Ein Berliner Wintermärchen
Bild: Tina Kayser / www.pixelio.de
von Waltraud Käß
Er musste hier raus. Gestern Abend war ihm dieses Quartier im Obdachlosenheim zur letzten Zuflucht geworden. Die geschützten Plätze, an denen er sonst übernachtete, waren alle besetzt. Kein Wunder, denn die gefühlte Temperatur überschritt sogar bei ihm schon die Zwanzig-Grad-Minus-Grenze.
Doch er in seinem Alter konnte noch manches verkraften. Aber die Älteren, Männer und Frauen gemeinsam, drängten sich mit ihren wenigen Habseligkeiten und in ihren Schlafsäcken in den Vorräumen der Sparkassen, an den wärmsten Ecken der Bahnhöfe, über den Schächten der U-Bahn, aus denen noch ein warmer Luftzug wehte. Er wollte nicht mit ihnen um einen Platz streiten. Nicht an diesem Tag.
Die Enge im Raum nahm ihm jetzt die Luft. Mühsam kroch er aus seinem Schlafsack. Im Dämmerlicht des heraufziehenden Morgens sah er schemenhaft die Gestalten auf den einfachen Bettgestellen, roch die Ausdünstungen der Leiber nach einer langen Nacht, hörte die Menschen atmen, hörte sie stöhnen, husten, krächzen und schnarchen. Weg. Er musste hier weg. Draußen überfiel ihn der Wintermorgen mit eiskalter Härte.
Die Zeitung, die er vorhin aus einem der Papierkörbe am S-Bahnhof Friedrichstraße gezogen hatte, zeigte ihm das Datum des 6. Dezember, Nikolaustag und sein Geburtstag. Niemand würde ihm gratulieren. Zeitungen eigneten sich hervorragend als Wärmepolster. Unter der Kleidung getragen, speicherten sie die Körperwärme. Er hatte schon eine ganze Menge in dem umfunktionierten Einkaufswagen mit anderen Habseligkeiten gesammelt.
Der Winter war dieses Jahr sehr früh herein gebrochen. Er las die Überschriften „Lawinenalarm am Hauptbahnhof“, „Haus brach unter Schneelast zusammen“, „Zahlreiche Straßen unpassierbar“, „Die BSR im Dauereinsatz“. Warum nur dieses Gejammer? Schließlich kam der Winter jedes Jahr. Die Menschen mussten sich nur darauf einstellen.
Der Tag lief gut für ihn. Den Platz im Bahnhof Friedrichstraße in der Nähe des Bistros hatte er rechtzeitig erobert. Der versprach Sättigung für den Tag. Er dankte höflich und sah den Kunden des Bistros ins Gesicht, wenn sie ihr Restgeld in seine Mütze warfen. Wenn man sie ansah, gaben sie mehr. Manchmal bekam er auch ein Baguette geschenkt. Die mit Schinken und Käse schmeckten am besten.
Die vorbeischlendernden Ordnungshüter drückten heute auch ein Auge zu, wahrscheinlich gegen ihre Dienstvorschrift. Vielleicht waren sie auch von den durch die Bahnhofshalle dudelnden Weihnachtsliedern weich gestimmt.
Als gegen Mittag die Sonne durch die Wolken lugte, machte er sich auf den Weg durch die Stadt. Menschen, die sonst an ihm vorüber hasteten, gingen heute vorsichtig balancierend über die eisigen Buckelpisten der Gehsteige. An den Straßenrändern türmten sich schmutzig-weiß zusammen geschobene Schneemassen und verengten die Fahrbahnen.
Auf den Freiflächen der Stadt hingegen lag der Schnee unberührt wie ein weißes Laken. In der Sonne schimmerte und glitzerte er in den Farben des Regenbogens. An Büschen und Bäumen waren durch die Vereisung bizarre Gebilde entstanden. Es war schön anzusehen. Einfach schön. „Jetzt fehlt nur noch die Schneekönigin“, dachte er, denn in seinen Kinderträumen wohnte sie in dieser Landschaft. Lange stand er und nahm das Bild in sich auf.
Im Tiergarten waren nur wenige Menschen unterwegs. Es waren die unermüdlichen Jogger, die ihre Spuren im frisch gefallenen Schnee hinterließen. Auch er wollte einige Zeit hier bleiben. Wenigstens solange, wie der Frost es zuließ. Der Plan war in der letzten schlaflosen Nacht in seinem Kopf entstanden. Ein wenig abseits vom Weg fand er einen geschützten Platz. Die Kinderschaufel, die er im Herbst auf einem Kinderspielplatz stiebitzt hatte, würde ihm heute gute Dienste leisten.
Der schon ein wenig verharschte Schnee ließ sich gut in kleine Blöcke aufteilen und er türmte ihn immer höher zu einer dickbäuchigen Kugel auf. Die anstrengende Arbeit trieb Schweiß in sein Gesicht. Er zog sich sein Zeitungspolster unter dem Hemd hervor. Es sollte trocknen. Er würde es noch brauchen.
Gegen Abend betrachtete er zufrieden sein Werk und dachte „Nichts verlernt, Horst. War doch `ne gute Übung bei der Armee“. Der Iglu war fertig Mit den letzten Pfefferminzbonbons drückte er seinen Namen über dem Eingang in den Schnee. Vom Supermarkt erbettelte Pappen hatte er in mehreren Schichten im Inneren des Iglu ausgebreitet. Die getrockneten Zeitungen darüber dienten als Unterbett.
Die bunte Wolldecke sah fast so aus wie der bunte Teppich in seiner ehemaligen Wohnung. Er breitete den Schlafsack für die Nacht darüber aus, legte die Taschenlampe zurecht, holte die letzten Baguette und zwei Büchsen Limonade aus dem Einkaufswagen und fand es in seiner Höhle so was von gemütlich wie schon lange nicht mehr in seinem Leben.
In der Nacht fielen dicke Schneeflocken und verwandelten den Tiergarten in eine Märchenlandschaft. In der Stadt trieb der Frost die ehrenamtlichen Helfer von Sozialverbänden mit Hilfsangeboten auf die Straße und zu den Obdachlosen. Doch zu Horst kam niemand. Der lag im Schlafsack und in seinen Träumen hörte er die einschmeichelnde Stimme seiner Ex-Frau, spürte ihre Wärme, als sie ihn in den Arm nahm. Er fühlte sich so leicht, so befreit und so glücklich.
Doch zwei Gesichter beugten sich über ihn. Die junge Frau rüttelte und schüttelte ihn und rief dauernd „Wachen sie auf, verdammt, wachen sie doch auf“, aber das wollte er ja gerade nicht. Erst als eine Kinderstimme über seinem Gesicht fragte „Du, bist du ein Eskimo?“, blinzelte er und schaute in die Augen eines kleinen Jungen.
Die Geschichte mit Horst sprach sich schnell herum. Er blieb noch bis zum Ende der Frostperiode in seinem Iglu. Denn der war zum Wallfahrtsort vieler Berliner geworden. Sie kamen vorbei, brachten Geld oder warme Sachen, kamen mit einer heißen Suppe, einer Thermokanne Tee und mit Zeit für Gespräche.
Seine Lebensretter besuchten ihn jeden Tag. Neulich planten sie schon gemeinsame Unternehmungen. Was wollte er mehr? Es ging ihm gut. Horst hatte wieder ein Ziel.
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