ist…

Überall Schwellen, das Klo zu eng, das Waschbecken nicht unterfahrbar, die Schränke zu hoch und vor der Haustür auch noch drei Stufen… Ich erinnere mich an meinen ersten Ausflug in Lindau. Ich wollte vom Bürgersteig hinunter auf die Straße und dachte, die Bordsteinkante nehme ich am besten im Schwung, dann lande ich in einer Art Gleitflug auf Straßenniveau.

Das war ein Irrtum. Ich landete zwar, aber auf der Fresse. Der Rollstuhl war vornüber auf die Straße gekippt. Zum Glück kam gerade kein Auto vorbei.“ Man mag sich nicht vorzustellen, selbst einmal in einer solchen Lage zu leben oder in sie hinein zu geraten.

In jeder Zeile des Buches ist zu spüren, welch ein starker Lebenswille diesem Menschen inne wohnt, wie er sich auf die Herausforderungen seines wieder geschenkten Lebens im Rollstuhl einlässt. Er ist fleißig, er ist hartnäckig, er muss sich gegen Widerstände zur Wehr setzen. Das muss er schon in seiner Kindheit.

Er ist ein Nachkriegskind, als der Krieg vorbei ist, ist er ein Jahr alt. Sein Vater ist sehr fromm und Udo Reiter wird in diese Frömmigkeit eingebunden, ja eingezwungen. Kirchgänge mehrmals die Woche, an den Wochenenden, die auch verbunden sind mit kilometerlangen Fußmärschen ins nächste Dorf.

„Vaters Frömmigkeit war verbunden mit einer militanten Lustfeindlichkeit. Ich durfte zum Beispiel nicht auf den Jahrmarkt und nicht ins Kino, das hielt er für Teufelswerk…“ Er ist trotzdem hin gegangen, aber mit sehr schlechtem Gewissen. „Dass damals streng erzogen wurde, auch mit Schlägen, war selbstverständlich…

Wenn ich etwas angestellt hatte, hat mein Vater vom Küchenschrank ein Stück Gartenschlauch genommen, das eigens zu diesem Zweck dort aufbewahrt wurde, und mich damit durchgehauen… Benimmt dich, sonst kommt der Schlauch, war eine feste Redewendung bei uns.“

Ich persönlich kann mich an solche „Erziehungsmethoden“ auch erinnern.
Udo Reiter macht das beste Abitur seines Jahrgangs und bekommt nach einer zusätzlichen Aufnahmeprüfung das „Bayrische Stipendium für besonders Begabte“.

Nun steht einem Studium in München in den Fächern Germanistik, Geschichte und Politische Wissenschaften nichts mehr im Wege. Er schließt sein Studium ab, macht den Doktor mit „Magna cum laude“. Aber das Leben im Rollstuhl bringt ihn an die Grenzen der Belastbarkeit und führt schließlich zum Kauf einer Waffe, mit der er sein Leben beenden will. Sein Lebenswille aber gewann die Oberhand.

Nach der Doktorarbeit beginnt sein Aufstieg. Ein Bekannter seines Vaters schreibt an den damaligen Intendanten des Bayrischen Rundfunks und fragt, „ob man für einen jungen Mann im Rollstuhl, der immerhin in Germanistik promoviert habe, nicht irgendetwas zu tun hätte…“

Udo Reiter kämpft sich durch viele Stationen und Jahre seiner journalistischen Tätigkeit immer weiter an die Spitze. Der Fall der DDR-Grenze bringt für ihn neue Herausforderungen. Nicht überall löst die Wiedervereinigung in der Bundesrepublik Begeisterung aus, auch nicht im Bayrischen Rundfunk, wie die Äußerung eines damaligen Mitarbeiters zeigt:“Ich bin auch für die Wiedervereinigung-aber mit Südtirol.“

Anders Udo Reiter. Er hat sich mit der DDR schon ein wenig beschäftigt, er ist Leser von DDR-Literatur, kennt Erwin Strittmatter, Hermann Kant oder Brigitte Reimann. Und er hat bereits Urlaub in ihr gemacht, in Weimar, Eisenach, Dresden und Leipzig. Und ahnt dabei nicht, dass dieses Gebiet das Sendegebiet des Mitteldeutschen Rundfunks werden wird, den er aufbaut, und an dessen Spitze er als Intendant über zwei Jahrzehnte stehen wird.

In pointierter Weise und versehen mit zahlreichen Beispielen zeichnet Udo Reiter die einzelnen Stationen der Entstehungsgeschichte, die damit verbundenen Schwierigkeiten. Und er schreibt über die Menschen, die nun in seiner Personalhoheit arbeiten:“Meine guten Erfahrungen mit unseren neuen Landsleuten waren rundum positiv.

Das fing bei Äußerlichkeiten an. Man war hier freundlicher im Umgang miteinander, als ich das aus dem Westen gewohnt war. Wenn man sich beim Spaziergehen begegnete, grüßte man sich. Wenn man am Morgen ins Büro kam, gab man sich die Hand. Aber das war es nicht allein. Hilfsbereitschaft war hier selbstverständlicher als bei uns…

Jedenfalls wurden die Wessis –damals-mit offenen Armen aufgenommen. Mit zu offenen, dachte ich mir bald. Es gingen ja nicht nur die Besten in den Osten… Es wimmelte bald von windigen Figuren, die die Unerfahrenheit der Ostdeutschen mit den neuen Spielregeln schamlos ausnutzen.“

Viele ehemalige DDR-Bürger, die in bundesdeutsche Betriebe oder Dienste übernommen wurden, werden wissen, wovon Udo Reiter schreibt. Für mich war interessant zu lesen, wie sich ein Spitzenmann der Bundesrepublik auf die Menschen im Osten, auf die DDR-Bürger einlässt. Dass er seit 1994 in Gottscheina, einem kleinen Dorf in der Nähe von Leipzig lebt, macht Udo Reiter noch sympathischer.

Und es ist ein Buch, welches Mut macht. Ich kann mich nur der Meinung von Martin Walser auf dem Titelumschlag anschließen, der schreibt: „So etwas Schönes, Starkes und mühelos Genaues habe ich selten gelesen.“

Erschienen ist das Buch im Aufbau-Verlag- ISBN 978-3-351-02762-9