Die Neugierde
Bild: Rainer Sturm/pixelio.de
von Rudolf Winterfeldt
Im Frühjahr 1943 ging ich noch immer nicht zur Schule, obwohl ich schon 7 Jahre alt war. Zum Einschulungstermin 1942 war ich an Keuchhusten erkrankt und wurde nicht eingeschult. Nun sollte es in diesem Jahr erfolgen. Einschulungstermin war damals die Zeit um Ostern, also März/April. Aber es sollte dazu nicht kommen.
Anfang März 1943 war ich mit meinen Halbgeschwistern, der 4-jährigen Christel und dem 2-jährigen Jürgen, allein zu Hause. Meine Mutter und mein Stiefvater waren wohl zur Arbeit. Als ich zur Toilette musste, war ich sehr neugierig, wie es denn wohl da oben in dem Wasserkasten aussehen möge. Es rauschte ja immer so geheimnisvoll und das Rauschen hörte auch von alleine auf.
Ich war wohl damals schon sehr wissensdurstig und wollte in das Geheimnis dieser Technik eindringen. Mutig schritt ich zur Tat. Die Klobrille wurde hochgeklappt und ich bin darauf geklettert. Am Fallrohr habe ich mich festgehalten. Leider war ich nicht groß genug, um in den Wasserkasten hineinschauen zu können. Ich wusste mir zu helfen und machte am Kasten einen Klimmzug.
Für diese Belastung waren aber die Befestigungshaken nicht ausgelegt. Sie gaben nach, der Wasserkasten riss ab und ich fiel von meinem „Hochstand“ direkt mit dem linken Bein in das Toilettenbecken. Da lag ich nun und war doch, ob dieser Entwicklung meiner Entdeckungstat, sehr erschrocken. Das Poltern brachte Christel auf den Plan. Sie kam angelaufen und sah die angerichtete Bescherung.
Durch die relative Schräglage des Wasserkastens, er hing nur noch am Fallrohr und an der Wasserleitung, funktionierte das Verschlussventil nicht mehr und das Wasser lief, von oben aus dem Kasten, auf den Fußboden. Das registrierte ich aber nur so nebenbei. Ich spürte nämlich am linken Bein Schmerzen. Beim näheren Hinsehen erkannten wir beide, dass unter dem linken Knie eine ca. 4 cm große Wunde klaffte.
Sie blutete aber nicht, sah ganz weiß aus und war voller weißer Splitter. Da wir nicht wussten wo das herkam, sahen wir in der Toilette noch einmal nach. Im Toilettenbecken befand sich an der vorderen Seite ein handtellergroßes Loch. Ich war also mit dem Knie auf das Keramikbecken gefallen und habe dabei dieses Loch verursacht.
Inzwischen lief das Wasser schon in die Wohnung. Wir wussten beide nicht, was wir nun machen sollten und ich selbst hatte Angst vor den zu erwartenden Folgen. Ich wollte alles ein wenig vertuschen und erst einmal die Splitter aus meiner Wunde entfernen. Der Versuch mit einer Handwaschbürste schlug fehl. Die Schmerzen waren zu groß.
Das Wasser breitete sich immer weiter in der Wohnung aus. Da fasste Christel den Entschluss, Hilfe zu holen. Sie öffnete das Fenster und rief laut. Kurze Zeit später kam eine Nachbarin und hat erst einmal den Wasserhahn am Spülkasten zugedreht. Sie hat sich auch meine Wunde angesehen, etwas darauf gelegt und mich ins Bett gebracht. Als meine Mutter kam, setzte sie mich in den Kinderwagen von Jürgen und fuhr mit mir ins Krankenhaus bzw. zum Arzt.
Der reinigte die Wunde mit einer Pinzette und legte einen Verband an. Auf dem gleichem Wege ging es mit dem Kinderwagen wieder nach Hause. Da lag ich nun in meinem Krankenbett mit einem Loch im Bein und konnte wieder nicht eingeschult werden. Meine Mutter hat mich regelmäßig zum Verbandswechsel gefahren und schließlich ist die Wunde auch verheilt.
Eine beachtliche Narbe ist von dieser Entdeckungshandlung zurückgeblieben. Heute frage ich mich, warum die Wunde nicht genäht wurde. Aber eine Antwort werde ich wohl nicht bekommen. Heute werden in den Toiletten keine Hochkästen mehr eingebaut und somit bleibt neugierigen Kindern eine solche Erfahrung, wie ich sie gemacht habe, erspart.
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