Emmas Weihnachten

Ein geschmückter Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen

von Tina Gonschorek

An einem grauen Dezembertag spazierte eine junge Frau mit einem fröhlichen Lächeln durch die Stadt. Das miese Nieselwetter und die oftmals ebenso mies gelaunten Leute nahm sie gar nicht wahr. Emma war mit sich und ihrem Leben zufrieden. Das Studium lief gut und das Zusammenleben in der WG mit ihren beiden Freundinnen war geprägt von Toleranz, Harmonie, Ehrlichkeit und voller Musik und Lachen.

An der Bushaltestelle drängten sich schon etliche Leute unter das schützende Glasdach und Emma gesellte sich dazu. Eine traurig klingende Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaute auf und sah ein altes Paar, das sich unterhielt. Beide saßen eng nebeneinander auf der Bank und sprachen über das bevorstehende Weihnachtsfest. Sie beklagten ihr Alleinsein an diesen für sie so wichtigen Tagen.

Früher waren die Kinder und Enkelkinder zu ihnen gekommen, aber das war jetzt unmöglich. Tränen liefen über das von Fältchen durchzogene, noch immer schöne Gesicht der alten Dame. Der Mann nahm ihre Hand und drückte sie schweigend.
Emma war von dem eben Gehörten zutiefst berührt. Sie dachte daran, dass sie und ihre Freundinnen zu Weihnachten eine große Party feiern wollten.

Ihre Eltern hatten in diesem Jahr erstmalig eine Schiffsreise gebucht, um das Fest erholsam in warmen Gefilden genießen zu können und dem Rummel zu Hause zu entgehen.

Bisher hatte sie das nicht weiter gestört, aber angeregt durch das Gespräch der alten Leute dachte sie nun wieder daran, wie gemütlich und heimelig die Weihnachtsfeste in ihrer Kindheit gewesen waren. Da gab es den großen Weihnachtsbaum, den immer der Vater mit ihr und ihrem Bruder Nils schmückte, während die Mutter, leise vor sich hin singend, in der Küche köstliche Leckereien vorbereitete.

Am Abend waren sie gemeinsam in die Kirche gegangen und hatten nach dem traditionellen Abendessen, Würstchen und Kartoffelsalat, die Bescherung gemacht. Die Erinnerungen daran lösten in ihr Gefühle aus, die sie gar nicht richtig einzuordnen wusste. Ein wenig nostalgische Trauer, aber auch einen gewissen Drang, sie wieder lebendig werden zu lassen.

Der Bus kam und die Menschen drängelten, um möglichst als erster einen Sitzplatz zu ergattern. Emma setzte sich rasch auf einen Doppelsitz und hielt nach dem Ehepaar Ausschau. Die beiden stiegen als Letzte schwerfällig ein. Emma winkte ihnen zu, stand auf und bat sie, doch Platz zu nehmen. Sie waren total verblüfft über so viel unerwartete Freundlichkeit und strahlten die junge Frau dankbar an.

So kamen sie ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass sie in der gleichen Straße nur drei Häuser voreinander entfernt wohnten. Emma trug ihnen die schweren Einkäufe und verabschiedete sich freundlich. Zu Hause erzählte sie sogleich ihren Mitbewohnerinnen Jule und Svenja davon.

In der Nacht träumte sie dann, dass sie an Heiligabend ganz allein und traurig in einem riesengroßen kalten Zimmer vor einem wild blinkenden Plastikweihnachtsbaum saß und lustlos an einem Würstchen knabberte.
Am Morgen schmunzelte sie noch über den Traum, als aus ihrem Unterbewusstsein eine Idee auftauchte, über die sie sogleich mit den Mädels sprach.

Sie plante einen gemeinsamen Weihnachtsabend, so wie früher in der Familie und wollte das nette alte Pärchen dazu einladen. Jule und Svenja waren begeistert und da in einem Woche schon Heiligabend war, machten sie sich mit Feuereifer an die Vorbereitungen.

Sie besorgten einen schönen Weihnachtsbaum und Emma fragte ihre Eltern, ob sie sich den Christbaumschmuck ausleihen dürfte. Diese waren über den Plan ihrer Tochter sehr überrascht. Bisher hatten immer sie sich um alles kümmern müssen und die Kinder waren nur zum Essen und Beschenken erschienen.

Ihr Bruder Nils, der verheiratet war und einen kleinen Sohn hatte, kam ins Grübeln, ob die Entscheidung richtig gewesen war, nur mit Frau und Kind die Feiertage zu verbringen. Eigentlich war es doch das Fest der Familie. Und so kam es, dass er seine Schwester fragte, ob sie nicht gemeinsam feiern, und was er dazu beitragen könnte. Emma freute sich sehr darüber und war nur ein wenig traurig, dass ihre Eltern nicht dabei sein würden.

Noch immer hatte sie nichts zu dem alten Pärchen gesagt. Das wollte sie erst am Tag vor Heiligabend tun.
Emmas Eltern beobachteten die Vorbereitungen und bereuten es, die Reise gebucht zu haben. Aber auch dieses Problem löste sich fast von selbst, als sie von Freunden erfuhren, dass deren Reise nicht stattfinden konnte, und sie die Schiffsreise gern übernahmen.

So rief Emmas Mutter am 22. Dezember an und fragte vorsichtig, ob sie denn auch kommen dürften. Emma war begeistert. Sie kochte und backte und fühlte eine Vorfreude auf das Weihnachtsfest, wie schon seit ihrer Kindheit nicht mehr. Svenja und Jule ging es ähnlich. Sie besorgten kleine Geschenke für alle. Dabei kam es ihnen nicht auf den Wert an, sondern nur darauf, dass sie liebevoll ausgesucht und verpackt wurden.

Die beiden alten Leutchen ahnten von all dem nichts. Gustav und Gerda grauste es vor den Feiertagen. Ihre Kinder lebten mit den Enkeln im fernen Australien. Natürlich telefonierten sie regelmäßig miteinander, aber sie sahen sich eben viel zu selten.

So waren sie sehr erstaunt, als es am 23. Dezember morgens an der Tür klingelte und die freundliche junge Frau davor stand, mit der sie sich so nett unterhalten hatten. Das Erstaunen wurde noch viel größer, als sie dann den Grund des Besuches erfuhren. Zuerst wollten sie die Einladung gar nicht annehmen, aber Emma fand die richtigen Worte, um sie zu überzeugen.

Nachdem sie gegangen war, schrieb Gerda in Windeseile eine lange Einkaufsliste und schickte Gustav damit los. Sie fühlte sich von einer Welle frischer Energie durchströmt und von einem unbändigen Gefühl der Freude. Als Gustav zurück kam begann sie zu backen und Eierlikör nach einem geheimen Familienrezept zu brauen. Die Plätzchen packte sie in kleine Tütchen.

Gustavs Hobby war das Schnitzen. Er beschloss, sein letztes Kunstwerk, eine wunderschöne Weihnachtspyramide Emma zu schenken. An jedes Kekstütchen band er eine seiner liebevoll geschnitzten kleinen Tierfiguren. Natürlich ließ er, als ganzer Kerl, sich seine Aufregung nicht anmerken, aber in seinem Inneren fühlte er sich so lebendig wie schon lang nicht mehr.

Der 24. Dezember begann für Emma mit einem Blick aus dem Fenster. Sie erwartete, wie immer in letzter Zeit, einen trüben Tag zu sehen. Aber oh Wunder, die Sonne lachte vom strahlend blauen Himmel und in der Nacht hatte es geschneit, so dass die Dächer und Bäume weiße Mützen trugen. Es war kalt und der Wetterbericht versprach weitere Schneefälle. Schöner konnte doch das Weihnachtsfest nicht beginnen!

So wurde also das Radio laut aufgedreht und mit Gesang und fröhlichem Lachen arbeiteten die Mädchen Hand in Hand. Der Weihnachtsbaum erstrahlte im Glanz der Kerzen, der große Tisch in der Wohnküche wurde zur festlichen Tafel mit hübschen Servietten und bunt zusammen gewürfelten Geschirr.

Der Kartoffelsalat wurde probiert und für lecker befunden, die Würstchen lagen im großen Topf bereit und Kaffee und Kuchen warteten auf die Gäste. Emmas Aufregung wuchs. Würde alles klappen? War es die richtige Entscheidung gewesen zwei wildfremde Menschen einzuladen? Würden sich alle vertragen? Kommt die richtige Weihnachtsstimmung auf? Schmeckt das Essen?

Jule, die sah dass Emma an sich zweifelte, nahm sie in den Arm und sagte zu ihr:“ Wir haben alles gemeinsam so toll vorbereitet, dass es einfach nur super klappen kann!“.

Als erste trafen Emmas Eltern ein. Sie waren so stolz auf ihre Tochter und sagten ihr das auch. Danach kam Nils mit seiner Familie und sofort verliebten sich alle in den zweijährigen Jonas, der mit seiner roten Zipfelmütze wie ein kleiner Weihnachtsmann aussah.

Beim nächsten Klingeln ging Emma zur Tür und bat Gerda und Gustav herein. Beide blickten sich etwas schüchtern um. Sie sahen in lauter strahlende Gesichter und wurden herzlich begrüßt. Gustav stellte sein großes Paket und die Kekstütchen verstohlen unter den Weihnachtsbaum zu den anderen Geschenken, während Gerda eine wunderschöne Amaryllis übergab.

Es dauerte nicht lange und alle waren in angeregte Gespräche vertieft. Jonas wanderte von einem zum anderen und wurde geknuddelt und bespielt. Als von Gerda der Vorschlag kam, Weihnachtslieder zu singen, machten alle begeistert mit und waren erstaunt, dass sie noch immer die Texte kannten, die sie so lange nicht mehr gesungen hatten. Emma sah, dass es schneite.

Nun hielt es sie nicht mehr drinnen. Sie forderte alle zu einem Spaziergang auf, der in einer wilden Schneeballschlacht endete. Durchgefroren drängten sie nach oben, um mit der Bescherung zu beginnen. Fröhlich wurden die Geschenke mit den liebevoll ausgesuchten Kleinigkeiten ausgepackt. Gustav überreichte Emma mit leuchtenden Augen feierlich das große Paket. Sie war total überrascht.

Als ihr Gustav dann sagte, dass er die wunderschöne Pyramide selbst gefertigt hatte, weinte sie vor Rührung und umarmte den alten Herrn ungestüm. Er wurde ganz rot im Gesicht und murmelte etwas Unverständliches, war aber von den Komplimenten überwältigt.

Emma, Jule und Svenja waren restlos zufrieden. Nie hätten sie gedacht, dass es ein so ausgelassenes, fröhliches, aber auch stimmungsvoll besinnliches Weihnachtsfest werden würde. Gerda und Gustav waren glücklich. Sie versprachen Emmas Eltern sich ein bisschen um die Mädels zu kümmern. Nun hatten sie wieder eine Aufgabe. Nils und seine Frau nahmen den völlig überdrehten Jonas und machten sich mit den Eltern auf den Heimweg.

Emma brachte Gustav und Gerda nach Hause. Vor der Tür blieben sie noch einen Moment stehen und sahen, jeder in seine Gedanken versunken, den Schneeflocken zu, die in einem anmutigen Tanz zur Erde schwebten. Die Welt war still, gedämpft durch den dichten Schneefall und es herrschte diese ganz besondere Stimmung, die es nur zu Weihnachten gibt.

Emma blickte die beiden alten Leute an und spürte, dass auch sie davon erfasst wurden. Ihr Blick traf den von Gerda und wortlos nahmen sich die beiden so unterschiedlichen Frauen in die Arme, dankbar dafür, dass sie diesen besonderen Weihnachtsabend zusammen mit den Menschen, die sie liebten verbracht hatten.